Sprachliche Variation (eBook)

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2024 | 1. Auflage
174 Seiten
Narr Francke Attempto (Verlag)
978-3-8233-0482-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sprachliche Variation -  Florian Busch,  Christian Efing
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Sprache ist geprägt von Variation. In der täglichen Variabilität des Sprechens und Schreibens drückt sich nicht nur aus, wie flexibel und wandelbar sprachliche Strukturen sind - Variation entfaltet vor allem soziale Bedeutung und übernimmt konkrete Funktionen. Der Band führt in ausgewählte Variationsphänomene des Deutschen ein und zeigt ihre Relevanz für den schulischen Sprachunterricht. Dreh- und Angelpunkt ist dabei der kommunikative Alltag von Schüler:innen, dessen sprachliche Heterogenität aus sprachwissenschaftlicher und -didaktischer Perspektive beleuchtet wird. Der Band thematisiert die curricularen Kernbereiche Grammatik, Orthographie und Sprachreflexion. Er zeigt an authentischen Beispielen und Unterrichtsideen, welche lebensweltlichen Bezüge diese Themen im Deutschunterricht motivieren können (z.B. digitale Kommunikation, Sprechen in Peergroups).

Prof. Dr. Florian Busch ist Assistenzprofessor für Interaktionale Linguistik und Diskurslinguistik am Institut für Germanistik der Universität Bern. Prof. Dr. Christian Efing ist Inhaber des Lehrstuhls 'Deutsche Sprache der Gegenwart' an der RWTH Aachen. Zuvor war er Universitätsprofessor für Sprachdidaktik an den Universitäten Wuppertal und Erfurt.

Prof. Dr. Florian Busch ist Assistenzprofessor für Interaktionale Linguistik und Diskurslinguistik am Institut für Germanistik der Universität Bern. Prof. Dr. Christian Efing ist Inhaber des Lehrstuhls "Deutsche Sprache der Gegenwart" an der RWTH Aachen. Zuvor war er Universitätsprofessor für Sprachdidaktik an den Universitäten Wuppertal und Erfurt.

1 Einleitung
1.1 Zentrale soziolinguistische Begriffe
1.2 Sprachdidaktische Perspektiven auf sprachliche Variation
1.3 Aufbau dieses Bandes
1.4 Weiterführende Literatur

2 Variation und Schreibung
2.1 Schreiben als soziale Praxis: Literalität und literale Praktiken
2.2 Textorientiertes und interaktionsorientiertes Schreiben
2.3 Typen der skriptural-graphischen Variation
2.4 Buchstabenvariation im digitalen Schreiben
2.5 Interpunktionsvariation im digitalen Schreiben
2.6 Digitale Schriftlichkeit als Gegenstand des Deutschunterrichts
2.7 Zusammenfassung
2.8 Aufgaben
2.9 Weiterführende Literatur

3 Variation und Grammatik
3.1 Vorbemerkung
3.2 Grundbedingungen und Besonderheiten mündlicher Kommunikation und gesprochener Sprache
3.3 Flexionsmorphologie
3.4 Varianz im syntaktischen Bereich
3.5 Grammatische Variation zwischen geschriebener und gesprochener Sprache
3.6 Didaktisches Potenzial
3.7 weil-Verbzweitsätze - ein Vorschlag zur Didaktisierung
3.8 Aufgaben
3.9 Weiterführende Literatur

4 Variation und kommunikative Stile - am Beispiel von Ethnolekten
4.1 Kommunikative Stile
4.2 Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit(en)
4.3 Gastarbeiterdeutsch
4.4 Ethnolektale Sprechweisen
4.5 Vorschlag einer Didaktisierung
4.6 Aufgaben
4.7 Weiterführende Literatur

5 Variation und Sprachideologie
5.1 Gesellschaftliche Reflexionen über Sprache und Sprachgebrauch
5.2 Standardsprachideologie
5.3 Methoden der Sprachideologieforschung
5.4 Sprachideologien und Schule
5.5 Zusammenfassung
5.6 Aufgaben
5.7 Weiterführende Literatur

