Geschwister (eBook)
192 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61420-2 (ISBN)
Prof. Dr. Hartmut Kasten, Dipl.-Psychologe, Pädagoge M. A., Staatsinstitut für Frühpädagogik, Ludwig-Maximilians-Univ. München, Fak. für Psychologie und PädagogikWenn Sie die Homepage des Autors ansehen möchten, klicken Sie bitte <A HREF="http://www.hartmut-kasten.de" target="_blank"> hier
2 Familie im Wandel: Auswirkungen auf die Geschwister
Die Folgen der Industrialisierung
Die von Psychologen und Soziologen mit Schlagwörtern wie “Individualisierung” und “Modernisierung” plakativ bezeichneten Veränderungen innerhalb der Familie im Verlaufe des 20. Jahrhunderts sind zahlreich und lassen sich mit statistischen Daten belegen: Waren noch um die Jahrhundertwende in Mitteleuropa durchschnittlich 5–6 Kinder pro Familie üblich, so sank die Kinderzahl innerhalb von wenigen Jahrzehnten auf 3 Kinder (zwischen den Weltkriegen), dann auf 2 Kinder (in den 50er und 60er Jahren) und schließlich auf nicht einmal 1,5 Kinder pro Familie in der Bundesrepublik Deutschland. Die Ein-Kind-Familie ist die häufigste Familienform geworden und sehr viele der heutzutage aufwachsenden Kinder haben überhaupt keine Geschwister mehr.
Unaufhaltsam scheint der Trend zu immer weniger Geschwistern einerseits und zu immer mehr Arten von Geschwistern, wie Adoptiv-, Halb- oder Stiefgeschwistern (vgl. Kapitel 10) andererseits zu sein. Dieser Trend ist darauf zurückzuführen, daß die Formen familialen und familienähnlichen Zusammenlebens sowie die Häufigkeit von Trennungen und Scheidungen in den letzten Jahrzehnten beträchtlich zugenommen haben. Die Frage “In welchen Familien wachsen unsere Kinder auf?” kann nicht mehr kurz und bündig in einigen wenigen Sätzen beantwortet werden. Einzubeziehen sind eine Fülle von Merkmalen, wie Vorhandensein von keinem/einem/mehreren Geschwistern, Vorhandensein/Nichtvorhandensein von Vater/Mutter/Eltern, Berufstätigkeit/Nichtberufstätigkeit von Vater/Mutter/Eltern, Familienstand der Elternteile (ledig/verheiratet/verwitwet/geschieden), in einem Haushalt / nicht in einem Haushalt lebend usw. Bevölkerungswissenschaftler unterscheiden mittlerweile weit über 20 Typen von Kindschaftsverhältnissen, von denen einige natürlich nur relativ selten vorkommen.
Tabelle 1: Familien mit Kindern in der Bundesrepublik Deutschland
Anzahl der Kinder | Prozentualer Anteil |
1 | 53,5 |
Auswirkungen auf die Kinder
Wie wirkt sich nun die sinkende Kinderzahl auf die Situation der Geschwister in der Familie aus? Ohne ins Detail zu gehen, kann zunächst festgestellt werden, daß immer weniger Kinder es immer länger mit immer mehr Erwachsenen zu tun haben. Denn neben die Eltern, deren durchschnittliche Arbeitszeit pro Woche gesunken ist, sind die Tagesmütter, Krippenbetreuer/innen, Kindergärtner/innen, Erzieher/innen, Hortner/innen und Lehrer/innen gerückt. Die Zeiten, in denen Kinder relativ unbehelligt von erzieherischen Maßnahmen Erwachsener in den Reihen ihrer Geschwister aufwuchsen, scheinen endgültig vorbei zu sein. Die Betreuungs- und Versorgungsumwelten der Kinder in der Industriegesellschaft haben sich beträchtlich gewandelt. Um genauere Aussagen darüber zu machen, wie sich die veränderte Erziehungssituation auf die Geschwister im Detail auswirkt, bedarf es jedoch sorgfältiger Analysen. Die Annahme, daß sich zwischen Geschwistern in früheren Zeiten, die länger und intensiver miteinander Kontakt hatten, intensivere Bindungen entwikelten als zwischen heutigen Geschwistern, die sich fortwährend auch mit erwachsenen Bezugspersonen auseinandersetzen müssen, ist zwar einleuchtend, wissenschaftlich jedoch kaum überprüfbar. Vermutet werden kann lediglich, daß der stattgefundene Gestalt- und Funktionswandel der Familie die Beziehung aller Familienmitglieder zueinander – und damit auch der Geschwister! – tiefgreifend verändert hat.
