Die Stadt der kleinen Wunder? (eBook)
288 Seiten
arsEdition GmbH (Verlag)
978-3-8458-5247-8 (ISBN)
Anja Portin (geb. 1971) ist eine in Helsinki lebende Schriftstellerin, die bisher Kinderbücher, Essays, Sachbücher und einen Roman (Nachruf, 2019) geschrieben hat. Sie hat vergleichende Literatur- und Rechtswissenschaften an den Universitäten Helsinki und Turku studiert und als Journalistin und Redakteurin gearbeitet. Im Jahr 2020 wurde sie für ihren Roman Radio Popov mit dem Finlandia Junior ausgezeichnet - dem renommiertesten finnischen Literaturpreis für Kinder- und Jugendbücher.
Amanda Laube
I n der folgenden Nacht legte ich mich wieder auf den Teppich im Flur. Ich wollte herausfinden, ob der Schleicher wiederkam und wer er war. Würde er abermals seinen Proviant durch die Briefklappe werfen?
Der Akku meines Handys war zwar leer, aber mein Wecker funktionierte noch. Also stellte ich den Wecker neben mich auf den Fußboden und behielt die Zeiger fest im Blick. Ich wartete darauf, dass sie auf halb drei vorrückten, denn um diese Zeit war in der vorigen Nacht der Schleicher gekommen.
Die Zeit kroch dahin und mein Magen knurrte. Es war Sonntag und ich hatte nach dem Brot aus der Zeitung nicht mehr gegessen als – Überraschung! – eine Gewürzgurke und einen Zwieback. Die nächste warme Mahlzeit würde ich in mehr als einer Woche in der Schule bekommen, denn die Herbstferien hatten gerade angefangen. Allein vom Gedanken an das nächste Mittagessen wurde mir flau. Gewürzgurken oder Zwieback? Oder Zwieback mit Gewürzgurken? Oder gar Zwieback, Gewürzgurken und wasserhahnwarmer Earl Grey? Igitt. Wenn mir nichts einfiele, würde ich vermutlich verhungern, bevor die Woche vorbei wäre. Vielleicht könnte ich mir irgendwie Essensgeld verdienen, indem ich in den Gärten anderer Leute Laub rechte oder in der Fußgängerzone eine Statue spielte, so wie der silbern angemalte Mann, den ich mal in der Stadt gesehen hatte?
Zum Glück kam ich bald auf andere Gedanken, denn unten ging die Haustür auf und ich hörte Geräusche im Treppenhaus. Schritte, stopp, KLAPP. Schritte, stopp, KLAPP. Ich stand auf, schlich zur Tür und hielt ein Ohr dagegen. Draußen wurden ein paar vorsichtige Schritte gemacht, dann herrschte Stille. Der Schleicher stand jetzt direkt vor der Tür. Hätte die sich zwischen uns aufgelöst, wären wir wahrscheinlich Ohr an Ohr dagestanden. Bei der Vorstellung, mit meinem Ohr das eines Fremden zu berühren, zuckte ich zusammen. Was hatte der nächtliche Schleicher vor? Steckte er auch anderen Leuten Butterbrote in die Briefklappe oder führte er nur bei mir etwas im Schilde? Waren die Geschenke ein Köder, mit dem er mich in eine Falle locken wollte?
Schlagartig war ich von Misstrauen erfüllt. Das kam bei mir oft vor: dass ich misstrauisch wurde. Wenn man allein ist, hat man schnell an allem Zweifel. Darum konnte ich mir auch nur schwer vorstellen, dass jemand, der nachts an meine Tür geschlichen kam, gute Absichten hatte. Bestimmt steckte hinter dem Butterbrot und den Wollsocken etwas Ungutes: eine Erpressung oder Drohung. Ein gemeiner Scherz. Heimtückisches Zellgift, das denjenigen, der damit in Berührung kam, langsam und qualvoll tötete. Alles war möglich. Trotzdem hatte ich nicht vor, mich zu ergeben, jedenfalls nicht so leicht. Angriff ist die beste Verteidigung – so hatte mein Vater einmal geprahlt, als er sich auf seinen knallvollen Koffer gestürzt hatte, um ihn gewaltsam zuzuquetschen.
