Ohren auf Weltreise (eBook)
456 Seiten
Hannibal (Verlag)
978-3-85445-774-9 (ISBN)
Stefan Franzen, geboren 1968, erkundet als Autor von Radiosendungen (SWR, SRF, Deutschlandfunk, WDR), Journalist für Fachzeitschriften (Jazzthing, Folker) und Programmtexter für Philharmonien seit 30 Jahren die Musikkulturen aller Erdteile. Er ist Kurator und Beirat bei Festivals und Jurymitglied beim Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Seine besondere Liebe gilt der Szene Brasiliens und Portugals.
JANUAR
Glücksbringer von Gloria
1. Januar
Gloria Estefan, Kuba/USA (*1957)
„Abriendo Puertas“
(Abriendo Puertas, Sony 1995)
Ein Buch mit Musik aus aller Welt sollte man standesgemäß auf einem anderen Erdteil beginnen. Für den Neujahrstag setzen wir also Segel in die Karibik, wo während der Weihnachts- und Jahreswendzeit ganz andere Lieder angestimmt werden als in unseren Breiten.
Wenn Sie wie ich in den 1980ern pubertiert haben, dann wird Ihnen auf Schuldiscos auch „Doctor Beat“ und „Conga“ von der Miami Sound Machine ins Tanzbein gefahren sein. Diese Phase hatte die Kubanerin Gloria Estefan allerdings schon hinter sich gelassen, als sie begann, auf verschiedenen Soloalben ihre Wurzeln auszugraben. 1995 veröffentlichte sie Abriendo Puertas, und dafür schöpfte sie aus dem Reichtum karibischer und südamerikanischer Klänge, baute mit ihrem Team um Ehemann Emilio aber brandneue Stücke aus diesem Fundus. Mit ihm will sie auch die Einheit Lateinamerikas hörbar machen.
So treffen im Titelstück Stile aufeinander, die ansonsten nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben – aber die Synthese gelingt perfekt: Die wiegenden Akkordeonlinien stammen aus dem kolumbianischen Vallenato, einer Musikform, die in der Atlantikregion und im Tal von Valledupar beheimatet ist. Und dann mischt Señora Estefan den Vallenato mit typischen Salsa- und Mambo-Farben: mit kehligen Antwortchören und einem knackigen Blechbläsersatz, der schließlich in einem atemberaubenden Trompetensolo gipfelt. Eine grandiose Art und Weise, das neue Jahr mit seinen Veränderungen hoffnungsfroh zu begrüßen.
Und jetzt, wo die Türen einmal so schwungvoll geöffnet sind: Herzlich willkommen im faszinierenden Reich der globalen Klänge!
Andalusische Friedenshymne
2. Januar
Enrique Morente, Spanien (1942–2010)
„Estrella“
(Despegando, CBS 1977)
1492: Kolumbus „entdeckt“ Amerika. In Europa allerdings beginnt das Jahr mit einem anderen bedeutenden Datum: Der letzte maurische Herrscher Boabdil übergibt am 2. Januar dem spanischen König Ferdinand V. die Schlüssel der Stadt Granada und der darüber gelegenen Festung Alhambra. Damit ist das Ende der arabischen Herrschaft auf der iberischen Halbinsel endgültig besiegelt.
Heute ist Granada vor allem für die Musik der Roma (3. September) bekannt, die in diesen Breiten Gitanos heißen. Bis spät ins vergangene Jahrhundert hinein wurden sie geächtet und sind auch heute oft noch marginalisiert. Ohne die Gitanos würde der Flamenco in der heutigen Form jedoch nicht existieren. Sein Zentrum in Granada ist der Sacromonte, ein Hügel hinter der Altstadt Albaicín, dort waren sie oft in Höhlen ansässig. Zwar existieren diese „Cuevas“ immer noch, sind aber meistens zu touristischen Flamenco-Restaurants umfunktioniert. Bis heute bringt der Sacromonte dennoch exzellente, weltweiten Ruhm erntende Flamenco-Musiker hervor. Und der Clan der Morentes ist nicht nur einer der bekanntesten, sondern auch künstlerisch sehr produktiv.
