Heute gehe ich nicht nach Hause (eBook)
288 Seiten
Arctis Verlag
978-3-03880-166-5 (ISBN)
Antonella Sbuelz wurde 1962 in Udine, Italien, geboren, wo sie auch lebt und neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin an einem Gymnasium unterrichtet. Seit 1997 hat sie etliche Gedichtbände, Erzählungen und Romane veröffentlicht und wurde dafür mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Heute gehe ich nicht nach Hause ist ihr erster Roman, der sich explizit an Jugendliche wendet. Im Mai 2022 wählten 160 Kinder und Jugendliche das Buch zum Sieger des Premio Campiello Junior, ein neugegründeter Literaturpreis in Erweiterung zum renommierten Premio Campiello.
Antonella Sbuelz wurde 1962 in Udine, Italien, geboren, wo sie auch lebt und neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin an einem Gymnasium unterrichtet. Seit 1997 hat sie etliche Gedichtbände, Erzählungen und Romane veröffentlicht und wurde dafür mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Heute gehe ich nicht nach Hause ist ihr erster Roman, der sich explizit an Jugendliche wendet. Im Mai 2022 wählten 160 Kinder und Jugendliche das Buch zum Sieger des Premio Campiello Junior, ein neugegründeter Literaturpreis in Erweiterung zum renommierten Premio Campiello.
Aziz
Jetzt ist die Nacht schon weniger Nacht.
Das Dunkel beginnt seinen Kampf mit dem frühen Morgenlicht.
Dort, wo bald die Sonne aufgehen wird, ist der Himmel blasser und heller, wie die zarte Haut, die über einer Wunde nachwächst.
»Ruhen wir uns ein wenig aus«, hat Papa zu mir und Onkel Ahmad gesagt, »aber nicht länger als zehn Minuten.«
Onkel Ahmad hat genickt. Er ist keiner, der viel spricht.
Das Sprechen hebt er sich für die wichtigen Dinge auf, und gerade geht es nur um eine Pause.
Hinter der Kurve des Wegs ist eine Hausruine zu sehen. Vielleicht ist es auch nur ein Viehunterstand, mit vom Schnee eingedrücktem Dach und einer Pflanze, die die Mauer emporklettert.
Ich gehe hin und setze mich auf den Boden.
Den Rücken lehne ich an die Wand. Papa und Onkel Ahmad setzen sich neben mich. Stille, die unsere Müdigkeit verschluckt, Nähe zwischen unseren Körpern.
Von hier aus erscheint der Horizont offen und der Winter wie eine Jahreszeit ohne Ende.
Zwischen Schnee- und Eisflecken pickt ein Vogel mit weißen und grauen Federn etwas vom Boden auf. Vielleicht ein Samenkorn, eine Larve, eine Beere.
Hunger ist stärker als alles andere, auch stärker als die Angst. Deshalb sucht der kleine Vogel nach Futter und beachtet uns drei nicht.
Onkel Ahmad reicht mir eine Wasserflasche. Ich trinke einen langen Schluck, und dann noch einen.
»Hast du Hunger?«, fragt Papa und durchwühlt den Rucksack, auf der Suche nach einer Packung Kekse.
Ja, ich habe Hunger, aber vor allem bin ich müde.
Während ich an ein paar Keksen herumkaue, fühle ich, wie mir die Augen zufallen. Auch mein Kopf fällt zur Seite. Ich lehne ihn an Papas Schulter.
»Nur ein bisschen«, bitte ich leise, »lass mich nur ein bisschen ausruhen …«
Vielleicht hört er mich gar nicht, denn er antwortet nicht. Aber seine Schulter wird weich wie ein eingerollter dicker Teppich.
Es ist schön, so zu sitzen, in der Stille des frühen Morgens. Um diese Jahreszeit scheint die Stille das neue Leben auszubrüten: die Samen der Pflanzen, die Wurzeln.
Ich höre die Stimmen des Windes. Nehme den sauberen Windgeruch wahr. Den Geruch von Papa, der nach zu Hause riecht. Den Tabakgeruch von Onkel Ahmad.
Schön, die Vögel zu hören, die den neuen Tag begrüßen, meinen Atem in der Kuhle des Schals zu fühlen, den Schlaf, der sich mit leisen Lämmchenschritten anschleicht.
Aber dann passiert es wieder.
Der Schneeleopard Tag Null taucht aus der Höhle meiner Erinnerungen auf.
Wie immer macht er kein Geräusch. Wie immer ist sein Angriff präzise.