Ich hielt die Luft an, doch dann musste ich doch ausatmen, und mich durchfuhr ein Seufzer wie ein Windstoß, der durch einen Tunnel rauscht. Die Wände im Flur saugten ihn auf, und es war, als würden sie unter seiner Kraft erzittern. Kurz darauf schepperte die Briefklappe und eine Zeitung plumpste auf den Fußboden.
»Angriff ist die beste Verteidigung«, flüsterte ich, als ich im selben Moment die Tür aufstieß und ins Treppenhaus stürmte.
Der Schleicher kreischte auf und machte einen Satz nach hinten. Ich packte ihn an der Jacke, damit er mir nicht entwischte. Prompt geriet er ins Taumeln, ließ etwas fallen, und als ich hinsah, lagen mehrere kleine Äpfel vor mir. Der Schleicher murmelte etwas und bückte sich, um sie aufzuheben, und weil ich immer noch an seiner Jacke hing, zog es mich ebenfalls zu Boden. Ich landete auf den Knien. Im selben Moment hob der Schleicher den Kopf und krachte damit gegen mein Kinn. Vor Schmerzen vergaß ich vollkommen, dass ich womöglich einen gefährlichen Kriminellen vor mir hatte.
»E… Entschuldigung«, stotterte ich und hielt mir das Kinn.
Der Schleicher würdigte mich keines Blickes, sondern raffte nur seine Äpfel zusammen und stopfte sie in seine Umhängetasche. Ich kam mir vor wie ein Trottel, und weil mir nichts Besseres einfiel, fing ich an, ihm zu helfen. Dabei ließ ich heimlich einen Apfel in meiner Schlafanzugtasche verschwinden, die übrigen gab ich dem Schleicher zurück.
»Danke«, brummte er und richtete sich auf.
Dann strich er sich die Jacke glatt, nuschelte etwas von wild umherspringenden Kindern und streckte schließlich den Rücken durch. Es war so dunkel, dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte, aber die Stimme klang ein bisschen nach … einer Frau mit Halsschmerzen.
Er war nicht sehr groß und wirkte auch nicht besonders bedrohlich, weshalb ich ebenfalls aufstand. Daraufhin reckte er den Hals und sah mich lange an. Dieser Blick machte mich nun wieder nervös, und am liebsten wäre ich in die Wohnung geflüchtet, doch irgendetwas sagte mir, dass ich besser im Treppenhaus stehen bleiben sollte. Wenn es mir gelänge, den Schleicher noch ein bisschen aufzuhalten, würde ich vielleicht herausfinden, was er vorhatte.
»Entspann dich endlich, Antero«, sagte er, nachdem er mich eine Weile gemustert hatte. »Ich fresse dich schon nicht.«
»Wer … Antero?«
»Na, du bist doch …?«
Er stutzte und sah mich mit zur Seite geneigtem Kopf an.
»Alfred«, sagte ich. »So werde ich in der Schule genannt.«
»Ach, genannt? Ist das gar nicht dein richtiger Name?«
»Ich weiß nicht … vielleicht …«
»Wie – vielleicht? Man weiß doch wohl, wie man heißt?«
Der Schleicher verstummte, als er sah, wie ich die Schultern hängen ließ. Ich schob die Hände in die Schlafanzugtaschen und umklammerte den Apfel so fest, dass sich meine Fingernägel durch die Schale bohrten. Der ganze Mut, der eben noch groß und leuchtend gewesen war wie der Vollmond am Himmel, war schlagartig erloschen.
»Na, na.« Der Schleicher schüttelte den Kopf. »Den eigenen Namen zu sagen, kann doch nicht so schlimm sein!«
In meinem Kopf verdüsterte sich alles. Aber eigentlich war sowieso alles egal: Sobald ich die Gewürzgurken und den Zwieback aufgegessen hätte, würde ich ohnehin verhungern. Da konnte der Schleicher genauso gut die Wahrheit hören. Also erzählte ich sie ihm.
