Die Kurzhosengang (eBook)
208 Seiten
Carlsen Verlag Gmbh
978-3-646-92272-1 (ISBN)
Yves Lanois, 1972 in Natti, einem Vorort von Toronto, geboren, gründete mit zehn Jahren einen der ersten kanadischen Horrorclubs und war für seine originellen Auftritte in Geisterbahnen und auf Geburtstagen bekannt. Dementsprechend waren auch seine erste Schreibversuche geprägt. Sie gelten als Meisterwerke des bizarren Horrors. Lanois lebte zwei Jahre in einer Inuitsiedlung, lernte die Traditionen und Sagen und kehrte mit einem völlig veränderten Weltbild nach Toronto zurück. Er heiratete die Sängerin Salia Finn und wurde kurzzeitig Musikproduzent. Dann wandte sich Lanois wieder dem Schreiben zu und tat sich mit Victor Caspak zusammen. Ihre gemeinsame Entdeckung der Kurzhosengang gab seinem Leben einen neuen Kurs.
Andreas Steinhöfel wurde 1962 in Battenberg geboren. Er ist Autor zahlreicher, vielfach preisgekrönter Kinder- und Jugendbücher, wie z. B. »Die Mitte der Welt«. Für »Rico, Oskar und die Tieferschatten« erhielt er u. a. den Deutschen Jugendliteraturpreis. Nach Peter Rühmkorf, Loriot, Robert Gernhardt und Tomi Ungerer hat Andreas Steinhöfel 2009 den Erich Kästner Preis für Literatur verliehen bekommen. 2013 wurde er mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für sein Gesamtwerk ausgezeichnet und 2017 folgte der James-Krüss-Preis. Zudem wurde er für den ALMA und den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert. Andreas Steinhöfel ist als erster Kinder- und Jugendbuchautor Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seine Serie über Rico und Oskar wurde sehr erfolgreich fürs Kino verfilmt. Zusätzlich zu seiner Autorentätigkeit arbeitet er als Übersetzer und Rezensent und schreibt Drehbücher. Seit 2015 betätigt er sich in seiner Filmfirma sad ORIGAMI als Produzent von Kinderfilmen. Yves Lanois, 1972 in Natti, einem Vorort von Toronto, geboren, gründete mit zehn Jahren einen der ersten kanadischen Horrorclubs und war für seine originellen Auftritte in Geisterbahnen und auf Geburtstagen bekannt. Dementsprechend waren auch seine erste Schreibversuche geprägt. Sie gelten als Meisterwerke des bizarren Horrors. Lanois lebte zwei Jahre in einer Inuitsiedlung, lernte die Traditionen und Sagen und kehrte mit einem völlig veränderten Weltbild nach Toronto zurück. Er heiratete die Sängerin Salia Finn und wurde kurzzeitig Musikproduzent. Dann wandte sich Lanois wieder dem Schreiben zu und tat sich mit Victor Caspak zusammen. Ihre gemeinsame Entdeckung der Kurzhosengang gab seinem Leben einen neuen Kurs. Victor Caspak, 1966 in Toronto geboren, wuchs bei seinen Tanten auf. Mit siebzehn schrieb er für eine Sportzeitschrift und hatte diverse Jobs - Eisrinkratte, Krankenwagenfahrer, Briefträger, Schneeschieber. Jahrelang schrieb er für verschiedene Zeitschriften und lernte im Sommer 1994 Yves Lanois kennen. Beide lagen literarisch auf einer Wellenlänge und beschlossen zusammen zu arbeiten. Auf einer Angeltour hörten sie dann vom Mythos der Short Ones und gingen ihm nach. Im selben Jahr lernten sie die Mitglieder der Kurzhosengang kennen. Beeindruckt von dieser Begegnung machten sich Caspak und Lanois an die Arbeit und schrieben - basierend auf den Erzählungen - die Geschichte auf.
Der Mann fragt, ob wir die Kurzhosengang sind.
Wir nicken, ja, wir sind die Kurzhosengang.
Er fragt, was wir davon halten würden, unsere Fahrräder woanders hinzustellen.
