Wie unsichtbare Funken (eBook)
224 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-072-5 (ISBN)
Elle McNicoll kommt ursprünglich aus Schottland und lebt inzwischen in London. Sie arbeitete als Lektorin, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Ihr Debüt Wie unsichtbare Funken, der den Waterstones Book Prize of the Year gewann, wurde auf Anhieb zum Bestseller.
Elle McNicoll kommt ursprünglich aus Schottland und lebt inzwischen in London. Sie arbeitete als Lektorin, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Ihr Debüt Wie unsichtbare Funken, der den Waterstones Book Prize of the Year gewann, wurde auf Anhieb zum Bestseller.
Kapitel zwei
Auf meine Schwester zu warten, ist die längste Zeit des Tages.
Als ich von der Schule nach Hause komme, steht Dad schon am Herd. Heute ist Montag, also wird es Nudeln zum Abendessen geben. Ich mag es ziemlich einfach. Zu viel Soße gibt meiner Zunge das Gefühl zu ertrinken, also macht Dad für mich eine einfache helle Soße und eine andere für den Rest der Familie: für Dad selbst und für meine zwei älteren Schwestern und für Mum, wenn sie nicht bei der Arbeit ist.
»Essen ist fast fertig, Addie.«
Dad weiß, dass er mir nicht gleich irgendwelche Fragen stellen kann. Ich brauche immer erst Zeit, um zur Ruhe zu kommen. So hat Keedie das genannt, erst hat sie es mir gesagt und dann auch Dad. Seitdem ist es einfacher.
Ich helfe den Tisch zu decken, und dann werfen wir Nudeln an die Decke, um zu sehen, ob sie kleben bleiben. Eine Nudel fällt runter, und Dad fängt sie mit dem Mund auf. Er lacht und isst sie, bevor er nach oben ruft, dass Nina aufhören soll, in ihre Kamera zu sprechen, und das Essen fertig ist. Er hört nicht das Scharren ihres Stuhls, das Surren ihrer Kameralinse, während sie einfährt, oder das schicksalsergebene Zuschnappen ihrer Zimmertür.
Aber ich.
Nina ist meine andere ältere Schwester. Sie ist immer da, und immer will sie was. Was genau, weiß ich eigentlich nicht. Ein anderes Haus, ein besseres Leben? Die Art von Leben, die sie in ihren Videos vorgibt zu leben. Ein Leben in Roségold, sauber und ordentlich.
Sie hat rötlich braunes Haar, das sie blond färbt, und nur vernünftige Piercings. Sie trägt karierte Röcke und Rollkragenpullis. In ihrem Zimmer stehen eine Kamera auf einem großen Stativ und Scheinwerfer, die wichtig aussehen. Durch ihre Kamera spricht sie mit Zehntausenden von Leuten über Klamotten und Schminke.
In ihren Videos lächelt sie auf eine Art, wie ich sie sonst nie lächeln sehe.
»Worum geht’s heute in deinem Video?«
Dad stellt immer wieder die gleichen Fragen. Das nennt er »sich Mühe geben«. Er sagt, das ist wichtig, damit die Menschen wissen, dass man an ihrem Leben interessiert ist. Wenn mich jemand interessiert, dann habe ich Hunderte von Fragen, und es sind immer ganz unterschiedliche.
»Bloß ein kurzes Q&A-Video«, antwortet Nina und tut sich eine kleine Portion Nudeln auf den Teller. Der Geruch der Soße, die sie sich übers Essen träufelt, sticht mir in die Nase. »Seit ich keine Haul-Videos mehr mache, geht meine Klickrate runter.«
Mum hat ihr gesagt, dass es Verschwendung ist, jeden Monat so viele neue Klamotten zu kaufen. Es gab einen großen Streit. Türen knallten, und mir haben die Hände gezittert.
Nina steht auf und geht zum Kühlschrank, reißt ihn auf, um sich eine Flasche Saft rauszuholen. »Wo bleibt sie denn?«
Mir ist klar geworden, dass Nina immer einen bestimmten Ton in der Stimme hat, wenn sie von Keedie spricht. Ich kann ihre Stimme sehen, sie hat zwei verschiedene Farben. Eine ist dunkel, und eine ist hell. Beide Farben sind für Keedie. Aber ich weiß nicht genau, was sie bedeuten.
