Herr Kardosch und seine Sänger -  Martina Wunsch

Herr Kardosch und seine Sänger (eBook)

Fünf Musikerschicksale im Schatten der NS-Zeit
eBook Download: EPUB
2022 | 3. Auflage
430 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7568-9502-1 (ISBN)
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Zwei Ungarn, ein Rumäne und zwei Deutsche bildeten im Berlin der frühen dreißiger Jahre eine der erfolgreichsten Gesangsgruppen im deutschsprachigen Raum: die Kardosch-Sänger. Im Schatten der Comedian Harmonists gerieten sie fast in Vergessenheit. Dieses Buch möchte die Erinnerung an sie wachrufen und die teils tragischen, teils überraschenden Lebenswege der Sänger zwischen k. u. k. Monarchie, Drittem Reich und Kaltem Krieg nacherzählen.

1. Wer war Stephan Kardosch?

„Die Karriere von István Kardos […] ist ein typisches
Beispiel für einen vielseitigen klassischen Musiker der
ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, der keine
Herausforderung scheute und gelegentlich einen ernsthaften Ausflug
in die Welt des Jazz unternahm.“
Simon Géza Gábor

„Letztlich war die Musik seine Leidenschaft, doch die
sanften Flügelschläge der Literatur begleiteten ihn sein
ganzes Leben lang.“
István Raics

István Kardos, der als Gründer und Leiter der Kardosch-Sänger im deutschen Sprachraum als „Stephan Kardosch“ bekannt wurde, kam am 6. Juni 1891 in der Stadt Debrecen in der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie als Kind jüdischer Eltern zur Welt. Debrecen (damalige Schreibweise: Debreczen) ist die zweitgrößte Stadt Ungarns und war im Laufe der Geschichte zweimal kurzfristig der Regierungssitz des Landes: im Verlauf der Revolution von 1848/49 floh der ungarische Landtag aus Pest und kam in Debrecen zusammen, wo Lajos Kossuth im April 1849 in der Großen Reformierten Kirche die unabhängige ungarische Republik ausrief. In der Nähe der Stadt fand die entscheidende Schlacht statt, die die Revolution mit der Niederlage der ungarischen Aufständischen beendete. Fast hundert Jahre später, am Ende des Zweiten Weltkriegs, war Debrecen erneut kurzfristig der Regierungssitz: Nachdem die Stadt schon im Oktober 1944 von der sowjetischen Armee besetzt wurde, kam dort die provisorische Nationalversammlung zusammen.

1 Die Große Reformierte Kirche und der Marktplatz in Debrecen, um 1915

Seit 1736 siedelten sich Juden in Debrecen an, durften aber erst seit 1863 Eigentum erwerben. 1867 unterschrieb Kaiser Franz Joseph das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, in dem es heißt: „Vor dem Gesetze sind alle Staatsbürger gleich.“1 Damit waren die Juden in der Habsburg-Monarchie allen anderen Bürgern gleichgestellt, und es begann die Blütezeit des österreichisch-ungarischen Judentums, die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und dem damit einhergehenden Zusammenbruch des Vielvölkerstaats andauerte.

Ein Lebenslauf, den István Kardos im Jahr 1951 für die Musikakademie in Budapest verfasste, beginnt mit dem Satz: „Értelmiségi családból származom“ („Ich komme aus einer Familie von Intellektuellen“).2 Seine Eltern waren der Strafverteidiger und Publizist Dr. Samuel (genannt Samu) Kardos (1856-1925) und seine Frau Malvine, geborene Engländer (1863-1943).

2 Übersetzung des Geburtseintrags aus Debrecen

Neben ihrem Sohn hatte das Ehepaar Kardos fünf Töchter: Gizella, Margit, Etelka, Anna und Piroska. Zwei Töchter starben früh: die kleine Piroska im Jahr 1900 mit nur zweieinhalb Jahren, Etelka fiel 1918 mit 31 Jahren der Spanischen Grippe zum Opfer. Die Familie lebte im Zentrum der Stadt in der Piac utca.

Neben seiner Arbeit als Strafverteidiger betätigte sich Samu Kardos als Amateur-Historiker: 1905 veröffentlichte er eine zweibändige Biografie des bekannten ungarischen Politikers und Sozialreformers Miklós Wesselényi mit dem Titel Báró Wesselényi Miklós, élete és munkái (Leben und Werk von Baron Miklós Wesselényi), die im Jahr 2012 neu aufgelegt wurde.

Im Vorwort zu seinem Buch schreibt Samu Kardos:

„Über das wunderbare Leben Wesselényis und den gesegneten Einfluss seines wunderbaren Lebens auf die erwachende ungarische Nation zu schreiben, ist eine Aufgabe, die, wie ich wohl weiß, meine schwachen Kräfte weit übersteigt. Aber mich tröstet die Gewissheit, dass das, was mir die Vorsehung an Talent versagt hat, in meiner Arbeit zumindest teilweise durch das Feuer, den Enthusiasmus, die anbetende Liebe, wenn man so will, ersetzt wird, mit der ich die Figur des großen Wesselényi seit meiner frühen Kindheit, also seit mehr als vier Jahrzehnten, begleite und begleitet habe.

