Die Romantik -  Stefan Matuschek

Die Romantik (eBook)

Themen, Strömungen, Personen
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2024 | 1. Auflage
128 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-81499-0 (ISBN)
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Mit der Romantik begann die literarische und künstlerische Moderne. Nach der Französischen Revolution und ihrem Scheitern ging es den Romantikern um eine Erneuerung der Gesellschaft durch die Mobilisierung der Einbildungskraft. Stefan Matuschek zeichnet ein glänzendes Porträt der Epoche und richtet dabei seinen Blick nach Deutschland und England, nach Frankreich und Italien. Sein Band zeigt, wie die romantische Bewegung nicht allein die Literatur prägte, sondern auch Musik und Malerei, Philosophie und Naturforschung, Religion und Politik - und wie sie bis heute nachwirkt.

Stefan Matuschek ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Jena und ein ausgewiesener Experte für die europäische Romantik. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: 'Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der Romantik' (2021).

2. Die Modernisierung der Literatur


a) Eine Leserevolution und der Aufstieg des Romans


Die Ausweitung der Leserschaft und die Entstehung des Buchmarkts verdankten sich hauptsächlich der Gattung Prosaroman. Deren Nährboden war die Empfindsamkeit, denn die Attraktivität dieses anfangs schlecht beleumundeten Lesefutters lag darin, intimste Gefühle zur Sprache zu bringen. Im Freiraum der Fiktionalität ließ sich offen artikulieren, was sonst in die engste Privatsphäre eingeschlossen blieb. Der Briefroman erwies sich als besonders geeignet dafür, indem er die intime Aussprache unter Freundinnen, Freunden und Liebenden simulierte. Eines der erfolgreichsten Beispiele lieferten Jean-Jacques Rousseaus (1712–​1778) Briefe zweier Liebender (Lettres de deux amans, 1761), die mit ihrem Untertitel La nouvelle Héloïse berühmt wurden. Der Name zeigt die Illegitimität der hier präsentierten Liebesgeschichte an. Héloïse war eine französische Nonne und Äbtissin aus dem 11. Jahrhundert, die ihren Hauslehrer Peter Abaelard liebte, wie der erhaltene Briefwechsel der beiden dokumentiert. Goethes Werther-Roman (1774) knüpfte an den internationalen Erfolg der Gattung Briefroman an. Er wurde zum ersten Fall original deutschsprachiger Literatur, die eine große Resonanz über die eigenen Landesgrenzen hinaus erzielte.

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts verbreitete sich solcher Lesestoff enorm. Aktuelle Belletristik wurde zum dynamischsten Bereich der Literatur und setzte sich deutlich gegen die zuvor dominierende religiöse Lektüre durch. Das lag zum einen an der mit der Schulpflicht voranschreitenden Alphabetisierung, zum anderen an den neuen Institutionen der Leihbibliotheken und Lesegesellschaften. Sie brachten die Bücher auch in die Hände weniger begüterter Schichten. Ihre Zahl wuchs schnell an: In den 1760er-Jahren gab es in Deutschland acht Neugründungen von Lesegesellschaften, in den 1770er-Jahren kamen 50 und in den folgenden beiden Jahrzehnten 170 bzw. 200 hinzu. In diesen Zirkeln, aber auch im häuslichen Kreis der Familie sowie unter Freundinnen und Freunden wurde das gesellige Vorlesen zur weitverbreiteten Gewohnheit. Nach einem erhaltenen Bestandskatalog der Leipziger Leihbücherei «Museum» waren Romane mit rund 2500 Titeln die mit Abstand führende Gattung. Sie wurde von immer mehr Schriftstellern mit immer mehr Titeln fleißig bedient. August Lafontaine (1758–​1831), Verfasser bürgerlich-empfindsamer Romane, füllte mit seinen Werken etwa 160 Bände. Kritiker sprachen in solchen und ähnlichen Fällen abfällig von ‹Romanfabriken›. Typologisch spricht man vom Umschlag des ‹intensiven› ins ‹extensive› Lesen: Anstatt wie zuvor wenige Bücher (wie die Bibel und den Katechismus) immer wieder vorzunehmen, entwickelten die Menschen einen Lesehunger nach immer neuen Titeln.

Stärker noch als die Produktion rief die Rezeption Besorgnis und Empörung hervor (das ist im Blick auf neue Medien heute nicht anders). Die Diagnose einer sich ausbreitenden ‹Lesesucht› oder ‹Lesewut› machte die Runde, wobei es zumeist Frauen und junge Männer waren, die man befallen sah, und zumeist ältere Männer, die die Diagnose stellten. Auch der explizite Vergleich dieses Umbruchs im Leseverhalten mit der Französischen Revolution fehlte nicht. Von konservativer Warte aus erschienen beide als die größten Anschläge auf die Sittlichkeit und das Glück der Gesellschaft. Eine bemerkenswerte Gegenstimme hat Madame de Staël erhoben. In ihrer Abhandlung Über die Literatur in ihren Beziehungen zu den gesellschaftlichen Institutionen (De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales, 1800) bewertet sie die zunehmende Schriftstellerei und das zunehmende Lesen optimistisch als Chance, die Ideale der Aufklärung durchzusetzen. Mit diesem Optimismus sollte sie dann die deutsche Romantik entdecken und vermitteln.