Lösungshinweise zu den Aufgaben
Literatur

1.1 Zentrale soziolinguistische Begriffe


Mit sprachlicher Variabilität als Eigenschaft natürlicher Sprachen beschäftigen sich verschiedene sprachwissenschaftliche Disziplinen. So lässt sich einerseits aus einer systemlinguistischen Perspektive nach einer „sprachsystematische[n] Erklärung grammatischer Varianten“ (Hennig 2017: 25) fragen. Beispielsweise ließe sich so unter die Lupe nehmen, welchen „Einfluss [die] lautliche[…] und morphologische[…] Struktur von Substantiven auf die Kennzeichnung des Genitivs [nimmt] (die wichtigsten Varianten sind hier -s und -es)“ (ebd.: 25). Variation wird dann als ein sprachinternes, systemimmanentes Phänomen analysiert.

Andererseits steht dem eine soziolinguistische Perspektive gegenüber, die Variation in Hinblick auf außersprachliche bzw. kommunikative Faktoren beschreibt und damit kontext-bezogene Erklärungsansätze entwickelt. Beispielsweise würde die morphologische Variation der kurzen und der langen Genitivendung von Substantiven (-s und -es) dann mit Blick auf kommunikative Kontexte untersucht werden, um in Erfahrung zu bringen, ob es eine systematische Verteilung gibt, in welchen Situationen Sprecher:innen die lange und in welchen die kurze Endung verwenden. In Betracht kommt hier etwa die Annahme, dass die (In-)Formalität der Kommunikationssituation oder auch die sprachliche Medialität, nämlich ob gesprochen oder geschrieben wird, mit der Variantenwahl zusammenspielen (vgl. Konopka & Fuß 2016: 254).

Die Theorien und Konzepte, die in der Soziolinguistik seit den 1970er Jahren entwickelt wurden, um die zweitgenannte Perspektive auf sprachliche Variation auszuarbeiten, sind äußerst divers und gehen mit der Ausdifferenzierung des Faches in vielfältige soziolinguistische Traditionen einher (für eine hervorragende fachgeschichtliche Darstellung vgl. Spitzmüller 2022). Um uns einen Überblick über die verschiedenen Ansätze zu verschaffen, die auch in diesem Buch eine Rolle spielen werden, können wir vereinfachend zwischen Forschungstraditionen einer strukturorientierten Soziolinguistik und denen einer handlungsorientierten Soziolinguistik unterscheiden.

Als strukturorientiert bezeichnen wir dabei solche Ansätze, denen es darum geht,

  1. Varietäten als strukturelle Subsysteme einer Sprache zu beschreiben und

  2. Variation anhand der Korrelation mit sozialstrukturellen Faktoren zu erklären.

So wollen strukturorientierte Ansätze primär darstellen, wie sich der Sprachgebrauch zwischen Teilen der Bevölkerung unterscheidet. Durchaus in den Blick gerät aber auch die Frage, wie Individuen einer Gesellschaft systematisch variieren, also zum Beispiel gegenüber verschiedenen Adressat:innen unterschiedliche Formen verwenden. Im anglophonen Raum lassen sich Arbeiten der quantitativen Variationslinguistik diesen Erkenntnisinteressen zuordnen (vgl. Labov 1972; Tagliamonte 2008), in der deutschsprachigen Forschung hat sich in dieser Ausrichtung die Varietätenlinguistik etabliert (vgl. Sinner 2014).

