Ethik des Essens - Harald Lemke

Ethik des Essens

Eine Einführung in die Gastrosophie

(Autor)

Buch | Hardcover
468 Seiten
2007
De Gruyter (Verlag)
978-3-05-004301-2 (ISBN)
44,95 inkl. MwSt
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Harald Lemke

Ethik des Essens - Eine Einführung in die Gastrosophie

Ein merkwürdiges Schweigen herrscht in der Gegenwartsphilosophie gegenüber dem Essen. Und dies, obwohl viele Zukunftsfragen und ethische Probleme unmittelbar mit den globalen Ernährungsverhältnissen zusammenhängen und deren erforderliche Lösung davon abhängt, wie "gut" wir uns ernähren.

Das Problem dieser Sprachlosigkeit wird im vorliegenden Buch erstmals in ihre theoretischen Hintergründe zurückverfolgt. Denn anders als heutzutage haben sich in der Vergangenheit viele Philosophen intensiv mit den moraltheoretischen Fragen eines guten Essens beschäftigt. Die theoriegeschichtliche Rekonstruktion dieses Ernährungsdiskurses zeigt auf, wie weit reichend und umfassend das tägliche Essen die menschliche Welt erzeugt.

Um die großen Zusammenhänge dieser in Vergessenheit geratenen Philosophie des Welt-Essens in den Blick zu bekommen, werden zwei Theoriestränge - der eines diätmoralischen und der eines gastrosophischen Denkens - herausgearbeitet. Während der diätmoralische Diskurs die menschliche 'Essistenz' zugunsten eines rein geistigen Glücks entwertet und die Moral einer vernunftlosen Ernährung lehrt, vergewissert sich das gastrosophische Denken mit der Ethik eines guten Essens der alltäglichen Möglichkeit einer vernünftigen Lebenspraxis.

Die programmatische Gegenüberstellung dieser unterschiedlichen Philosophien der Ernährung und ihrer jeweiligen Tugendlehren ist einem genuinen Ziel der praktischen Philosophie verpflichtet: Sie dient der kritisch-theoretischen Begründung einer besseren Praxis – nicht nur des Essens.

Aus dem Inhalt:

Entrée

I. HAUPTGANG: GENEALOGIE DER DIÄTMORAL

1. Das wilde Tier in uns

2. Das harte Brot stoischer Tugenden

3. Zur Heiligkeit des abendlichen Mahls

4. Zum Geständniszwang süßer Sünden

5. Kritik der rein diätmoralischen Vernunft

II. HAUPTGANG: GASTROSOPHISCHE VORDENKER

1. Der Entstehungsherd des gastrosophischen Denkens

2. Die Ursprünge der Naturheilkost

3. Wahrer Hedonismus

4. Der Mensch ist, was er isst

5. Delikater Geschmack

Zusätze: Ingredenzien einer Kritischen Theorie des guten Essens

Ein merkwürdiges Schweigen herrscht in der Gegenwartsphilosophie gegenüber dem Essen. Und dies, obwohl viele Zukunftsfragen und ethische Probleme unmittelbar mit den globalen Ernährungsverhältnissen zusammenhängen und deren erforderliche Lösung davon abhängt, wie "gut" wir uns ernähren. Das Problem dieser Sprachlosigkeit wird im vorliegenden Buch erstmals in ihre theoretischen Hintergründe zurückverfolgt. Denn anders als heutzutage haben sich in der Vergangenheit viele Philosophen intensiv mit den moraltheoretischen Fragen eines guten Essens beschäftigt. Die theoriegeschichtliche Rekonstruktion dieses Ernährungsdiskurses zeigt auf, wie weit reichend und umfassend das tägliche Essen die menschliche Welt erzeugt. Um die großen Zusammenhänge dieser in Vergessenheit geratenen Philosophie des Welt-Essens in den Blick zu bekommen, werden zwei Theoriestränge - der eines diätmoralischen und der eines gastrosophischen Denkens - herausgearbeitet. Während der diätmoralische Diskurs die menschliche 'Essistenz' zugunsten eines rein geistigen Glücks entwertet und die Moral einer vernunftlosen Ernährung lehrt, vergewissert sich das gastrosophische Denken mit der Ethik eines guten Essens der alltäglichen Möglichkeit einer vernünftigen Lebenspraxis. Die programmatische Gegenüberstellung dieser unterschiedlichen Philosophien der Ernährung und ihrer jeweiligen Tugendlehren ist einem genuinen Ziel der praktischen Philosophie verpflichtet: Sie dient der kritisch-theoretischen Begründung einer besseren Praxis - nicht nur des Essens.