Umso präziser, weil er weiß, wann sein Opfer am wehrlosesten ist.
Und ich weiß, dass nun vor meinen geschlossenen Augen der Tag Null wieder aufleben wird, wie der Phönix aus der Asche in der Geschichte meiner Oma Nadira.
Ich kann nichts dagegen tun.
Ich kann es nur noch einmal erleben. Und wieder und wieder und wieder.
Jeder Augenblick jenes Tages ist hier vor meinen Augen.
Lebendiger als alles Lebendige.
Wir besuchen meine Tante Amina in ihrem Dorf im Norden.
Der Bus ist gerade wieder losgefahren und wirbelt grauen Staub über dem dunkleren Grau der Straße auf, nachdem er uns an der Einmündung eines Weges abgesetzt hat.
An einer niedrigen Mauer ist ein Esel festgebunden, der zur Begrüßung iaht.
Die Luft ist kühl. Es ist fast Abend. Mama und ich gehen los, zwischen Häusern aus ungebrannten Ziegeln, Stein und getrocknetem Lehm. Das orange Licht des Sonnenuntergangs beleuchtet sie und lässt sie schön aussehen, so eng beieinander, mit Gehegen für das Vieh und hie und da einem Tandur, in dem die Frauen morgens das Fladenbrot backen. Die Fenster sind kleine offene Quadrate. Eine Pflanze reckt sich über ein Dach und fängt das letzte Sonnenlicht ein. Von hoch gespannten Wäscheleinen hängen blaue, rote und schwarze Kleider. Aus der Ferne ist das Brummen eines Dieselgenerators zu hören.
Ein alter Mann im gestreiften Chapan kauert auf seinen Fersen, mit dem Rücken an eine Mauer gelehnt. Als wir vorbeigehen, schaut er uns an und nickt zum Gruß. Vielleicht wartet er auf den Gebetsruf.
Jenseits der Straße, in der Biege eines Baches, hat eine Gruppe von Kutschi-Nomaden rote und grüne Zelte aufgeschlagen. Zwischen ihnen brennt ein Feuer.
Zwei Kinder planschen im Wasser, ein Spritzer landet auf meinem Arm. Ein größerer Junge hütet magere Ziegen.
Am Horizont, hinter einem Hügel, steigt dunkler Rauch in die Höhe und verliert sich dort: Irgendjemand verbrennt Abfälle. Der Gestank weht bis zu uns und mischt sich mit vielen anderen Gerüchen. Es riecht nach Erde, nach Tieren, nach offenen Kloaken, nach den Dieselabgasen eines vorbeifahrenden Autos, und der Staub, den es aufwirbelt, kratzt mir in Hals und Nase.
Aber als wir Tante Aminas Haus betreten, ist ein Geruch stärker als alle anderen: der pikante Duft von Gewürzen, vermischt mit dem weichen Duft von Brot.
Da bemerke ich, dass ich großen Hunger habe.
Mama hat Tante Amina eine Dose mit Süßigkeiten mitgebracht, Dishlemeh, und ein Körbchen bunte Eier, die wir beide mit Sternen und Blumen bemalt haben.
Tante Amina erwartet ihr erstes Kind, und ihr Bauch ist der größte der ganzen Provinz Badghis.
Mama streckt eine Hand aus und streichelt ganz leicht darüber, und ich sehe Tante Amina lächeln.
Beim Lächeln schließt sie die Augen und legt ihre Hand auf die von Mama. Es ist, als wären sie wieder kleine Mädchen. Kurz bleiben sie so stehen, ohne etwas zu sagen, in einer langen, stillen Umarmung. Mamas Schleier rutscht herab und gibt ihr Gesicht frei. Sie stehen Wange an Wange, Tante Aminas Bauch zwischen ihnen.
Und plötzlich, als ich sie so vereint sehe, fühle ich mich so weit von ihnen entfernt wie der Wind, der zwischen den Häusern pfeift. Einsam, von allem losgelöst, mit einer Stimme, auf die niemand hört.
Ich setze mich etwas abseits auf eine Bank und stecke ein Stück Brot in den Mund.
Schließlich kommt Tante Amina zu mir.
»Willst du nicht auch das Kind spüren?«
Da mache ich den üblichen Scherz und klopfe mit der geschlossenen Faust an ihren Bauch.
Und wie immer antwortet meine Tante: »Besetzt!«
Dann lacht sie, umarmt und schunkelt mich, und ich schließe Frieden mit dem Babybauch.