Nina ist nicht die Schwester, auf die ich warte. Sondern Keedie.
Dad antwortet nicht, und ich weiß, dass Nina nicht mit mir geredet hat, denn mich hat sie nicht angeguckt. Ich wickle eine Nudel um meine Gabel. Das dauert eine Weile.
»Wie war’s in der Schule?« Ich kann spüren, wie sich Ninas Augen geradewegs in meine Schultern bohren, also zucke ich damit. Sie setzt sich wieder zu uns an den Tisch. »Ich hab dich was gefragt, Addie.«
»Nina.«
Dad weist sie sanft zurecht.
»Ich kann mich nicht erinnern.« Das ist nicht gelogen, auch wenn Nina mir das sofort vorwirft. Sobald ich das Schulgebäude verlasse, zerfällt mein Schultag irgendwie in lauter kleine Einzelteile. Erst in den folgenden paar Tagen setzt sich allmählich alles zu einer Erinnerung zusammen.
»Du hast ein hervorragendes Gedächtnis«, sagt Nina mir und kratzt auf eine Art mit ihrem Besteck über den Teller, von der mir schlecht wird. »Wenn sie uns sagt, dass sie sich nicht erinnern kann, dann stimmt was nicht.«
Jetzt redet sie wieder mit Dad.
»Magst du deine Lehrerin?«
Bilder von Miss Murphy zucken vor meinen Augen auf. Ihr einer richtig gelber Zahn. Ihre langen Fingernägel. »Sie ist genauso, wie Keedie gesagt hat.«
Mit einer scharfen Bewegung legt Nina ihr Besteck ab. »Sieh mal, Addie … dieser Meinung bist du nur, weil Keedie dir das gesagt hat. Es ist lang her, dass sie Keedie unterrichtet hat. Und die Schule hat gerade mal vor einer guten Woche angefangen, da kannst du noch gar nicht wissen, wie sie ist.«
»Warum hast du mich dann gefragt?«
Ich verstehe Nina nicht. Wenn wir miteinander sprechen, will sie etwas von mir, von dem ich nicht weiß, wie ich es ihr geben soll. Mit den Leuten, die sich ihre Videos angucken, spricht sie so, als würde sie die lieben. Manchmal gucke ich ihr dabei zu. Als ich meine Samstags-Therapie gemacht habe, hat der Mann immer Fotos vor mich hingelegt, Fotos von verschiedenen Männern mit verschiedenen Gesichtern. Gesichtsausdrücken, hat er mich verbessert. Aber es waren verschiedene Gesichter. Er hat mich dann immer gebeten, ihm zu sagen, wie sie sich fühlen, aber ich wusste nie, wie. Wie ich das erkennen sollte, wie ich das wissen sollte, was überhaupt los war.
Aber ich habe geübt und bin besser geworden. Ich habe Nina beobachtet. Sie hat in die Kamera geguckt und ganz breit gelächelt. Sie war glücklich; sie hat die Menschen geliebt, zu denen sie gesprochen hat. Aber sie waren, sind, nur Fremde. Gesichter, die sie nicht einmal sehen kann. Ich bin ihre Schwester. Trotzdem guckt sie mich mit einem Gesicht an, das ich nicht lesen kann.
Ich weiß nie, was Nina wirklich will.
Dann höre ich es. Ein sanftes Klopfen gegen das große Küchenfenster. Dad und Nina haben es noch gar nicht mitbekommen, da schieße ich schon von meinem Stuhl hoch, um es aufzureißen. Ich konnte hören, wie ihre Knöchel über das Glas geglitten sind, bevor das Klopfen überhaupt angefangen hat.
Keedie ist da.
Sie duckt sich und kraxelt durch das Fenster in die Küche. Ich umarme sie. Sie ist der einzige Mensch, den ich je umarme. Sie hält mich nie zu fest, sie ist nie angespannt. Sie trägt kein schweres Parfum, das mir in die Nase sticht, nur den Duft nach milder Seife, der nach Zuhause riecht.
»Hallo, Lieblingsmensch.« Ihre Stimme besteht nur aus einer einzigen Farbe, aus wunderschönem geschmolzenem Gold.