Harald Lemke (Dr. phil. habil.) lehrt Philosophie an der Universität Lüneburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ethik, Politik, Ästhetik, Alltagskultur sowie die kritische Theorie des guten Lebens.

Entrée I. HAUPTGANG: GENEALOGIE DER DIÄTMORAL 1. Das wilde Tier in uns 2. Das harte Brot stoischer Tugenden 3. Zur Heiligkeit des abendlichen Mahls 4. Zum Geständniszwang süßer Sünden 5. Kritik der rein diätmoralischen Vernunft II. HAUPTGANG: GASTROSOPHISCHE VORDENKER 1. Der Entstehungsherd des gastrosophischen Denkens 2. Die Ursprünge der Naturheilkost 3. Wahrer Hedonismus 4. Der Mensch ist, was er isst 5. Delikater Geschmack Zusätze: Ingredenzien einer Kritischen Theorie des guten Essens

"Ganz offen bekundet Lemke seine Sympathie für Gastrosophie, die gutes Leben und gutes Essen für untrennbar hält." Jakob Strobel y Serra in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Oktober 2007 "Harald Lemke modelliert seine sehr kenntnisreiche und gelehrte Gastrosophie [...]. Die philosophischen Fingerzeige sind mannigfaltig, und groß ist das Nahrungsangebot für den denkerisch anspruchsvollen Gaumen [...]. Der Autor brilliert mit seiner sophistizierten Bildung sowohl in der geistigen wie auch der leiblichen Dimension." Neue Zürcher Zeitung, 8. März 2008 "[Das Buch gibt] Anregungen an die Hand für eine ernährungsspezifische Selbstsorge, die das Nützliche des ethisch guten Essens mit dem Angenehmen kulinarischen Genießens verbindet." Michael Wetzel in: Deutschlandradio Kultur, 14. April 2008 "Lemkes Einführung in die Gastrosophie [ist] ein gelungenes Beispiel für die Möglichkeiten der theoretischen Durchdringung einer Praxis, wie dies eine der gesellschaftlich relevanten Leistungen der Philosophie sein kann. Der philosophishe Diskurs der Gegenwart gewinnt hier eine Facette, die sich durch große Eigenständigkeit und Originalität auszeichnet." Wilhelm Schmid in: Mitteilungen des Internationalen Arbeitskreises für die Kulturforschung des Essens, Dezember 2008 Das Buch vermag "den eigenen Anspruch des 'Kochs' und 'Gastgebers' Lemke durchaus zu erfüllen: den Appetit der Leser auf das Thema zu wecken, ihren Erkenntnishunger zu befriedigen und [...] ein Überdenken ihrer gewohnten Urteils- und Essensweise anzustoßen." Astrid von der Lühe in: Journal Culinaire, Nr. 6, Mai 2008 "Lemkes gelehrte Studie [...] ist eine reichhaltige Informationsquelle für alle, die an der Kulturgeschichte des Essens und Trinkens interessiert sind, und ein leidenschaftliches Plädoyer für eine kritische Gastrosophie, die für den Primat der Ethik vor der Politik eintritt, vor allem aber vor einer moralisch völlig entleerten Ökonomie." In: Bio Nachrichten, Juni 2010, Nr. 16

