Die Weltdeutung im Silmarillion von J. R. R. Tolkien (eBook)
436 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
978-3-7565-9074-2 (ISBN)
Studium der Fächer Germanistik und Sportwissenschaft 1999-2004. Südamerika-Aufenthalt 2010-2011. Interessen: Fernöstliche Kampfkünste, historische und Fantasy-Literatur. Weitere Texte von mir: http://verworreneskaiserreich.blogspot.com/
Studium der Fächer Germanistik und Sportwissenschaft 1999-2004. Südamerika-Aufenthalt 2010-2011. Interessen: Fernöstliche Kampfkünste, historische und Fantasy-Literatur. Weitere Texte von mir: http://verworreneskaiserreich.blogspot.com/
3. Tolkiens Mythenpoetik
„Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.“[Fußnote 171]
(Rilke: Buch vom mönchischen Leben)
Bevor wir uns nun dem Hauptteil der Arbeit nähern, müssen wir uns noch (in aller Kürze) klar machen, wie Tolkien das Wesen der fairy-story beschreibt und welche Funktionen er ihr zuschreibt. Welche Maßstäbe setzte Tolkien selbst an seine Mittelerde-Erzählungen und wie ging er beim Schreiben vor? Um dies zu beantworten, ziehen wir neben weiteren wissenschaftlichen Aufsätzen den Tolkien’schen Aufsatz Über Märchen (engl. On Fairy-Stories) sowie seine Erzählungen Blatt von Tüftler (engl. Leaf by Niggle) und Der Schmied von Großholzingen (engl. Smith of Wootton Major) heran.
3.1. Zur fairy-story – mehr als ein Märchen
Nach Tolkiens Aufassung sind fairy-stories nicht ausschließlich Märchen. Es sind Texte, die von ihm nun nicht exakt definiert werden, aber bestimmte Eigenschaften zugesprochen bekommen:
„Die Definition einer Fairy-story – was sie ist oder sein sollte – hängt also nicht von einer Definition oder historischen Erklärung der Elben oder Feien ab, sondern von der Natur der Faërie: dem Reich der Fährnisse selbst und der Luft, die dort weht. Ich will nicht versuchen, dies zu definieren oder geradewegs zu beschreiben; es ginge nicht. Die Faërie ist nicht in einem Netz von Worten zu fassen, denn eine ihrer Eigenschaften ist es, unbeschreiblich, obgleich nicht unwahrnehmbar zu sein. Sie setzt sich aus vielen Elementen zusammen, doch die Analyse führt nicht unbedingt zum Geheimnis des Ganzen.“[Fußnote 172]
Sie erzählen von einem besonderen Ort, dem „Reich der Feien und Elben“.[Fußnote 173] Für Tolkien sind Mythen, Märchen, Sagen und Legenden – sie alle können von diesem Reich berichten – allesamt fairy-stories. Das Elben-Reich ist eben nicht nur ein Märchenland, sondern Land einer mythischen, zeitlosen Vergangenheit. Der Stoff solcher Geschichten stammt aus einem historisch gewachsenen, kollektiven Wissen, welches sich aus realer Historie und Fiktion zusammensetzt.[Fußnote 174] Aus dieser Verbindung von realen und fantastischen Elementen beziehen die fairy-stories ihre Wirkung.[Fußnote 175] Tolkien gebraucht als Bild für dieses kollektive Wissen den Topf, der mit allen möglichen Elementen gefüllt ist; so ist z.B. der legendäre König der Tafelrunde das Ergebnis des ‘Schmorens’ in diesem Topf:
„Ziemlich klar scheint zu sein, daß auch der historische König Artur (der aber als solcher wohl nicht allzu bemerkenswert war) in den Topf gesteckt worden ist. Dort kochte er lange Zeit, zusammen mit anderen älteren Gestalten und Sinnbildern aus der Mythologie und dem Elbenreich, auch mit einzelnen Knochenresten aus der Historie (z. B. Alfreds Abwehrkrieg gegen die Dänen), bis er als ein Märchenkönig daraus hervorging.“[Fußnote 176]
Tolkien meint, dass sich reale und fiktive Elemente im Topf zu einem Mythos verdichten:
„Hätte noch nie ein junger Mann sich bei einer zufälligen Begegnung in eine Jungfrau verliebt und hätte feststellen müssen, daß alte Feindschaften seiner Liebe im Wege standen, so hätte der Gott Frey niemals von Odins hohem Sitz herab die Riesentochter Gerdr erblickt.“[Fußnote 177]
Im Gegensatz zu der Annahme, dass fairy-stories (also mythische Erzählungen) nichts als Lügen seien und dem Logos gegenüber ständen, weist Tolkien ihnen eine nicht-fiktive Grundlage zu – und mehr noch: einen Erkenntniswert, der auf dem Prinzip der Zweitschöpfung (sub-creation) beruht. Die Zweitschöpfung ist das „Wesen der fairy-stories. Es handelt sich dabei um den besonderen Realitätsgehalt, den Tolkien den fairy-stories zuspricht“.[Fußnote 178]
Dadurch, so Tolkien (der gläubige Katholik), dass wir von Gott erschaffen wurden, haben wir Menschen die Eigenschaft und das Bedürfnis, ebenfalls etwas zu schaffen. Dabei geschieht es, „daß sich der Geschichtenerfinder als ein erfolgreicher ‘Zweitschöpfer’ erweist. Er schafft eine Sekundärwelt, in die unser Geist eintreten kann. Darinnen ist ‘wahr’, was er erzählt: Es stimmt mit den Gesetzen jener Welt überein.“[Fußnote 179] Damit stimmt Tolkien mit Garaudy überein, der vom Mythos sagt, er erinnere daran, dass der Mensch schöpferisch sei.[Fußnote 180] Mit den Mythen schafft der Mensch eine Welt, und dies ist ein Recht des Menschen; er muss es tun, weil er nach dem selben Prinzip erschaffen wurde. In lyrischer Form tut uns dies das Tolkien’sche Gedicht Mythopoeia kund:
„Though all the crannies of the world we filled
with elves and goblins, though we dared to build
gods and their houses out of dark and light,
and sow the seed of dragons, ’twas our right
(used or misused). The right has not decayed.