Die Schwelle vom negativen zum erwartungsvoll positiven Romanverständnis markiert Friedrich Schlegel. Sein Brief über den Roman, der 1800 im Athenaeum erschien, überschreitet sie programmatisch. Ganz im Sinne der aktuellen Stimmung ist der Text aus der Warte eines Mannes geschrieben, der eine eifrige Romanleserin sorgenvoll warnen und eines Besseren belehren will. Dieses Bessere besteht jedoch nicht in der Ablehnung der Gattung, sondern im Hinweis auf die richtigen Exemplare. Schlegel stellt einen kleinen Kanon kunstvoller Prosaromane auf, den er gegen das anspruchslose Lesefutter (beispielhaft dafür auch hier August Lafontaine) stellt. Den Kanon bilden Laurence Sterne, Jean Paul und, in zentraler Position, Denis Diderots Roman Jacques le fataliste et son maître. Dessen deutsche Übersetzung war 1792 vier Jahre vor dem Original im Druck erschienen. An diesem Beispiel erläutert Schlegel, worin die Kunst des Romans für ihn besteht: im skurrilen Witz, der sich nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Erzählweise zeigt. Diderots Erzählerfigur behauptet zugleich die Überlieferungstreue und die erfinderische Beliebigkeit seiner Geschichte. Er erzählt von vielem, was er nicht so genau wisse, und deutet umgekehrt immer wieder an, mehr zu wissen, es aber nicht erzählen zu können oder zu wollen. Am Ende lässt er offen, wie die Geschichte ausgeht, indem er mehrere Überlieferungsvarianten und Vermutungen unentschieden nebeneinanderstellt. Die Kunst des Prosaromans, gibt Schlegel zu verstehen, ist dessen bewusste, selbstbezügliche spielerische Willkür. Auch Sterne und Jean Paul gehören mit genau dieser Eigenschaft zu seinem Kanon.

Schlegels Begriff für diese kunstvoll willkürliche Form ist ‹Arabeske› (nach den verschlungenen Ornamenten der islamischen Malerei). Er negiert das Ordnungs- und Klarheitsideal der klassizistischen Ästhetik und richtet sich auch grundsätzlich gegen das Gattungsdenken. Seine Romanpoetik liefert nicht einfach nach, was den traditionellen Dichtungstheorien aufgrund ihrer Missachtung der Prosaform noch fehlte, vielmehr soll sie jede Gattungsordnung sprengen. Die bislang als theorieunwürdig geltende Form macht Schlegel zum Leitbild jenseits allen Gattungsdenkens, dessen Ideal die Gattungsmischung in selbstbewusster, spielerischer Willkür ist. Deshalb ist es konsequent, wenn er in seiner Neubewertung des Romans zugleich betont, dass er ihn, «insofern er eine besondere Gattung sein will, verabscheue» (KFSA 2, 335). Einen ganz eigenen Witz hat seine kurze Definition: «Ein Roman ist ein romantisches Buch.» (KFSA 2, 335) Nach der traditionellen Wortbedeutung von ‹romantisch› ist das eine Tautologie. Nach der neuen Bedeutung, die der Jenaer Kreis diesem Wort gab (vgl. Kap. 1a), ist es mehr. Es ist das Programm, die abenteuerliche Willkür der Romanfiktionen auf die literarischen Formen zu übertragen.

In seinem eigenen Roman Lucinde – es ist sein einziger, und es liegt nur der 1799 veröffentlichte erste Teil vor, die Fortsetzung blieb Fragment – hat Schlegel sein Programm in die Tat umgesetzt. Das Werk gibt ein Beispiel, wie man einen Roman schreibt, der ‹keine besondere Gattung› ist. Lucinde besteht aus einer Abfolge von ganz verschiedenen Textformen – Erzählung, Brief, Dialog, Essay in abwechselnd enthusiastischem und satirischem Stil –, die auch thematisch in unterschiedliche Richtungen weisen. Locker zusammengehalten wird das Ganze durch die erotische Spannung eines jungen Paares, das auf das Ideal einer gleichermaßen sinnlich-körperlichen, emotionalen und intellektuellen Liebe ausgerichtet ist. Diese ersehnte menschliche Totalität in exklusiver, bigeschlechtlicher Partnerschaft gibt das Modell der ‹romantischen› Liebe. Bei seinem Erscheinen machte der Roman Skandal, weil man in dem dargestellten Liebespaar allzu deutlich den Autor selbst in seiner unehelichen Beziehung zu Dorothea Veit wiedererkannte. Formal gesehen nimmt Schlegels Lucinde die ‹offene Form› vorweg, die erst später im 20. Jahrhundert häufiger verwendet wurde.

Die allermeisten Romane um 1800 lösen die Gattung nicht so radikal auf, sondern binden vor allem Gedichte, auch längere Balladen und Novellen in eine kohärente Prosaerzählung ein. Als Inspiration wirkte dafür u.a. Cervantes’ Don Quijote. Ludwigs Tiecks Übersetzung (1799–​1801 erschienen) machte die literarische Qualität des Originals zum ersten Mal auf Deutsch zugänglich und aktualisierte damit das Interesse an ihm. Auch in England und Frankreich wandten sich Schriftsteller diesem alten Roman neu zu und veränderten dabei wie in Deutschland den Blick auf den Titelhelden. Er wurde nicht länger nur als Verlach- und Warnfigur gesehen,...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2024
Reihe/Serie Beck'sche Reihe
Zusatzinfo mit 10 Abbildungen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Historische Romane
Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Sachbuch/Ratgeber Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft Geld / Bank / Börse
Reisen Reiseführer Europa
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
Schlagworte 19. Jahrhundert • Deutschland • Einbildungskraft • England • Epoche • Epochenportrait • Epochenporträt • Erneuerung • Frankreich • Italien • Kunst • Kunstgeschichte • Lebensorientierung • Literatur • Literaturgeschichte • Malerei • Musik • Naturforschung • Philosophie • Politik • Religion • Romantik
ISBN-10 3-406-81499-9 / 3406814999
ISBN-13 978-3-406-81499-0 / 9783406814990
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