2. Die Ursprünge der Naturheilkost (S. 289-290)
oder "Lasst eure Nahrungsmittel Heilmittel sein" (Hippokrates)

Vorbemerkung

Einzelausgaben der Schriften des griechischen Arztes Hippokrates, der heute allgemein als Begründer der wissenschaftlichen Medizin gilt, sollen in der hellenistischen Welt als ‚Einmaleins einer gesunden Küche' im Umlauf gewesen seien.1 Die hippokratische Diätetik entsteht in unmittelbarer Auseinandersetzung mit den philosophischen Reflexionen seiner Zeit – er ist ein wenig später als Sokrates, aber noch vor Platon (und Aristoteles) geboren. In Übereinstimmung mit dem, was im vorangegangenen Abschnitt als die sokratische Philosophie des guten Essens präsentiert wurde, misst Hippokrates der Ernährung einen ethischen Wert bei: Die essistenzielle Lebenspraxis des Menschen wird zum Gegenstand einer umfassenden Reflexion bezüglich der Bedingungen eines guten Lebens und Wohlbefindens. Während in den gastrosophischen Reflexionen des Sokrates der gesundheitliche Aspekt des Nahrungsgeschehens nur einen untergeordneten Stellenwert hat, rückt dieser bei Hippokrates ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Die hippokratische Gastrosophie führt mit den griechischen Ausdrücken wie diaites und diaitetikè téchne die heute selbstverständlichen, ernährungstheoretischen beziehungsweise ernährungsmedizinischen Grundbegriffe Diät und Diätetik ein, deren klärungsbedürftige Bedeutung uns bereits in dem Streit zwischen Kant und Hufeland begegnete. (Siehe I.5) Nun ist die Gelegenheit da, bei Hippokrates den gastrosophischen Ursprung des diätetischen Denkens zu ergründen – als Beleg und Kontrastprogramm für die historische und systematische Plausibilität eines gastrosophischen Sokratismus sowie als Porträt einer hinsichtlich ihrer konzeptionellen Komplexität in der Geschichte des ernährungsphilosophischen Diskurses des Abendlandes einzigartigen Weisheitslehre des Essens.

Indem Hippokrates seine theoretischen Erkenntnisse einer gesunden Ernährung im Kontext der medizinischen Heilkunst entwickelt, spezifiziert er die Vernunftidee einer gastrosophischen Ethik im Sinne der diätetischen Lebenskunst. Danach verwirklicht die Praxis, sich gesund zu ernähren, die Ethik eines gesundheitlich guten Lebens. So wird Hippokrates mit der gastrosophisch-diätetischen Maxime – "Eure Nahrungsmittel sollen eure Heilmittel sein, und eure Heilmittel sollen eure Nahrungsmittel sein" – zum Begründer einer naturheilkundigen Gesundheitsküche. Mit der größten Selbstverständlichkeit führt Xenophon in seinem ethisch-pädagogischen Dialog Kyroupaideia die gesund- heitliche Bedeutung der Ernährungsweise an, was darauf hindeutet, dass die hippokratische Medizin zu Zeiten Xenophons offenbar bereits "Allgemeingut" war.

Im krassen Unterschied zu den asketischen Idealen der platonischen Diätphilosophie, die eine systematische Abwertung der menschlichen Leibnatur, insbesondere der kulinarischen Lüste, gutheißt, wertet Hippokrates die Ernährungspraxis als einen konstitutiven Faktor und würdigen Lebensinhalt der menschlichen Existenz auf. Dementsprechend postuliert der Mediziner keine dualistische Anthropologie, die den Leib von der Seele abtrennt, wie bei Platon. Ganz im Gegenteil leitet Hippokrates' Anthropologie in trophologischer Hinsicht die Naturgeschichte der Menschheit aus ihrer Esskulturgeschichte her, so dass an die Stelle einer spekulativ-metaphysischen Bestimmung der Natur des Menschen ein empirischer Begriff der menschlichen Physis tritt. Dieser empirische und, wie sich zeigen wird, zugleich normative Begriff ‚des Menschen'

Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Maße 170 x 240 mm
Gewicht 772 g
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Allgemeines / Lexika
Schlagworte Anthropologie • Essen (speisen) • Ethik • Philosophie
ISBN-10 3-05-004301-6 / 3050043016
ISBN-13 978-3-05-004301-2 / 9783050043012
Zustand Neuware
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