We make still by the law in which we’re made.“[Fußnote 181]
Eine mythische Erzählung im Tolkien’schen Sinne muss Wahrhaftigkeit beanspruchen. Die Ereignisse, die geschildert werden, müssen im Rahmen der Sekundärwelt, die der Autor erschafft, absolut glaubhaft sein. Eine Zweitschöpfung, also eine mythische Erzählung, muss bewirken, dass beim Leser kein Unglaube aufkommt; er muss stets den Eindruck haben, dass alles, was erzählt wird, im Rahmen der Sekundärwelt wahr ist. Dies wird durch die „‘innere Folgerichtigkeit der Realität’“[Fußnote 182] erzeugt. Um diese These zu veranschaulichen, benutzt Tolkien die Vorstellung einer „grünen Sonne“:
„Um eine Sekundärwelt zu schaffen, in der die grüne Sonne glaubhaft ist, nämlich einen Sekundärglauben erzwingt, bedarf es vermutlich einiger Mühe und Überlegung, gewiß aber einer besonderen Fertigkeit, einer Art Elbenkunst. Nur selten wird so Schwieriges überhaupt versucht. Wird es aber versucht und gelingt auch nur einigermaßen, so erleben wir etwas höchst Seltenes: die Kunst des Erzählens, des Geschichtenerfindens in ihrer ursprünglichsten und mächtigsten Form.“[Fußnote 183]
Gelingt es einem Künstler, diese mächtige Form des Geschichtenerzählens zu schaffen, diese Zweitschöpfung real darzubringen, verbleibt der Leser während der Lektüre in der Sekundärwelt, und alles Geschehende ist für ihn wahr. Eine mythische Erzählung, die dies erreicht, bereichert das Leben bzw. die Welt der Leser, seien sie erwachsen oder Kinder, dergestalt, dass sie bestimmte Funktionen erfüllt. Für Tolkien war eine Welt schöner und reicher, „die auch nur die Vorstellung von Fáfnir enthielt“.[Fußnote 184] Er erachtet die Kunst des Schaffens einer Sekundärwelt mittels der fairy-story als eine besondere Gabe: als „Elbenkunst“. Diese Gabe, so die Vorstellung in seiner Erzählung Der Schmied von Großholzingen, besitzt der Künstler nur eine bestimmte Zeit, und dann muss er sie weitergeben. Der Elbenkönig sagt zum Schmied:
„‘So etwas kann einem Menschen nicht auf immer gehören, noch kann er es als sein Erbe betrachten. Es wird geliehen. Vielleicht hast du nicht bedacht, daß ein anderer es braucht. Genau das ist der Fall. Die Zeit drängt.’“[Fußnote 185]
Weil dieses Schaffen, dieses Reisen in das Elbenland, ein Grundbedürfnis des Menschen ist, muss man sich bewusst sein, dass man es nicht immer für sich behalten darf: Man muss es tradieren, damit es nicht verloren geht.
3.2. Die ‘Fairy-Funktionen’
Mythische Erzählungen sind nicht speziell für Kinder gedacht; von den Funktionen, die Tolkien den soeben beschriebenen Erzählungen zuspricht, profitieren auch bzw. vorwiegend erwachsene Menschen:
„Wenn kunstgerecht geschrieben, hat das Märchen als ersten Wert denjenigen, den es als Literatur mit anderen literarischen Formen gemein hat. Außerdem aber, in je besonderen Abstufungen oder Abwandlungen, gewähren Märchen auch Phantasien, Wiederherstellung, Trost, Flucht – lauter Dinge also, deren Kinder in der Regel weniger bedürftig sind als Erwachsene.“[Fußnote 186]
Wir wollen uns nun diesen ‘Fairy-Funktionen’ zuwenden.
3.2.1. Phantasie
Tolkien nähert sich dem Begriff der Phantasie so:
„Der menschliche Geist ist fähig, sich von nicht aktuell gegenwärtigen Dingen ein inneres Bild zu machen. Die Fähigkeit zu solchen Vorstellungen nennt (oder nannte) man naturgemäß im Englischen imagination [im Deutschen die Einbildungskraft oder Phantasie].“[Fußnote 187]
Diese Fähigkeit wird bei einer mythischen Erzählung nach Tolkiens Ansicht nicht nur vom Autoren, sondern auch vom Leser abverlangt. Das Phantasieren wird durch die fairy-story initiiert, sofern sie von guter Qualität ist, d.h. den Leser in der Sekundärwelt verbleiben lässt. Das Phantasieren macht den Leser wie den Autoren zum Neben- oder Zweitschöpfer, und dieses Nebenschöpfertum ist ein Grundbedürfnis des Menschen – nach Tolkien.[Fußnote 188] Phantasie bzw. Imaginationskraft ist eine notwendige Voraussetzung für die Lektüre einer fairy-story; das P h a n t a s i e r e n des Rezipienten ist also eine erste ‘Fairy-Funktion’ einer mythischen Erzählung.
3.2.2. Wiederherstellung
Die mythische Erzählung führt dazu,...
Erscheint lt. Verlag | 11.11.2024 |
---|---|
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft |
ISBN-10 | 3-7565-9074-7 / 3756590747 |
ISBN-13 | 978-3-7565-9074-2 / 9783756590742 |
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