1922 (eBook)

Wunderjahr der Worte

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
416 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-27009-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

1922 - Norbert Hummelt
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Aufbruch in die Moderne. 1922 ist ein Jahr von unglaublicher schöpferischer Energie: ein Wunderjahr der modernen Literatur. Eine Fülle literarischer Werke erscheint, die den Gang der Weltliteratur verändern. In Paris wartet James Joyce voller Ungeduld auf die ersten Exemplare seines »Ulysses«. Virginia Woolf ist in London dabei, sich ihren eigenen Raum zu erschreiben. Rainer Maria Rilke vollendet, was er einst auf Schloss Duino begonnen hat. Katherine Mansfield steckt ihre ganze Kraft in ihre Short Stories. Und im englischen Seebad Margate findet T.S. Eliot radikale Töne für das widersprüchliche Lebensgefühl des noch jungen 20. Jahrhunderts. Quer durch Europa begleitet Norbert Hummelt diese Autoren und Autorinnen durch ein aufregendes Schaffensjahr und fängt dabei die spannungsgeladene politische Stimmung der Zeit ein.

Norbert Hummelt wurde 1962 in Neuss geboren und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein lyrisches Gesamtwerk wurde er 2021 mit dem Rainer-Malkowski-Preis ausgezeichnet. Zuvor hatte er u.a. den Hölty-Preis für Lyrik, den Rolf-Dieter-Brinkmann-Preis, den Mondseer Lyrikpreis sowie den Niederrheinischen Literaturpreis erhalten. Er übertrug T.S. Eliots Gedichtzyklen 'Das öde Land' und 'Vier Quartette' neu ins Deutsche und ist Herausgeber der Gedichte von W.B. Yeats. Bei Luchterhand erschienen zuletzt seine Gedichtbände »Fegefeuer« und »Sonnengesang«.

PROLOG
Die Wunderkammer


Was vor hundert Jahren war, kann keiner mehr erzählen. Niemand, mit dem man sprechen könnte, weiß es noch aus eigenem Erleben. Was einmal wichtig genug erschien, um es aufzuschreiben, steht in Büchern, vorausgesetzt, es wurde auch gedruckt und die Bücher sind noch aufzutreiben. Manches ist dokumentiert in Bild- und Schallarchiven, selten das, was man gerade sucht; die historischen Ereignisse, oder jene, die als solche gelten, sind leicht abrufbar, aber sie sind nicht das gelebte Leben. Mit Glück finden sich handgeschriebene Briefe. Die mündliche Überlieferung aber reicht kaum so weit hinab, dass sich die Stimmung eines einzigen Tages, ein Vorgang, ein Gespräch, ein Mienenspiel heraufholen ließe, so wie es vielleicht überhaupt nur Gedichten gelingt. Die Eltern lebten damals noch nicht, heute sind sie verstorben, und ihre Eltern, die damals jung waren, liegen lange schon im Grab.

Manche Dinge von vor hundert Jahren aber können wir uns vorstellen, weil sie lange Zeit auf die gleiche Weise gehandhabt wurden, oder doch so lange, dass sie unser Leben noch berühren konnten. So sehe ich die Handgriffe vor mir, die meine Großmutter, damals eine junge Frau von noch nicht 23 Jahren, am 2. Februar des Jahres 1922 ausgeführt haben wird, einem Donnerstag, an dem die nächtlichen Bodentemperaturen im westlichen Deutschland leicht unter dem Gefrierpunkt lagen. An diesem Tage war Mariä Lichtmess, das Fest der Darstellung des Herrn im Tempel, und damit kamen in katholischen Häusern die Bräuche der Weihnachtszeit in einem Akt des Aufräumens zum Abschluss. Meine Großmutter räumte die Krippenfiguren zusammen, im Wohnzimmer der Parterrewohnung in der Schillerstraße 29 in Neuss am Rhein. Sie nahm dabei jede Figur einzeln von der mit grünlich grauem Packpapier und Moos bedeckten, auf der Anrichte liegenden Sperrholzplatte, wickelte sie vorsichtig in dünne Servietten (wie man ein Neugeborenes in Windeln wickelt) und ließ sie bis zum nächsten Weihnachtsabend im Karton verschwinden. Ich habe diesen Vorgang später oft genug bezeugt und selbst verrichtet, um es mir vorstellen zu können, wie Hirten und Schafe, Ochs und Esel und die Heilige Familie in einem Seifenkarton verschwanden sowie die Heiligen Drei Könige mitsamt Kamel, die zuletzt gekommen waren, am Epiphaniastag, dem 6. Januar. Ich habe dieses Einpacken stets als schalen Akt der Entzauberung empfunden. Was aber jene junge Frau gedacht haben mag, die einmal meine Großmutter werden sollte, wer kann es wissen? Ihre Mutter war im Jahr zuvor gestorben, sie führte den Haushalt für ihre Brüder und ihren Vater, der im Einwohnerbuch 1922 für Neuss und Umgebung als Tagelöhner geführt wird, so dass auch diese Prozedur nun ihr oblag, unter den Augen ihrer hochbetagten Großmutter, die sich im letzten Lebensjahr befand und die man bei uns die Hundertjährige nannte, obwohl sie abweichenden Urkunden zufolge erst 99 oder gar erst 96 war, als sie im Sommer 1922 starb.

