You'll Never Sing Alone (eBook)
256 Seiten
Ventil Verlag
978-3-95575-635-2 (ISBN)
Gunnar Leue, geboren 1963 in der ostdeutschen Provinz, lebt seit einigen Jahrzehnten in Berlin, wo er als freier Journalist arbeitet (u. a. taz, Galore, Das Magazin, 11FREUNDE, radioeins). Zudem hat er die Ausstellung »Der Sound des Fußballs« kuratiert, das Vinylalbum »Eisern Union« und das Quartettspiel »Vereine auf Vinyl« herausgebracht. Er ist Sammler von Schallplatten mit Fußballmusik aus aller Welt.
Gunnar Leue, geboren 1963 in der ostdeutschen Provinz, lebt seit einigen Jahrzehnten in Berlin, wo er als freier Journalist arbeitet (u. a. taz, Galore, Das Magazin, 11FREUNDE, radioeins). Zudem hat er die Ausstellung »Der Sound des Fußballs« kuratiert, das Vinylalbum »Eisern Union« und das Quartettspiel »Vereine auf Vinyl« herausgebracht. Er ist Sammler von Schallplatten mit Fußballmusik aus aller Welt.
1863 BIS 1918
FRÜHES MITEINANDER VON FUSSBALL UND GESANG
Es läuft die 51. Minute im WM-Viertelfinale am 22. Juni 1986 zwischen England und Argentinien im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt, als Diego Maradona kurz hinter der Mittellinie den Ball zugespielt bekommt. Nach einem Augenblick der Intuition zieht er los in Richtung gegnerisches Tor. Lässig und elegant, gleichzeitig voller Dynamik, tanzt er mit dem Ball am Fuß durch den Raum, vorbei an drei englischen Spielern, ehe er kurz vorm Sechzehner zum Doppelpass mit seinem Teamkollegen Jorge Valdano ansetzt. Das Zuspiel kann der Engländer Steve Hodge zwar vereiteln, aber nur um den Preis einer steilen Bogenlampe in den eigenen Strafraum hinein. Fast senkrecht fällt der Ball aus dem gleißenden Himmel nach unten, wo er eine sichere Beute des hochspringenden Torhüters Peter Shilton zu werden scheint. Doch parallel zu ihm reckt sich auch der angestürmte Maradona in die Höhe. Er ist nur 1,65 Meter groß, aber erwischt offenbar den perfekten Moment des Absprungs, um den Ball über den zwanzig Zentimeter größeren Keeper ins leere Tor zu köpfen. Eins zu null für Argentinien. Maradona dreht ab und jubelt, als könne er selbst nicht fassen, was ihm da gelungen ist. Auch die Engländer können es nicht fassen, denn sie haben gesehen, was auch etliche der 114.580 Zuschauer im Stadion wahrgenommen haben und Hunderte Millionen Menschen an den Fernsehgeräten in der Zeitlupenwiederholung klar erkennen: Das Tor hat Maradona nicht mit dem Kopf erzielt, sondern mit der linken Hand. Die Briten protestieren heftig beim tunesischen Schiedsrichter Ali Bin Nasser. Umsonst. Den Videobeweis gibt es noch nicht, es bleibt beim Tor. Als wäre das nicht Demütigung genug, gelingt Maradona kurz darauf auch das 2:0 nach einem atemberaubenden 60-Meter-Solo durch die englischen Reihen. Es ist eine elfsekündige Schau magischer Ballbeherrschung, ein Akt vollendeter Fußballkunst, der später in einem FIFA-Internetvoting zum »Tor des Jahrhunderts« gekürt wird.
Was die Engländer am wütendsten macht, ist die Chuzpe, mit der Maradona nach dem Spiel in die Kameras spricht: »Es war ein bisschen Maradonas Kopf und ein bisschen die Hand Gottes.« Die Reuelosigkeit hatte viel mit der Feindschaft zwischen Briten und Argentiniern seit dem Falklandkrieg im Jahr 1982 zu tun. Maradona sah in dem Hand-Tor auch eine Rache für seine im Krieg getöteten Landsleute. Den Mythos des skandalösen Treffers konnte das nur steigern.