Wir schütteln die Köpfe, nein, die Kurzhosengang hält nichts davon, ihre Fahrräder woanders hinzustellen.
Der Mann sagt, wenn das so wäre, dann müsste er handgreiflich werden.
Darauf lächelt die Kurzhosengang. Niemand legt sich mit uns an. Das ist in ganz Kanada bekannt. Die Kurzhosengang braucht bloß ihre Muskeln anzuspannen, dann wird der Mann schon sehen, was er davon hat.
Die Kurzhosengang spannt ihre Muskeln an.
Mehr braucht es nicht.
Der Mann dreht sich um und geht wieder an seinen Platz.
*
Snickers steigt als Erster vom Fahrrad. Er zieht die Hose hoch und kneift die Augen zu, als würde ihn die Sonne blenden. Ich steige als Zweiter vom Fahrrad und nicke ein paar Mal, weil ich auf alle Fragen eine Antwort weiß. Island dreht den Zündschlüssel, klappt den Seitenständer raus und stellt sein Fahrrad ab, als wäre es ein Chopper mit Breiträdern und einem Fuchsschwanz am Spiegel. Nur Zement bleibt sitzen. Zement braucht für alles eine Weile länger. Er ist noch nicht vor dem Fernsehstudio angekommen. Zwar steht er mit uns direkt davor, doch in seinem Kopf ist er noch auf dem Weg hierher. Erst als Snickers sagt: »He, Zement, wir sind da!«, sieht Zement sich um und steigt vom Fahrrad.
Ich glaube, einen wie Zement überrascht es immer wieder, wie schnell das Ankommen geht.
*
Die Leute fragen oft, was es denn Wichtiges über die Kurzhosengang zu wissen gibt. Hier sind die fünf wichtigsten Punkte:
1) Die Kurzhosengang sitzt im Kino immer in der siebten Reihe auf den Plätzen 22, 23, 24 und 25. Wir gehen nur am Samstagnachmittag ins Kino. Die Kurzhosengang würde sich lieber die Filme im Abendprogramm ansehen, das könnt ihr mir glauben. Filme wie Blutiges Massaker oder Tot und begraben und dreimal draufgehauen.3 Da wir aber nun mal elf Jahre alt sind, haben wir keine große Wahl.
2) Zwar feiern wir erst nächstes Jahr unseren zwölften Geburtstag, dennoch wissen wir, wo der Bus abfährt. Einmal im Monat fahren Snickers’ Eltern übers Wochenende aufs Land und dann bekommt Snickers von der ganzen Gang Besuch. Das ist dann was. Kaum haben die Eltern die Wohnung verlassen, sprintet Snickers zum Telefon und ruft uns an.
»Die Luft ist rein!«
Fünf Minuten später erklingt vor dem Haus ein Dröhnen. Island bremst, kickt den Seitenständer seiner Maschine raus und prüft seine Frisur im Chrom des Auspuffs. Gleichzeitig komme ich quietschend um die Kurve und berühre mit einem Knie den Asphalt. Zement folgt mit einer Minute Verspätung und weiß eigentlich noch nicht, dass er schon losgefahren ist.
Im Wohnzimmer erwarten uns dann Fernseher und Videorekorder und Tüten mit Chips. Die Kurzhosengang ist ein Riesenfan von Horrorfilmen. Am liebsten etwas mit Vampiren und viel Blut und einer Menge Geschrei. Snickers’ Schwester besorgt uns die Filme aus der Videothek. Sie ist neunzehn und das schönste Mädchen in ganz Kanada. Jeder von uns will sie mindestens zweimal heiraten. Snickers ausgenommen, er ist ja ihr Bruder. Zement ist da auch ausgenommen, weil er noch nicht mitbekommen hat, wer Snickers’ Schwester ist. Ihm geht das alles zu schnell. Wenn Snickers’ Schwester ins Wohnzimmer reinschaut und uns bittet, den Ton leiser zu stellen, stellen wir den Ton leiser. Dabei klappt uns der Mund auf, weil sie so großartig aussieht. Und wenn dann Snickers’ Schwester wieder die Tür zugemacht hat, sage ich meistens:
»Wow, sieht die toll aus!«
Und Zement sagt dann meistens:
»Mann, wieso habt ihr den Ton leiser gestellt?«
Ich glaube, man müsste Snickers’ Schwester für eine halbe Stunde auf einem Stuhl festbinden und Zement direkt davorsetzen, damit er sie wirklich sieht. Zement sieht nur die Dinge, die er schon kennt. Und manchmal wundern wir uns, wie er unbeschadet über eine Straße laufen kann. Er kennt doch nicht jedes Auto. Es ist ein Rätsel.