Ich muss zu solchen Bildern Zuflucht nehmen, weil ich nie mit meiner Großmutter darüber gesprochen habe, wie es war, als sie jung war. Dabei war sie meine einzige überlebende Verwandte, die ich zu einer Zeit, als ich selbst schon erwachsen war, über den Ersten Weltkrieg und die Zeit danach hätte befragen können. Sie war ja meine Großmutter und schien nie jung gewesen zu sein, dabei wirkte sie mit ihren bis ins hohe Alter schwarzen streng geflochtenen Haaren zugleich auf mich, als könne sie, wie die Sibylle von Cumae, nicht sterben. Eine einzige Erinnerung an mündlich Erzähltes verbindet sich mit meiner Großmutter und dem Jahr 1922. Sie soll in diesem Jahr das letzte Mal in ihrem Leben in Köln gewesen sein, das doch weniger als eine halbe Bahnstunde von Neuss entfernt liegt, und danach überhaupt nie wieder verreist sein. Es hat mich stets beeindruckt, wie sich ihr Lebenskreis immer enger um sie schloss und wie gelassen, wie selbstbestimmt sie damit umging. Nachdem sie aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, frühzeitig entschieden hatte, die Stadt nicht mehr zu verlassen, in der sie geboren worden war, mochte sie uns eines Tages auch nicht mehr besuchen kommen. Sie stellte dann auch die Kirchgänge ein, und da sie nie zum Arzt ging und das Einkaufen die Sache meiner im Haus verbliebenen Tante war, wird sie die enge Wohnung im Hochparterre viele Jahre überhaupt nicht mehr verlassen haben, bis es dann so weit war, dass sie im Krankenbett in jenem Wohnzimmer residierte, in dem zur Weihnachtszeit die Krippe stand. Dieses Zimmer war zugleich das Bücher- und Bilderzimmer, und es war und blieb die Wunderkammer meiner Phantasie. An Sonntagnachmittagen, nach dem Kaffeetrinken, saß ich oft in diesem Zimmer und nahm eines der Bücher aus dem Regal, besonders gern die Bildbände aus der Reihe der Blauen Bücher im Verlag Langewiesche-Brandt, und blätterte darin. Ich kann mich nicht erinnern, meine Großmutter jemals in einem Buch lesen gesehen zu haben. Ihr genügte die Tageszeitung. Sie saß nur da und saß uns vor und schien darüber selbst zu einem Bild zu werden, das an der Wand der Wunderkammer hätte hängen können. Eigentlich weiß ich über sie viel weniger als über die Dichter, die vor hundert Jahren schrieben und die ich mir als Begleiter und Gewährsleute zu eigen machte.

In das Wohnzimmer meiner Großmutter drang nie ein Sonnenstrahl, Vorhänge dichteten es zur Straße ab, und auch die Zeit verging darin anders. Die Uhr mit dem Westminsterschlag ging immer deutlich nach, Kalenderblätter wurden nicht beizeiten abgerissen.

Und doch war es ein Teil der Welt und war es auch an jenem Donnerstag, dem 2. Februar 1922, als ein irischer Schriftsteller in einem italienischen Restaurant in Paris gleich zwei Dinge auf einmal zu feiern hatte: seinen vierzigsten Geburtstag und das Erscheinen seines neuen Romans. Dass es sich zugleich um den Tag Mariä Lichtmess handelte, wird James Joyce dennoch bewusst gewesen sein, denn er war streng katholisch aufgewachsen. Am selben Tag versuchte ein aus Prag gebürtiger Dichter deutscher Sprache namens Rainer Maria Rilke in seinem Refugium, einem alten Wohnturm im Schweizer Kanton Wallis, die lange unterbrochene Arbeit an Elegien fortzuführen, die er ein Jahrzehnt zuvor auf einem Schloss an der Adria begonnen hatte, als ihn der fieberhafte Drang nach einem neuen Werk überkam und er nun ein Sonett nach dem anderen schrieb. Thomas Stearns Eliot, ein junger amerikanischer Dichter, der in London lebte, war an diesem Abend zum Essen verabredet und konnte vom frischen Abschluss eines langen Gedichts berichten, das ihm ohne die Hilfe eines Freundes nicht gelungen wäre.