Geschwistererziehung früher und heute
Sehr wahrscheinlich hatten – insbesondere in den unteren Sozialschichten und auf dem Lande – noch vor zwei bis drei Generationen die mit wesentlich mehr Geschwistern aufwachsenden Kinder seltener und weniger intensiven Kontakt zu den Eltern oder anderen erwachsenen Bezugspersonen, als dies heute der Fall ist. Dokumentiert ist auch, daß die Versorgung der jüngeren Geschwister in der Regel den älteren Geschwistern übertragen wurde. Die älteste Schwester in der Familie war, solange die Mutter ihrer Arbeit nachging, für den Haushalt zuständig und damit sozusagen das Oberhaupt der Geschwisterreihe. In welchem Umfang geschlechtsspezifische Aufgaben jeweils an die Jungen oder Mädchen übertragen wurden, ist unsicher. Geschlechtsrollentypisches Verhalten auf der Grundlage von traditionellen, überlieferten Klischees war damals wie heute üblich.
Für die Eltern, die weniger Zeit hatten, sich im Alltag mit ihren Kindern zu befassen, war es in erster Linie wichtig, daß diese Gehorsam zeigten und sich anständig und ordentlich benahmen. Ein wichtiges Erziehungsideal – Konformität und Uniformität – bestand in der Anpassung an die überlieferten Traditionen, Sitten und Gebräuche. Die älteren Geschwister mußten dabei Vorbilder sein für ihre jüngeren Brüder und Schwestern und diesen helfen beim Erlernen der Fähigkeiten und Fertigkeiten, die man im Alltag brauchte. Von den jüngeren Geschwistern wurde erwartet, daß sie sich unterordneten und am Modell der älteren orientierten – Trotz, Eigensinn oder gar Eifersucht waren unerwünscht und wurden mit Strafen unterbunden. Auch im Hinblick auf Kleidung, Haarschnitt und Verhalten im Alltag legte man Wert darauf, daß niemand aus der Reihe tanzte. Undenkbar war es beispielsweise, Zwillingsgeschwister nicht in genau der gleichen Weise zu behandeln und nicht uniform zu kleiden und zu frisieren.
Betrachtet man dagegen unsere heute heranwachsenden Geschwister, so sticht schon vom Äußeren her die Individualität geradezu ins Auge. Über alle Schichten und Stadt-Land-Unterschiede hinweg ist die gesamte Erziehung individueller, partnerschaftlicher und demokratischer geworden. Ein Ideal, dem insbesondere Eltern der mittleren und oberen Sozialschichten verbunden sind, heißt Individualisierung: Die Geschwister sollen möglichst eigenständige Interessen und Vorlieben entwickeln. Es ist nicht selten regelrecht verpönt, Kinder über einen Kamm zu scheren oder Ein- und Unterordnung zu fordern. Direktives und autoritäres elterliches Verhalten bleibt häufig beschränkt auf einige wenige Situationen, z. B. wenn die Geschwister fortgesetzt und unbelehrbar miteinander streiten und aggressiv zueinander sind oder wenn alle Ermahnungen und Aufforderungen der Eltern, etwas zu tun oder zu unterlassen, nicht beachtet werden.