Schlendert man durch Granada, stößt man irgendwann auf einen Charakterkopf, der in einer eindrucksvollen Wandmalerei verewigt ist: Patriarch Enrique Morente, (†2010), Erneuerer des Flamenco-Gesangs, des Cante Jondo: Als Erster setzte er Verse des Dichters Federico García Lorca (19. August) zu Musik, schrieb eine Flamenco-Messe mit gregorianischem Choral, ging Teamworks mit den bulgarischen Frauenstimmen (27. November) ein. Eines seiner fantastischsten Stücke ist für mich die 1977 entstandene glühende Friedenshymne „Estrella“.
Stern, nimm mich mit in eine Welt mit mehr Wahrheiten,
Wir werden die schwarzen Wolken aufbrechen
die uns täuschen und verfolgen,
wir werden eine neue Welt ohne Gewehre oder Gifte öffnen.
Tropischer Schlummertrunk
3. Januar
Marcos Valle, Brasilien (*1943)
„Dorme Profundo“
(O Compositor E O Cantor, Odeon 1965)
Dass Sie gleich am Anfang dieses Kalendariums wegdösen, liegt mir fern! Aber heute, am Internationalen Tag des Schlafes, kann ich nicht widerstehen, Ihnen mein allerliebstes Schlummerlied vorzustellen. Es kommt aus Brasilien, wo jetzt gerade Hochsommer ist, und in der schwül-tropischen Mittagshitze kann man schon mal einnicken. Dann aber zumindest musikalisch kultiviert.
Marcos Valle gilt als der ewige Sunnyboy der Bossa Nova, und dazu passt sein Welthit „Summer Samba“ („So Nice“) von 1966, der auch heute noch in Dutzenden von Coverversionen um den Globus reist. Valle ist ein Spätzünder: Als die Bossa, die uns im Verlauf des Jahres noch häufiger begegnen wird, schon wieder abebbt, startet der Multiinstrumentalist und passionierte Surfer richtig durch. Mit dem großen Easy-Listening-Meister Sergio Mendes tourt er durch die USA, lässt sich dort auch vorübergehend nieder. Doch die Furcht, für den Vietnamkrieg eingezogen zu werden, lässt ihn nach Brasilien zurückkehren.
In der Heimat veröffentlicht er das Erfolgsalbum Samba ’68 und schickt sich nicht nur an, in die Fußstapfen des Bossa-Erfinders Antônio Carlos Jobim (8. Dezember) zu treten: Immer wieder ein bisschen neu erfindet er sich in den Folgejahrzehnten, nimmt clever den Zeitgeist in seine Musik auf – bis hin zu kräftigen Hip-Hop- und Drum’n’Bass-Färbungen.
„Dorme Profundo“ („Schlaf tief“) erschien auf seinem zweiten Album und hat alles, was man sich von einem wirkungsvollen Wiegenlied erwartet: elegante Gitarrenakkorde, schmelzende Streicher, gestreicheltes Schlagzeug und eine schmeichelnde, beruhigende Stimme. Dass das Ganze dann nicht in Kitsch abrutscht, so was gelingt nur in Brasilien. (Psst, Geheimtipp: Die Version von Valles Kollegin und Landsfrau Márcia ist noch einlullender!)
