Die Einsamkeit der Astronauten (eBook)

(Autor)

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2023
224 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27700-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Einsamkeit der Astronauten - Stefan Beuse
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Wann wirst du zum Helden deines eigenen Lebens? Stefan Beuse über Liebe, Freiheit und die Rebellion gegen ein manipulatives System - eine fesselnde Dystopie
Und wenn nicht du falsch in der Welt bist - sondern der ganze Rest? Jonah lebt in der Siedlung. Hier kümmert sich die CoffeeCompany um das Glück der Bewohner und regelt den Alltag bis ins kleinste Detail. Alle sind zufrieden, nur Jonah fühlt sich fremd. Als die rebellische Lia neu in seine Klasse kommt, verliebt er sich Hals über Kopf in sie. Die beiden beginnen, Fragen zu stellen: Was will die CoffeeCompany wirklich? Gemeinsam stoßen sie auf ein manipulatives System aus Gefühlskontrolle und Überwachung. Doch noch bevor sie etwas unternehmen können, verschwindet Lia - und Jonah muss alles riskieren, um sie wiederzufinden. Ein fesselnder Roman, in dem die Grenzen der Wirklichkeit zunehmend verschwimmen.

Stefan Beuse, geboren 1967, arbeitete als Texter, Fotograf und Journalist. Für sein literarisches Werk wurde er u.a. mit dem Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb und dreimal mit dem Hamburger Literaturpreis ausgezeichnet. Seine Romane 'Kometen' und 'Meeres Stille' wurden fürs Kino verfilmt. Im Hanser Kinder- und Jugendbuch erschienen Die Ziege auf dem Mond (2018) und Der Pinguin sucht das Glück (2019), die er zusammen mit Sophie Greve entwickelte. 2023 folgt sein Jugendbuch Die Einsamkeit der Astronauten. Stefan Beuse lebt in Hamburg.

5


Kurz nachdem sie ihren Kaffee knapp am Anzug von Herrn Doktor Freitag vorbeigespuckt hat, sind ihre Finger immer noch blau. Lia hält die Tasse umklammert, sie starrt fassungslos auf den Rest Kaffee darin und fragt mich, was das bloß für eine Gegend ist, in der ich hier lebe.

Mit ihr an der Ausgabestelle zu stehen fühlt sich an, wie vor aller Augen einen Preis in Empfang zu nehmen. Ich bin aufgeregt und stolz und glücklich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich danke allen, die nie neben mir sitzen wollten. Ich danke Emilia Knox und ihrer gehässigen Freundin Greta. Ich danke unserem Sportcrack Jens Ramme, der selbst den Klassenstreber Justus van Laack mir vorzog. Vor allem aber danke ich meinen Eltern, die es mit unermüdlichem Einsatz und beständiger Verweigerung jedweden Verständnisses geschafft haben, mich zu dem sozial inkompatiblen und vollkommen gestörten Fünfzehnjährigen zu machen, der ich heute bin.

Ihnen allen gebührt mein tief empfundener Dank dafür, dass sich dieses zauberhafte Wesen an jenem Morgen neben mich gesetzt und mich sofort von Platz eins verdrängt hat. Ich bin jetzt nämlich nicht mehr der seltsamste Typ der Klasse. Vielleicht bin ich noch der zweitseltsamste, aber Nummer zwei zu sein ist okay. Nummer zwei bleibt unsichtbar, und Unsichtbarsein ist für mich so ziemlich der beste Zustand der Welt. Das totale In-Ruhe-gelassen-Werden.

»Was sind denn das für Leute, die Leitungen für schwarzes Wasser in die Häuser legen und dann behaupten, das sei Kaffee?«

Sie sagt das so laut, dass sich natürlich alle umdrehen und sie mehr oder weniger verstohlen beobachten. Jeder dieser Blicke fühlt sich an wie ein Orden.

Ich beuge mich zu ihr. Soll doch jeder wissen, dass wir jetzt schon auf dieser Vertrautheitsebene sind: so weit also, uns zueinanderzubeugen und uns Dinge zuzuraunen.