Den Rest besorgten jede Menge Songs, in denen das berühmteste irreguläre Tor der Fußballgeschichte gefeiert wird. Ob von der finnischen HipHop-Gruppe Teflon Brother, der schottischen Skaband The Amphetameanies oder vom (inzwischen verstorbenen) Argentinier Rodrigo Bueno. Sein wilder Song »La mano de Dios« (Die Hand Gottes) erzählt von Maradonas Aufstieg aus bescheidenen Verhältnissen zum Superstar und wurde ein Riesenhit.
Dass Maradonas Handtor gerade die Three Lions bestrafte, ist von besonderer Ironie. Die Engländer haben den modernen Fußball erfunden und auch nach Argentinien gebracht. Sie waren es auch, die den Fußball als Erste mit Liedern popularisierten. Und sie waren es, die die Regel einführten, die das Handspiel beim Fußball verbietet. 123 Jahre bevor Diego Armando Maradona England mit der Hand Gottes eine Ohrfeige verpasste, die das Fußballkönigreich bis heute schmerzt.
Am letzten Oktobermontag 1863 trafen sich ein paar Herren in einem Londoner Pub, um darüber zu sprechen, wie sich das sich rasant ausbreitende Fußballspiel in geordnete Bahnen lenken ließe. Weg vom unkontrollierten Gekicke, hin zu einem strukturierten Wettkampfsport mit einem verbindlichen Regelwerk. Dazu gehörte auch die Frage, wie man mit dem Handspiel umgehen sollte, das auf einigen Bolzplätzen erlaubt war und auf anderen untersagt. Die 13 Vertreter von elf Londoner Fußballklubs waren sich uneins und schoben den strittigen Punkt auf die nächste Sitzungsrunde. Zunächst verständigten sie sich in Freemason’s Tavern auf Regeln zur Organisation der Vereine und auf die Gründung eines gemeinsamen Verbandes: die Football Association, der erste nationale Fußballverband der Welt. Erst bei dessen zweiter Zusammenkunft zwei Wochen später wurde das »Regelwerk für die Regulierung des Spiels« gründlich besprochen.
Trotzdem war der 26. Oktober 1863 ein historischer Tag, denn das Kneipentreffen in Covent Garden legte den Grundstein für den Siegeszug eines sportlichen Spiels, über das der Schotte Bill Shankly rund einhundert Jahre später sagte: »Einige Leute halten Fußball für eine Sache von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist!«
Am selben Tag, als in Freemason’s Tavern die Basis für den modernen Fußball gelegt wurde, fand auch in Genf ein historisches Treffen statt, bei dem es wirklich um Leben und Tod ging. Abgesandte aus 16 Ländern berieten auf einer Konferenz im Athenäum auf Einladung des Humanisten Henry Dunant, wie sich im Krieg ein Rest Menschlichkeit bewahren ließe. Es ging um ein paar verbindliche Regeln für die Kriegführung. Nach drei Tagen einigte man sich auf die Gründung eines Internationalen Hilfskomitees für Verwundete. Aus ihm ging später das Rote Kreuz hervor. Henry Dunant wurde dafür 1901 als erster Mensch mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Eine solche Ehre wurde den FA-Gründern nie zuteil, und doch bewirkten auch sie etwas, das man als zivilisatorischen Fortschritt bezeichnen könnte. Der Fußball wurde zu einer Möglichkeit, lokale und sogar internationale Rivalität nicht nur einigermaßen friedlich, sondern sportlich und unterhaltsam auszutragen.
Schon kurz nach Einführung der Fußballregeln sowie eines Spielbetriebs in Großbritannien entwickelte sich eine spezielle Art von Liedern und Gesängen rund um den Fußballsport. Sowohl um den Association Football als auch um dessen ruppigeren Zwilling, den Rugby Football. Nachdem die Grenzen zwischen Fußball und Rugby lange Zeit fließend verlaufen waren, kam es im Zuge der FA-Gründung zu einem Streit, der klare Verhältnisse schuf.