Anwältin der Menschlichkeit
4. Januar
Awa Ly, Senegal (*1977)
„Close Your Eyes“
(Safe & Sound, Rising Bird Music 2020)
Mitten im schlimmen Corona-Sommer 2020: Eine Sängerin aus dem Senegal sitzt mit ihrem Gitarristen auf einer winzigen Bühne. Ihr Charisma leuchtet in dieser Duo-Performance so stark, dass der Mensagarten Freiburg zu Tränen gerührt ist – eine kleine Insel der Hoffnung im fast lahmgelegten Kulturleben. Mit Awa Ly, die heute Geburtstag feiert, möchte ich die Reihe mit schwarzafrikanischen Klangkünstlerinnen beginnen, die die Welt mit spannender und selbstbewusster Arbeit bereichern.
In Paris aufgewachsen, in Rom lebend, mit Dakar im ständigen Austausch: Die kosmopolitische Songwriterin nährt ihre Lieder aus diesem Dreieck. Vor ihrer Hinwendung zur Musik war sie in Italien auf der Leinwand zu sehen. Auf der Konzertbühne allerdings schauspielert sie gar nicht: Selten habe ich eine Musikerin erlebt, die so unerschrocken auftritt, aber sich gleichzeitig nicht scheut, ehrliche Verletzlichkeit zu zeigen. Die kommt besonders zum Ausdruck, wenn es um ihr Herzensanliegen, das Engagement für Geflüchtete geht. Awa Ly sieht sich als Anwältin der Menschlichkeit, die mit jedem Song kleine Fragen mit auf den Weg gibt, Fragen nach dem Platz des Einzelnen in seiner Umgebung, in der Natur, im Universum.
„Diese Innenschau fehlt heute oft“, sagt sie. Ein schönes Sinnbild dafür ist das Video zu ihrer Single „Close Your Eyes“. Lange Reihen von Menschen stehen da in einer Lagerhalle, starren auf ihre Smartphones, doch ihre Augen sind verbunden. „Das Smartphone ist nur ein Symbol für alle Bildschirme, Radios, Zeitungen, aus denen gefilterte Infos auf uns einströmen. Es ist wichtig, dass wir uns selbst befragen, wie viel davon uns guttut. Der feine Unterschied zwischen anschauen – und hinschauen.“ Ein großes Vorbild für Awa Ly ist die sudanesische Freiheitsaktivistin Alaa Salah, die durch flammende Reden die Bevölkerung wachrüttelte – und die sie im Clip zu „Close Your Eyes“ verkörpert.
Vogelkonzert aus Bamako
5. Januar
Rokia Traoré, Mali (*1974)
„Tuit Tuit“
(Beautiful Africa, Nonesuch 2013)
Um den Internationalen Tag des Vogels zu würdigen, kann man aus einer riesigen Palette von Songs auswählen. In jedem Land der Erde gibt es entsprechende musikalische Hommagen an die fliegenden Sänger. Gefiedert geht also die gestern eröffnete Serie mit selbstbewussten afrikanischen Frauen in Mali weiter, mit Rokia Traoré, die ein besonders schönes Vogellied eingespielt hat.
Traoré stammt aus dem Volk der Bambara, steht aber als in Belgien aufgewachsene Diplomatentochter zwischen den Welten. Aus dieser besonderen Biografie heraus kann sie ganz anders auf die Musik ihrer ersten Heimat Mali blicken. Ihre Arrangements waren anfangs ganz fein gesponnen und akustisch, mit der Spießlaute Ngoni, einem Vorläufer des Banjos (26. März), und Kalebassen-Perkussion. Nachdenkliche, philosophische Texte schrieb sie dazu. Auf einer anderen Platte tauchte unvermittelt das Kronos Quartet (15. November) auf, um die afrikanischen Klänge mit Streichern zu bereichern. Und dann – wie auf der Scheibe Beautiful Africa geschehen – schnallt sie sich plötzlich eine elektrische Gretsch-Gitarre um, mit der sie richtig rockige Töne anschlägt.
„Tuit Tuit“ kommt genau von dieser...
Erscheint lt. Verlag | 25.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Musik |
ISBN-10 | 3-85445-774-X / 385445774X |
ISBN-13 | 978-3-85445-774-9 / 9783854457749 |
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