Vorgänge weit außerhalb der großmütterlichen Wunderkammer, kein Buch dieser Autoren stand dort jemals im Regal, und nur in meinem Kopf besteht diese merkwürdige Verbindung. Und immerfort geschehen unendlich viele Dinge gleichzeitig in dieser Welt, stehen in Beziehung zueinander oder tun es nicht. Franziska Kemmerling, meine Großmutter, räumte die Krippenfiguren zusammen. Sie hatte niemals ein Zimmer für sich allein, und dass es Frauen gab, die nichts anderes taten als Bücher schreiben, wird ihr an diesem Abend kaum in den Sinn gekommen sein, an dem die englische Schriftstellerin Virginia Woolf, in Hörweite der echten Glocken von Westminster, mit Fieber im Bett lag und an ihren unvollendeten neuen Roman dachte, während ihre Kollegin Katherine Mansfield in Paris auf Heilung ihres Lungenleidens hoffte und unausgesetzt in ihr Tagebuch schrieb.

Wenige Jahre nach Ende des bis dahin furchtbarsten aller Kriege waren die weitaus meisten Menschen in Europa damit befasst, sich über Wasser zu halten und nicht noch tiefer ins Elend zu rutschen. Die Gräben zwischen den verfeindeten Nationen waren noch tief, und besonders Deutschland war international isoliert und kam unter der Last der im Versailler Vertrag festgelegten Reparationszahlungen dem wirtschaftlichen Zusammenbruch immer näher. Das bereitete den Boden für extreme Ideologien. Aufruhr und politische Morde waren an der Tagesordnung, die Zeitungen kündeten nahezu allmorgendlich davon.

Rückhaltlos neu zu denken konnte aber auch sehr fruchtbar sein. In den Künsten herrschte eine große Aufbruchsstimmung. Alte Übereinkünfte galten nicht mehr, das Ausmaß der Zerstörung hatte den Horizont weit aufgerissen. Das Medium, das die meisten Menschen erreichte, sie trösten und begeistern konnte, war zweifellos der Film, die stärksten Signale der Erneuerung aber kamen aus der Literatur. Wenn die Welt schon aus den Fugen war, konnte man ihr mit traditionellen Erzählformen nicht mehr beikommen. Neue literarische Formen, Bewusstseinsstrom und innerer Monolog, Zitatmontage und Fragment, Explosion der Stile und Vielzahl der Stimmen waren besser geeignet, das Zerbrochene zu fügen. Und wenn die Gegenwart öde und unfruchtbar war, dann ließ sich ihr im Rückgriff auf alte Mythen ein Spiegel vorhalten, ironisch oder elegisch, alles war möglich, alles erlaubt, wenn es nur frisch und großartig war.

Besonders in der angelsächsischen Welt spricht man von 1922 als dem Annus mirabilis der Klassischen Moderne. Was für ein Wunderjahr 1922 für die Literatur werden sollte, wie radikal neu darin gedacht und geschrieben werden würde, das konnte damals wohl nur Ezra Pound überblicken, der von Paris aus den großen Umbruch organisierte. Und selbst er konnte nicht planen, was sich in den Nachbarkünsten noch ereignen sollte in der kurzen Zeitspanne, die zwischen dem Erscheinen von Joyce’ Roman Ulysses Anfang Februar und Eliots Gedicht The Waste Land Mitte Dezember verstrich: Wassily Kandinsky ging ans Bauhaus, Walt Disney brachte den ersten Zeichentrickfilm heraus, Ludwig Wittgenstein den Tractatus, Louis Armstrong revolutionierte den...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Allgemeines / Lexika
Schlagworte 1922 • 2022 • eBooks • Florian Illies • Frankreich • Geschichte • Irland • James Joyce • Katherine Mansfield • Kulturgeschichte • Literatur der Moderne • Neuerscheinung • Rainer Maria Rilke • Reise durch ein Jahr • Schweiz • T.S. Eliot • Virginia Woolf • Wolfram Eilenberger
ISBN-10 3-641-27009-X / 364127009X
ISBN-13 978-3-641-27009-4 / 9783641270094
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