Denn auch meine Wiege stand in Zsibo, am Ufer des Szamos, und die unschuldigen Kindheitsspiele und die Träume einer rosigen Jugend verbinden mich mit Zsibo, dem alten Nest der Familie Wesselényi […] Ich habe mein Studium mit Auszeichnung abgeschlossen, ich habe meinen Beruf als Verteidiger fast ein Vierteljahrhundert lang mit Hingabe ausgeübt, ich bin das Oberhaupt und der Gründer einer wirklich glücklichen Familie: Das Glück meines Lebens wäre nicht vollständig, wenn ich nicht mit ergrautem Haupt das heilige Gelübde, das ich vor 33 Jahren als bescheidener Student des Kollegs in Zilah, des heutigen Wesselényi-Kollegs, abgelegt habe, und damit meine Dankesschuld gegenüber dem großen Mann und meine Verpflichtungen gegenüber meiner Nation, insbesondere ihren Hoffnungen und ihrem Stolz, das heißt ihrer Jugend, erfüllen würde.“3

Schon während seiner Studentenzeit hatte Samu Kardos begonnen, zu Wesselényis Leben zu recherchieren, Dokumente zu sammeln, zu kopieren oder, wenn möglich, aufzukaufen. Obwohl er ein Amateur-Historiker war, erkannte er die Bedeutung zeitgenössischer Quellen, und sein eindrucksvolles zweibändiges Werk mit Faksimiles zahlreicher Dokumente und Briefe blieb 60 Jahre lang die einzige Biografie des bedeutenden Reformers. Manchmal begleitete sein Sohn ihn auf seinen Reisen durch das ganze Land auf der Suche nach Dokumenten und Briefen. 1905 begann Samu Kardos, eine Zeitschrift mit dem Titel „Régi Okiratok és Levelek Tára“ („Katalog alter Dokumente und Briefe“) herauszugeben, in der er einen Teil der von ihm verwendeten historischen Dokumente veröffentlichte, dazu kamen Artikel und Aufsätze von Fachleuten sowie Buchbesprechungen. Kardos finanzierte seine Recherchen und die Herausgabe des Buches und der Zeitschrift aus seinen Einkünften als Anwalt, was die Finanzen der Familie strapazierte, und nach zwei Jahren musste das Erscheinen der Zeitschrift eingestellt werden. Die schwierigen Kriegsjahre und die Notwendigkeit, seine eigene wirtschaftliche Situation wieder zu stabilisieren, erschwerten es ihm, seine Recherchen fortzusetzen, obwohl er noch weitere Veröffentlichungen plante.4

István Kardos‘ Onkel war der bekannte Literaturhistoriker, Sprachwissenschaftler und Pädagoge Albert Kardos (1861-1945), der ab 1913 Direktor an der Staatlichen Oberschule in Debrecen war und damit der erste jüdische Schulleiter an einer staatlichen Sekundarschule in Ungarn. Er genoss nicht nur als Pädagoge, sondern auch als Herausgeber und Verfasser zahlreicher sprachwissenschaftlicher Werke hohes Ansehen. Unter anderem verfasste er eine Geschichte der ungarischen Literatur und gab eine Gesamtausgabe der Gedichte von Sándor Petőfi heraus. Nach seiner Pensionierung im Jahr 1921 war er bis 1929 Direktor des von ihm gegründeten Jüdischen Gymnasiums in Debrecen, das bis in das Jahr 1944 hinein bestand.

Die Vorfahren väterlicherseits von Albert und Samu Kardos waren Bauern. Ihr Großvater, Israel Katz, war ein Pächter von Miklós Wesselény in Zsibo, dem heutigen Jibou in Rumänien, gewesen. Sein Sohn Samuel Katz lebte als Bauer in dem kleinen Ort Récekeresztúr, dem heutigen Recea-Cristur in Rumänien, und war mit Johanna Benet (oder Benedikt), der Enkelin des bedeutenden Talmudgelehrten Rabbi Mordechai Benet von Nikolsburg verheiratet. 1867 zog er mit seiner Frau und den sechs Kindern, darunter Samu und Albert, nach Hajdúszoboszló in der Nähe von Debrecen.5

Debrecen war der Geburtsort der Dichter Mihály Fazekas und Mihály Csokonai Vitéz, und vier der populärsten und einflussreichsten ungarischen Lyriker des 19. und 20. Jahrhunderts, nämlich János Arany, Sándor Petőfi, Endre Ady und Árpád Tóth, verbrachten Teile ihres Lebens in Debrecen. Árpád Tóth besuchte dort das Gymnasium und schrieb 1927 zum vierzigsten Dienstjubiläum seines Lehrers Albert Kardos für dessen Gedenkbuch ein Gedicht mit dem Titel „Köszönöm!“ – „Danke“. Alle diese Dichter und ihre Werke spielten eine wichtige Rolle in István Kardos‘ späterem Leben und in seiner Arbeit. Mit Ady und Tóth war er, wie mit zahlreichen anderen Lyrikern der ungarischen Moderne, schon als junger Mann befreundet.

Albert und Samu Kardos gehörten beide dem Csokonai-Kreis an, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, das geistige und kulturelle Leben in Debrecen zu pflegen und sich um die Nachlässe von Fazekas und Csokonai zu bemühen. In dieser von der Liebe zur Literatur geprägten Atmosphäre wuchsen István Kardos und seine Schwestern auf. Sein Vater wird als eine von Gerechtigkeitsliebe und tiefem Humanismus durchdrungene Persönlichkeit charakterisiert, sein Sohn beschreibt ihn als gutaussehenden Mann mit großem rhetorischem Talent. Nach dem Abschluss seines Studiums der Rechtswissenschaften arbeitete Samu Kardos zunächst in der Kanzlei des bekannten Rechtsanwalts Bernát Friedmann in Budapest, wo er an den Vorbereitungen zur Verteidigung der Familie Scharf...

Erscheint lt. Verlag 22.11.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Musik
ISBN-10 3-7568-9502-5 / 3756895025
ISBN-13 978-3-7568-9502-1 / 9783756895021
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