Ich lächele gegen ihre Rippen. Sie stellt mir keine Frage. Sie lässt los, als ich das tue.
»Nina, ich glaube, ich breche mein Studium ab und werde Influencerin wie du.« Keedie lässt sich auf den Stuhl neben meinem fallen und fängt an, die restlichen Nudeln aufzuessen. »Ich kann die Leute in meinen Kursen nicht ausstehen, und die Räume sind schrecklich.«
»Sehr lustig.« Nina meint das sarkastisch, aber sie lächelt ein wenig. »Was stimmt mit den Räumen da nicht?«
Keedie sieht mich an und grinst. Unwillkürlich grinse ich zurück. »Schlechte Beleuchtung.«
Ich nicke, voller Verständnis.
»Oh, ich sehe schon.« Nina trinkt von ihrem Saft. »Ihr beiden habt ein kleines Geheimnis.«
Schlechte Beleuchtung ist die Art von Licht, die so hell ist, dass man davon Kopfschmerzen bekommt. Das tut uns in den Augen weh – schlechtes Licht ist sehr laut, nur eben visuell.
Keedie ist Ninas Zwilling. Aber sie ist nicht wie Nina. Sie ist wie ich. Autistin wie ich.
*
Nach dem Abendessen machen Keedie und ich einen Spaziergang am Water of Leith entlang. Wir genießen den knirschenden Klang unserer Schritte auf dem Kiesweg, der zum matschigen Ufer des Flusses führt. Ich strecke die Hand aus, um ein Blatt an einem Baum zu berühren, ein Blatt, das bald eine andere Farbe annehmen und dann sterben wird. Als Mum mir das erste Mal von den Blättern an den Bäumen erzählt hat, musste ich heulen, aber sie hat mir erklärt, dass das gut ist und ganz normal. Dass es ihnen nicht weh tut zu sterben.
»Miss Murphy hat mich heute angeschrien.« Ich trete gegen einen Kieselstein, sodass er durch die Luft fliegt und im fließenden Wasser landet. »Weil meine Handschrift unordentlich war.«
Keedie bleibt stehen, um mir einen Blick zuzuwerfen. Ich weiß, dass es ihr schwerfallen wird, meinen Gesichtsausdruck zu lesen. Wir treten auf die Brücke, die über den Fluss führt. Ich habe ein paar Stöcke in der Hand, die ich gleich reinfallen lassen will.
»Das hätte sie nicht tun dürfen, Addie.«
»Sie hat gesagt, sie konnte kein Wort lesen.«
»Das ist wegen deiner Feinmotorik.« Keedie bleibt stehen und nimmt sanft meine Hände in ihre.
»Feinmotorik?«
»Unser Gehirn schickt Botschaften an unsere Hände. Es sagt ihnen, was sie tun sollen.« Mit ihrem Finger berührt sie meine Handfläche und dann meine Schläfe. »Wenn du … anders bist, ist die Verarbeitung ein bisschen ungewöhnlich. Dann haben die Hände ein Problem damit, genau das zu tun, was das Gehirn will. Sie sind so damit beschäftigt, die Wörter richtig hinzuschreiben, auch in der richtigen Reihenfolge, dass sie keine Zeit haben, um das in perfekter oder hübscher Handschrift zu machen.«
»Okay.« Ich verarbeite, was Keedie gesagt hat.
»Meine Handschrift ist genauso.« Sie stupst mich an und lacht. »Deswegen lässt mich Nina nie unsere gemeinsamen Weihnachtskarten unterschreiben.«
Ich lache, als eine Erinnerung an Nina in meinem Kopf aufsteigt: wie sie letzten Dezember vor dem Kamin gesessen hat, alle Weihnachtskarten vor sich ausgebreitet. Sie hat das Ganze sehr ernst genommen, auch das Einpacken der...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2023 |
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Übersetzer | Barbara König |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Autismus • Emotionen • Familie • Freundschaft • Geschichtsaufarbeitung • Hexen • Hexenverbrennung • Kinderbuch • Neurodiversität • Schottland • Selbstbewusstsein |
ISBN-10 | 3-03792-072-6 / 3037920726 |
ISBN-13 | 978-3-03792-072-5 / 9783037920725 |
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