3) Die Namen der Mitglieder der Kurzhosengang sind natürlich nicht unsere richtigen Namen. Niemand wird geboren und heißt Snickers oder Island oder Zement. Auch würde keine Mutter ihr Kind Rudolpho nennen.4 So was nennt man inkognito sein. Wenn jeder wüsste, wer die Mitglieder der Kurzhosengang sind, dann würde hier aber die Post abgehen, das lasst euch mal gesagt sein.
4) Wir leben in einer kleinen kanadischen Stadt, in der jeder schon mal mit dem anderen gesprochen hat. Wenn wir auf die Straße gehen, sehen wir anders aus als zu Hause. Wir gucken und laufen und reden anders. Wir sind dann lässig wie Eiswürfel am Strand von Tahiti. Unsere Eltern gehen an uns vorbei und denken: Da ist ja wieder die Kurzhosengang. Sie denken nicht: Da sind ja unsere Kinder. Die Kurzhosengang hat keine Kinder als Mitglieder. Wir tun nur so, als ob wir Kinder wären.
5) Die Kurzhosengang wurde mitten im Winter zur Kurzhosengang. Dieser Tag stellt ein bedeutendes Datum in der Weltgeschichte dar. Viele Schulbücher mussten umgeschrieben werden und trotzdem steht in allen das Falsche. Denn was genau an diesem Wintertag passiert ist, weiß eigentlich keiner. Viele glauben es zu wissen. Sie sagen dies und sie sagen das. Dabei wissen sie rein gar nichts.
Wenn man die Kurzhosengang fragt, dann schütteln wir unsere Köpfe. Denn es geht niemanden an, was genau an diesem Tag passiert ist. Die Mitglieder der Kurzhosengang schweigen wie vier tiefe Gräber auf einem Friedhof voller Vampire. Überall ist Nebel zu sehen und da steht einer der Vampire und wedelt mit seinem Umhang und tschak kriegt er einen Pflock vor die Brust. Wo kommt der Pflock her? Da tritt aus dem Nebel ein junger Mann. Er hat kurzes Haar und sieht richtig toll aus. Er ist verliebt in ein Mädchen, das die Schwester seines Kumpels ist. Das Mädchen ist viel zu alt für den jungen Mann, aber so spielt nun mal das Leben.
Der junge Mann bin ich.
Ich oder auch kurz Rudolpho genannt.
Und das hier geschah an dem Tag, an dem sich die Welt veränderte und die Kurzhosengang zu ihrem Namen kam.
Wieso ich das verrate, fragt ihr euch jetzt sicher. Und das auch noch im Fernsehen vor einem Publikum. Ich verrate es euch, weil ich genug davon habe, dass was Falsches in den Büchern steht.
Leiht euch einen Kuli, streicht das Falsche durch und schreibt das Richtige rein.
So wird das gemacht.
*
Wir hatten Sportunterricht. Draußen schneite und stürmte es, während wir durch die Turnhalle liefen und einem Basketball hinterherjagten. Basketball ist in Kanada so beliebt wie Turmspringen in der Sahara. Wir lieben Eishockey. Wir wachen am Morgen auf und denken an Eishockey, wir schlafen am Abend ein und träumen von Pucks.5 Ich kenne keinen Jungen, der Eishockey nicht mag. Ich kenne eine Menge Jungs, die Basketball bescheuert finden. Eine ganze Turnhalle voll.