Ob es da, wo sie herkommt, die CoffeeCompany etwa nicht gibt, frage ich, weil ich mir das kaum vorstellen kann.

»Die was?«, fragt sie, und es klingt nicht, als wollte sie einen Scherz machen. Also erkläre ich es ihr. Obwohl ich jeden Moment damit rechne, dass sie anfängt zu lachen und »O Mann, du glaubst auch jeden Scheiß« oder so was sagt. Weil: Wenn es einen gibt, der seit Jahren den Meistertitel im Verarschtwerden hält, dann bin ich das.

»Die CoffeeCompany sorgt dafür, dass wir immer und überall frischen Kaffee haben«, sage ich und bemühe mich, wie ein Werbesprecher zu klingen, damit ich jederzeit den Rückzug antreten und das alles wie einen Witz aussehen lassen kann. »Morgens, mittags, abends, nachts. Der Kaffee ist kostenlos, und er schmeckt allen gut.«

»Mir nicht«, sagt sie. »Außerdem ist das kein Kaffee.«

Wenn sie sich über mich lustig machen wollte, hätte ich das spätestens jetzt gemerkt, hoffe ich.

»Etwas anderes gibt es bei uns nicht«, sage ich. »Wenn wir Durst haben, trinken wir Kaffee.«

»Aber es gibt hier doch ganz normale Wasserleitungen!«

Ich starre sie an. »Hat dir denn keiner gesagt, dass man das nicht trinken darf?«

»Warum sollte man Wasser nicht trinken dürfen?«

»Weil man krank davon wird, das weiß doch jeder!«

Lia sieht mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. »Hast du’s ausprobiert?«, fragt sie. »Wenn das nämlich die Alternative zu dieser Brühe ist, würde ich mir das an deiner Stelle gut überlegen.«

Ihre Augen machen ein Lochgefühl in meinem Bauch. Als würde ich aus großer Höhe irgendwo runterfallen.

»Die Brühe kommt von der CoffeeCompany«, versuche ich sie zu beruhigen und füge mit meiner halb ironischen Werbesprecherstimme hinzu: »Und die CoffeeCompany will nur unser Bestes.«

Ich lotse sie von der Ausgabe weg. Mit unseren Tassen in den Händen gehen wir aus dem Keller ins Erdgeschoss, durch die Gänge des Schulgebäudes, vorbei am Sekretariat, am Lehrerzimmer, an all den Räumen, von denen ich denke, dass sie vielleicht mal wichtig für sie werden könnten. Ich zeige ihr die Klassen, die Turnhalle. Ich lasse sie durch die Fenster der verschlossenen Türen auf die Schädel und Skelette für Bio und die giftigen Stoffe für Chemie sehen. Dabei versuche ich ihr zu erklären, was die CoffeeCompany eigentlich ist, und das ist schwieriger, als ich dachte. Weil mir nämlich plötzlich auffällt, dass ich gar nicht so viel über sie weiß. Die CoffeeCompany war irgendwie immer schon da, wie Bäume oder das Wetter oder all das andere, von dem keiner mehr wissen will, woher es ursprünglich kommt.

Wir gehen über den Pausenhof. Wir setzen uns auf die steinerne Tischtennisplatte am Rande des Fußballfelds, lassen die Beine baumeln und sehen den anderen dabei zu, wie sie in Grüppchen beisammenstehen, Fußball spielen, kauen, Kaffee trinken.