Ich war mir bei meinem Namen deshalb nicht sicher, weil ihn zu Hause seit Jahren niemand mehr laut ausgesprochen hatte; wenn mein Vater zu Hause war, nannte er mich Junge oder benutzte die Passivform, sodass gar nicht klar gewesen wäre, wen er meinte, wenn wir nicht unter uns gewesen wären. Der Teller wird leer gegessen. Allmählich könnte das Bad mal frei gemacht werden. Da ist beim Test ja anscheinend gut abgeschnitten worden. Es wird kein Blödsinn gemacht, wenn ich unterwegs bin. Gegessen, frei gemacht, abgeschnitten. Als ich eingeschult wurde und an der Reihe war, meinen Namen zu sagen, stotterte ich unsicher: »A… A… A…« Und ohne von seinen Unterlagen aufzublicken, sagte der Lehrer: »Alfred, aha. Der Nächste?« Seitdem nannten mich alle Alfred.
»Ich hatte also recht«, sagte der Schleicher, als ich fertig erzählt hatte.
»Wieso?«
»Ich dachte mir schon, dass du einer von denen bist.«
»Wie, von denen?«
»Von den Vergessenen.« Der Schleicher holte tief Luft. »Also gut, Alfred. Ich muss jetzt weiter.«
Er wandte sich ab, um zu gehen. Ich musste mich beeilen.
»Aber warum …«, setzte ich an, ohne zu wissen, was ich ihn fragen wollte.
»Weil die Leute auf mich warten«, antwortete er. »Sie müssen ihre Zeitung bekommen, bevor es Morgen wird, sonst kriege ich was zu hören.«
»Ich meine …«, stammelte ich. »Ich frage mich bloß, warum letzte Nacht in der Zeitung …«
»… Wollsocken, ein Butterbrot und ein Apfel steckten, falls mein Gedächtnis nicht trügt.« Der Schleicher nahm die ersten Stufen nach unten. »Heute hatte ich nur Äpfel dabei, und die haben jetzt alle Dellen. Zum Glück haben die anderen ihre Äpfel schon bekommen. Du bist diesmal das letzte Objekt.«
Welche anderen? Und was denn für ein Objekt? Warum beschäftigte sich ein Zeitungsausträger mit Äpfeln und nicht mit Zeitungen? Unterdessen hatte der Schleicher es bereits bis runter zur Haustür geschafft.
»Warte auf mich!«, rief ich ihm hinterher.
»Nein«, dröhnte er und beschleunigte.
»Warte! Geh noch nicht weg!«
Ich sprintete zurück in unsere Wohnung, zog meine Turnschuhe an und riss die Jacke vom Haken. Mit dem Fuß erwischte ich die Zeitung, die auf dem Boden gelandet war, und ein schöner, kleiner Apfel rollte auf den Teppich. Ich steckte ihn schnell in die Tasche, schlug die Tür hinter mir zu und rannte dem Schleicher hinterher. Er war bereits draußen und kurz vor dem Nachbartreppenhaus. Ich schlüpfte gerade noch so hinter ihm hinein, bevor die Tür zuknallte, aber er tat so, als wäre ich gar nicht da, eilte nur von Tür zu Tür und schob ganz gewöhnlich aussehende Zeitungen in die Briefschlitze: keine Beulen, keine auf den Boden plumpsenden Äpfel, nichts Auffälliges.
Dann kehrte der Schleicher auf die Straße zurück, griff sich den Zeitungskarren und ging weiter den Bürgersteig entlang. Ich rannte ihm hinterher.
»Hör auf, mir zu folgen!«, herrschte er mich an und ging schneller.
»Ich tu’s aber doch«, keuchte ich und blieb ihm dicht auf den Fersen.
»Du kannst nicht im Schlafanzug draußen herumlaufen! Du musst zurück nach Hause!«
»Das kann ich nicht.«
»Und warum nicht?«
»Ich hab den Schlüssel in der Wohnung vergessen.«
»Dann...
Erscheint lt. Verlag | 29.9.2023 |
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Übersetzer | Stefan Moster |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-8458-5247-X / 384585247X |
ISBN-13 | 978-3-8458-5247-8 / 9783845852478 |
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