Unser Sportlehrer heißt Kniescheibe und wiegt vielleicht zweihundertsechsundzwanzig Kilo. Er war früher ein toller Eishockeyspieler, dann gingen bei einem Zusammenstoß seine Kniescheiben kaputt und er wurde Sportlehrer. Dazwischen fing er an zu essen und aus einem kräftigen Mann wurde eine wandelnde Tonne. Auch die Stimme von Kniescheibe hat sich dabei verändert. Sie klingt wie die Stimme von jemandem, der gleich explodiert und jeden um sich herum mit Blut und Gedärmen bespritzt. Kniescheibe ist immer wütend, wenn er mal nicht wütend ist, dann ist er bestimmt tot. Und so klingt es, wenn Kniescheibe nach einem ruft:
»BEWEG DEINEN PUDERHINTERN SOFORT HIERHER, DU KLEINER WICHT, DER NOCH NICHT MAL EINEN BALL HALTEN KANN. WO HAST DU DAS GELERNT, HM? DENKST DU, DER BALL IST MIT SUPERKLEBER EINGESCHMIERT? PACK IHN AN, PACK IHN RICHTIG AN, DU WANZE, NUN MACH SCHON.«
Es gibt auf unserer Schule vielleicht hundert Schüler und alle wissen, was Kniescheibe für einer ist. Von diesen hundert Schülern brach garantiert schon die Hälfte in Tränen aus, nachdem Kniescheibe sie das erste Mal angeschrien hatte. Andere Lehrer dürfen das nicht. Kniescheibe darf es nur, weil er mal einer der bekanntesten Eishockeyspieler Kanadas war.6
»WAS SCHAUST DU SO DÄMLICH? IST DAS HIER EIN FERIENCAMP? SUCH DEN BALL, DU SOHN EINER AVOCADO, SUCH IHN UND MACH SCHNELL, SONST FALTE ICH DEINE OHREN, BIS SIE ANLIEGEN.«
Das Dumme an Kniescheibe ist, dass er Eishockey hasst, seitdem seine Kniescheiben kaputt sind. Für uns heißt das Basketball, Volleyball und Bodenturnen. Es heißt Fußball und Handball und Langstreckenlauf.
Wir gehen auf die traurigste Schule der Welt.
Und niemand konnte an diesem Tag wissen, dass die traurigste Schule der Welt nur noch einige Minuten hatte, bevor sie völlig von diesem Planeten verschwand.
*
Unsere Schule stand auf einem Hügel, von dem aus das Meer und unsere Stadt gut zu sehen sind. Die Straße, die zur Schule hochführte, ist ungefähr einen halben Kilometer lang und verläuft in merkwürdigen Bögen und Kurven. Vielleicht gab es hier früher Felder und die Straße musste um die Felder herumgelegt werden.
Zwischen morgens und nachmittags fuhr jede halbe Stunde ein Bus hoch zur Schule. Die meisten Kinder aber wurden von ihren Eltern gebracht. Es gab deswegen jeden Tag Stau. Snickers, Island, Zement und ich nahmen immer den Bus. Es gibt ja wohl nichts Peinlicheres, als von den Eltern zur Schule gebracht zu werden. Wann immer die Sonne schien, wirkte die Straße wie eine graue Schlange aus glänzendem Metall. Lag aber...
Erscheint lt. Verlag | 29.4.2011 |
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Übersetzer | Andreas Steinhöfel |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre | |
Kinder- / Jugendbuch ► Spielen / Lernen ► Abenteuer / Spielgeschichten | |
Schlagworte | Abenteuer • Carlsen • Erstleser • Freundschaft • Grizzly • Inkognito • Interview • Kanada • Kinderbuch • Klassenlektüre • Lehrer • Lustige Bücher für Jungs • Naturkatastrophe • Presse • Quatsch • Schule • Schullektüre • Spannung & Abenteuer • Spannung & Abenteuer • Spaß • Unterricht • Vorlesen |
ISBN-10 | 3-646-92272-9 / 3646922729 |
ISBN-13 | 978-3-646-92272-1 / 9783646922721 |
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