»Die CoffeeCompany schickt uns Botschaften«, sage ich, weil ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. »Wir lesen sie jeden Tag. An Litfaßsäulen, Bushaltestellen, auf den Bildschirmen und Monitoren, die überall in der Siedlung verteilt sind. Wir finden sie in unseren Briefkästen. Vor der Haustür. An den Klinken. Kleine Aufmerksamkeiten, selbst gefilzte Schlüsselanhänger, handgemachte Topflappen, mit Sprüchen drauf, die uns an das erinnern sollen, was wichtig ist. Liebe ist alles, zum Beispiel. Liebe ist alles, was zählt. Oder: Liebe ist alles, was fehlt. Manchmal rufen sie auch an. Denk an die Liebe, sagen sie, und wenn meine Mutter lächelnd auflegt, weiß ich, dass wieder die CoffeeCompany dran war und meine Mutter vielleicht wirklich kurz vergessen hat, an die Liebe zu denken. Liebe ist nämlich sehr wichtig bei uns. LoveCulture nennt die CoffeeCompany das, und wir finden, das klingt schön. Ist dir noch keine ihrer Botschaften aufgefallen?«

Sie sieht mich entgeistert und irgendwie lauernd an, als erwartete sie, dass ich in der nächsten Sekunde etwas vollkommen Verrücktes tue. »Hab ich nicht drauf geachtet.«

»Aber du hast doch bestimmt zum Einzug ein kleines Geschenk an deiner Tür gehabt«, sage ich, »ein Geschirrtuch mit einer Herztasse drauf wenigstens.«

»Jonah …« Sie blickt zu Boden. Es ist das erste Mal, dass sie meinen Namen sagt, und zum ersten Mal denke ich: Mein Name ist schön. Ich habe einen schönen Namen. »Ich kann dir nicht sagen, ob an meiner Tür ein Geschenk hing.«

Sie sagt das auf eine Art, die es verbietet, weiter nachzufragen. Ich fühle mich, als hätte sie mir gerade gestanden, dass ihre Eltern tot sind. Vielleicht sind ihre Eltern tot. Vielleicht kommt sie doch aus der DraußenWelt, von einem völlig zerstörten Ort.

»Ist auch nicht so wichtig«, sage ich und wechsele das Thema, um das komische Gefühl loszuwerden: »Jedenfalls gibt es täglich eine Videokonferenz. MorningCall nennt die CoffeeCompany das. Nur für die, die wollen, natürlich, aber ich habe noch nie von jemandem gehört, der nicht wollte. Also, der sich getraut hat, nicht teilzunehmen. Zwar weiß keiner, ob man bestraft wird, wenn man mal eine Konferenz versäumt, aber wir wollen unser Glück besser nicht auf die Probe stellen.«

Ich lache. Es klingt ein bisschen dümmlich.

»In der Konferenz sieht jeder von uns immer nur sechs weitere Leute, obwohl angeblich die ganze Siedlung dabei ist. Wir vermuten, dass ein Zufallsgenerator bestimmt, wer von uns wen sieht, oder ein Algorithmus, der Menschen mit bestimmten Gemeinsamkeiten zusammenbringt.«

Ich warte darauf, dass sie etwas sagt oder wenigstens fragt, was ein Algorithmus ist, aber sie starrt nur weiter auf ihre Fußspitzen.

»Einer der Teilnehmer hat immer einen lächelnden Kaffeebecher in Herzform als Hintergrundbild. Deshalb glauben wir, dass er von der CoffeeCompany ist. Der Mann sagt Dinge, die im ersten Moment gut klingen, aber wir wissen nie, was er eigentlich meint. Seine Stimme ist gleichzeitig wie unter Wasser und als würde er in eine Würstchendose sprechen, die jemand vor sehr langer Zeit auf dem Mond vergessen hat.« ...

Erscheint lt. Verlag 20.2.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Auflehnung gegen das System • Black Mirror • Coming-of-age • Dystopie • Erste Liebe • Freiheit • Freundschaft • Gliss • Hüter der Erinnerung • Identitätssuche • Jugendbuch • Jugendliche • Jugendroman • Junge Erwachsene • Liebe • Liebesgeschichte • Obsidian • Ophelia Scale • philosophische Dystopie • Play • poetischer Liebesroman • Rebellion • Science-fiction • Spannung • Überwachung • Ursula Poznanski • Wie ein Film • Zukunft
ISBN-10 3-446-27700-5 / 3446277005
ISBN-13 978-3-446-27700-7 / 9783446277007
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