FOOTBALL AND SOCCER
Kaum, dass sich die Herren in Freemason’s Tavern auf einen Verband verständigt hatten, war es mit der Eintracht nämlich schon wieder vorbei. Beim finalen Treffen zur Festschreibung des neuen Fußballregelwerks verabschiedete sich der erste FA-Schatzmeister aus der Runde. Dem Vertreter des Blackheath Football Club hatte nicht gepasst, das den Spielern künftig das Laufen mit dem Ball in der Hand sowie das Festhalten und Beinstellen des Gegners verboten sein sollte. Da machten die rauffreudigen Kicker lieber ihr eigenes Ding. 1871 gründeten sie die Rugby Football Union, im selben Jahr, in dem die Association Footballer mit dem FA-Cup den ersten Fußballwettbewerb erfanden.
Der frühen Spaltung zum Trotz entwickelten sich Rugby Football und Soccer, wie die Fundis den angeblich verweichlichten Association Football nannten, anfangs fast parallel. Das zeigte sich auch in der Begleitmusik. Im Vereinigten Königreich gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits eine Affinität für instrumentale Sportmusik. Deren Popularität speiste sich aus einer doppelten Liebe. Die Briten liebten nicht nur den Wettkampfsport über alles, sondern auch die Musik, was sich in einer bunten Szene aus Gesangsvereinen, Blaskapellen und Orchestern zeigte.
Sportliche Großereignisse wie Ruderwettbewerbe zwischen Universitäten oder Pferderennen zogen nicht nur die Massen in ihren Bann, sie brachten auch spezifische Sportsongs hervor. Kein Wunder, dass der immer beliebtere Football ebenfalls in den Fokus von Songwritern geriet. Den Richtungsstreit der Sportler, ob Fußball nur mit Füßen oder auch mit Händen gespielt werden sollte, umgingen sie pragmatisch. »The National Football Song«, geschrieben vom englischen Komponisten C. A. Wills, empfahl sich 1880 als Hymne für alle. Auf der Notenblattillustration waren sowohl ein Fußball als auch ein Rugbyball abgebildet, dazu Porträts von Starkickern beider Seiten.
»The National Football Song« vom Komponisten C.A. Willis (Notenblatt, 1880)
Zu welchem Anlass der Song je vom Blatt gesungen wurde, weiß heute niemand. Gesichert ist hingegen, dass es im britischen Königreich der spätviktorianischen Epoche ein quirliges Angebot an Liveunterhaltung gab. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in allen größeren Städten Music Halls eröffnet, die sich zu Geburtsstätten der modernen Unterhaltungsindustrie entwickelten. In ihnen befriedigte das »niedere Volk« seine unbändige Lust auf Freizeitvergnügen. Der Alkohol floss in Strömen. Für den Rausch der Kleinkunst sorgten Zauberei, Akrobatik, Gesang und Tanz, gern frivol. Während sich das Bürgertum über die geschmacklosen Darbietungen echauffierte, amüsierte sich der Pöbel prächtig. Auch weil von den Künstlern all die Themen aufgriffen wurden, die die Leute umtrieben. In dieser Hinsicht war der Fußball weit vorn dabei.
Bei der gesanglichen Unterhaltung dominierten die schwer angesagten Vaudeville-Lieder, eine Art volkstümliche Schlager. Auch der Songwriter James Curran zielte auf das Music-Hall-Publikum, als er 1880 den Song »The Dooley Fitba Club« schrieb. Der Titel, interpretiert vom Sänger J. C. M’Donald, gilt gemeinhin als frühester Song mit konkretem Bezug zum modernen Fußball. Curran stammte zwar aus Irland, hatte den Fußball als Liedthema jedoch in seiner Wahlheimat Glasgow entdeckt. Das war insofern...
Erscheint lt. Verlag | 8.7.2024 |
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Verlagsort | Mainz |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Musik ► Musikgeschichte |
Schlagworte | 11Freunde • Bundesliga • Champions League • Fankultur • Fans • FIFA • Fußball • Fußball-EM • Fußballgeschichte • Fußballkultur • Fußballlieder • Fußball-WM • Hymnen • Kommerzialisierung • Kulturgeschichte • Nationalmannschaft • Pop • Popkultur • Popmusik • Premier League • Sportjournalist • Stadion • Support • UEFA • Ultras • Verein |
ISBN-10 | 3-95575-635-1 / 3955756351 |
ISBN-13 | 978-3-95575-635-2 / 9783955756352 |
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