Doch gleich darauf wird Tante Amina ernst. Sie nimmt meine Hand und führt sie. Und da fühle ich es. Es bewegt sich. Das Kind bewegt sich unter meiner Handfläche, unter dem gespannten Stoff des Kleids, unter der Haut meiner Tante. Es fühlt sich an wie das Schnellen eines Fisches. Wie der noch unsichere Flug eines Vogeljungen. Und mit seinem Schnellen wie ein Fisch oder Fliegen wie ein Vogel berührt das Kind nun meine Finger, und meine Finger zittern ein kleines bisschen.
Ich blicke hoch zu meiner Tante.
»Was meinst du, wird es mir ähnlich sehen?«
Sie bleibt einen Moment still.
Dann streicht sie mir über den Kopf.
»Wenn ich Glück habe«, antwortet sie, »wird es dir ähnlich sehen.«
Der Tisch ist für Nouruz gedeckt, mit den besonderen Symbolen des Fests: Äpfeln, die für Schönheit stehen, Knoblauch für die Gesundheit, Gerstenkörnern und Linsen für die wiederkehrende Natur. Und dann noch verzierte Eier, eine Schale mit Walnüssen und Pistazien und eine Schüssel voll Wasser, um uns daran zu erinnern, wie das Leben sein sollte. Einfach und sauber. Transparent.
Es gibt auch Reispudding. Und neben dem Pudding steht Ferni. Meine Tante weiß: Das ist mein Lieblingsdessert.
Auf ein Tellerchen in der Mitte des Tisches hat sie zwei gelbe Kerzen gestellt. Mama zündet sie an. Sie singt leise.
Draußen wird es dunkel.
Die Kerzenflammen scheinen mit den Schatten zu spielen, die in den Winkeln des Hauses nisten, das im Übrigen fast genauso aussieht wie unseres. Die Wände aus Lehm und Stein. Die Vorhänge, die in den Türöffnungen schwingen. Auf dem gestampften und sauber gekehrten Erdboden verschiedene bunte Teppiche. An einer Wand lehnen zwei eingerollte Matten. In der Kochnische stehen auf einer Schicht Stroh Getreide- und Reissäcke, und von einem eisernen Haken hängt ein Stück rohes rotes Fleisch.
Der Geruch des Fleisches ist durchdringend, ich genieße es, wie er meine Nase erfüllt.
Das Meckern einer Ziege ist zu hören, und weit entfernt bellt ein Hund.
Dann erhebt sich die Stimme des Muezzins.
Und immer wieder das Pfeifen des Windes. Tante Amina sagt, er kommt von Norden.
Ich habe Hunger an diesem Abend. Ich esse alles. Auch das Spinat-Sabzi. Und nach dem Essen trinke ich noch eine Schale Milch.
»Wenn mein Kind deinen Appetit bekommt, müssen wir drei Ziegen mehr kaufen«, sagt Tante Amina, das Gesicht zwischen den Händen, die Ellbogen auf den Tisch aufgestützt.
»Ich fürchte, drei werden nicht reichen«, sagt Mama und schaut auf meinen Teller. Darauf ist keine einzige Linse mehr zu sehen. Er ist sauber wie ein Bachkiesel.
Ich tue so, als wäre ich beleidigt, aber ich frage nach noch mehr Pudding. Mama und Tante Amina lachen fröhlich. Alle beide haben schöne weiße Zähne, aber sie können sie nur zu Hause zeigen. Auf der Straße lacht eine Frau nicht. Um genau zu sein, lächelt sie nicht einmal. Schade, denke ich manchmal.
Auch weil Oma mir gesagt hat, dass das nicht immer so war.
Mich überkommt Müdigkeit, immer wieder fällt mein Kopf nach vorne.
»Bleibt zum Schlafen hier«, sagt meine Tante und macht die Kerzen aus, »es ist spät. Jetzt lasse ich euch nicht mehr gehen.«
Draußen ist es bereits Nacht. Eine stille Nacht. Mama sieht...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2023 |
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Übersetzer | Michaela Heissenberger |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Afghanistan • Ausgezeichnet • Bacha Posh • Balkanroute • Flucht • Geflüchtete • Heimat • Identität • Italien • Krieg • Premio Campiello • Scheidung • Schule • Verlust • Wörterliebe |
ISBN-10 | 3-03880-166-6 / 3038801666 |
ISBN-13 | 978-3-03880-166-5 / 9783038801665 |
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Größe: 1,2 MB
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