Auswirkungen auf die Geschwisterbeziehungen
Wie haben diese unterschiedlichen Erziehungsideale – früher uniformierend und autoritär, heute individualisierend und partnerschaftlich – das geschwisterliche Verhalten untereinander und gegenüber anderen beeinflußt? Direkte Vergleiche zwischen früher und heute, in welche die Erfahrungen der Betroffenen selbst, ihre Erlebnisse und typischen Handlungsweisen einbezogen werden, sind nicht möglich. Deshalb können nur mehr oder weniger einleuchtende, in sich schlüssige Vermutungen formuliert werden. Nicht abwegig erscheint die Annahme, daß Kinder, mit denen durchgängig autoritär, direktiv und “von oben herab” umgegangen wird, solches Verhalten auch im Umgang mit ihresgleichen verwenden. Dagegen dürfte das Modell von Eltern, die sich ihren Kindern gegenüber partnerschaftlich, demokratisch und gleichberechtigt verhalten, bei diesen Schule machen und z. B. auch deren Bereitschaft stärken, vergleichbares Verhalten in ihren eigenen geschwisterbezogenen Aktivitäten zu übernehmen.
Neuere Untersuchungen, in denen Familien mit stärker autoritärem Erziehungsklima verglichen wurden mit Familien, in denen ein weniger autoritärer Erziehungsstil praktiziert wird, liefern Anhaltspunkte für die Berechtigung dieser Annahme. Jedoch müssen wir auch die Möglichkeit in Erwägung ziehen, daß sich Geschwister zusammenschließen und gegen die autoritären Eltern verbünden, besonders dann, wenn die Kinder weitgehend sich selbst überlassen sind, was ja in früheren Generationen die Regel gewesen zu sein scheint.
Wichtig ist auch, in welchem Umfang die erzieherischen Einflüsse, welche die Geschwister treffen, Regelmäßigkeit und Gleichförmigkeit aufweisen und damit für diese vorhersehbar und vorhersagbar sind. Negative Effekte dürften sich dann bemerkbar machen, wenn Widersprüchlichkeiten und Unstimmigkeiten in der Erziehung vorkommen, die von den Kindern nicht verstanden und nicht angemessen verarbeitet werden können. Damit wird deutlich, daß letztlich entscheidend ist, wie die Geschwister persönlich und individuell die Erziehungsmaßnahmen der Eltern und anderen “Sozialisatoren” wahrnehmen, empfinden und verarbeiten. Es kann durchaus vorkommen, daß zwei Geschwister die faktisch gleiche Bestrafung durch die Eltern unterschiedlich wahrnehmen und entsprechend darauf reagieren: Eines fühlt sich z. B. zu Unrecht bestraft, ist gekränkt und zieht sich zurück; das andere empfindet die Strafe als gerecht und bleibt ansprechbar.
Zu fragen ist also, wie die früher vorherrschende autoritäre, Respekt und Unterordnung fordernde, Erziehung von den Kindern einer Geschwisterreihe in der Regel wahrgenommen und verarbeitet wurde – möglicherweise gar nicht viel anders, wie von den Geschwistern unserer Tage ihre “objektiv” weniger autoritäre und mehr partnerschaftliche Erziehung wahrgenommen wird! Denn für jede Geschwistergeneration ist die persönlich erlebte Erziehung die einzig mögliche und letztlich gültige.
Jedes Kind ist eingebunden in seine Familie und in die dort stattfindende Erziehung; es kann weder die Familie wechseln, noch in die Zukunft oder Vergangenheit reisen, um in den Genuß einer anderen Erziehung zu...
Erscheint lt. Verlag | 5.10.2020 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Malerei / Plastik |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung | |
Geisteswissenschaften ► Psychologie | |
Sozialwissenschaften ► Pädagogik | |
Schlagworte | Entwicklungspsychologie • Erziehung • Familie • Geschwister • Ratgeber |
ISBN-10 | 3-497-61420-3 / 3497614203 |
ISBN-13 | 978-3-497-61420-2 / 9783497614202 |
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Größe: 4,0 MB
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