Demgegenüber stehen Ansätze einer handlungsorientierten Soziolinguistik, deren Fokus auf den kommunikativen und sozialen Funktionen von Variation in spezifischen Kommunikationskontexten liegt. Diesen Ansätzen geht es weniger um die ‚großen‘ strukturellen Dimensionen einer Gesellschaft, sondern Variation wird auf der Ebene konkreter kommunikativer Ereignisse als kommunikative Ressource in den Blick genommen, mit deren Hilfe Sprecher:innen soziale Bedeutungen und damit soziale Wirklichkeit konstruieren. Disziplinär ist diese Sichtweise in der Ethnographie des Sprechens (vgl. Hymes 1979), der Sprachanthropologie (vgl. Duranti 2009) und auch der Interaktionalen Soziolinguistik (vgl. Gumperz 1982; Hinnenkamp 2018) zuhause. Im Folgenden werden wir beide Perspektiven anhand ihrer zentralen Konzepte kennenlernen.

1.1.1 Konzepte einer strukturorientierten Soziolinguistik


In der germanistischen Varietätenlinguistik hat sich zur Beschreibung der außersprachlichen Faktoren, mit denen sprachliche Variation korrespondiert, in Anschluss an das diasystematische Modell von Coseriu ([1988] 2007: 24f.) vor allem eine Unterscheidung in drei Variationsdimensionen durchgesetzt: Demnach lässt sich Variation danach klassifizieren, ob sie durch

  • diatopische (räumliche),

  • diastratische (sozialstrukturelle) oder

  • diaphasische (situative)

Faktoren erklärbar ist (vgl. auch Sinner 2014: 66). Eine Sprache wie ‚das Deutsche‘ versteht sich nach dieser Auffassung als eine Gesamtheit aus Varietäten, die jeweils durch eine dieser Dimensionen besonders geprägt sind. Häufig ist hierbei von spezifischen Lekten die Rede: Beispielsweise werden Dialekte und Regiolekte als diatopische Varietäten beschrieben, Soziolekte und Ethnolekte gelten als diastratische Varietäten und Funktiolekte (mit Bezug auf die Kommunikationsfunktion des Sprachgebrauchs) sowie Mediolekte (mit Bezug auf das Medium des Sprachgebrauchs) lassen sich als diaphasische Varietäten klassifizieren.

Diese Konzeptualisierung steht innerhalb der Soziolinguistik durchaus auch in der Kritik, da die genannten außerspachlichen Faktoren oftmals viel zu grob sind, um Sprachgebrauch erklären zu können. Was etwa kann man sich angesichts der enormen Vielfalt unterschiedlicher Lebens- und Kommunikationsstile von Jugendlichen als ‚die Jugendsprache‘ vorstellen (vgl. Spitzmüller 2022: 143)? Zudem gilt es zu bedenken, dass tatsächlicher Sprachgebrauch nie nur hinsichtlich einer außersprachlichen Dimension ausgerichtet ist, sondern sich stets in ein Netz unterschiedlicher Dimensionen einfügt. Diese anderen Aspekte geraten allerdings aus dem Blick, wenn man beispielsweise einen Dialekt wie das Ostmitteldeutsche als diatopische Varietät definiert (Wo spricht man Ostmitteldeutsch?), obwohl die jeweiligen Sprachgebrauchsformen durchaus auch eine diastratische Dimension (Wer spricht Ostmitteldeutsch?) sowie eine diaphasische Dimension (In welchen Situationen wird Ostmitteldeutsch gesprochen?) aufweisen.

In der Gesamtheit der Varietäten des Deutschen (in der Varietätenarchitektur, Flydal 1952) kommt der Standardvarietät eine besondere Bedeutung zu.

Als Standardvarietät oder auch Standardsprache verstehen wir eine überregional gebrauchte, normierte und kodifizierte Varietät. Ihre Formen sind also in Nachschlagewerken festgeschrieben. Standardvarietäten entstehen in historischen Prozessen der Standardisierung.

Für das Deutsche liegt etwa ab dem 17. Jahrhundert eine überregionale deutsche Standardsprache zunächst als Schriftsprache vor. Erst ab dem frühen 19. Jahrhundert betreffen institutionelle Bemühungen um Standardisierung auch die mündliche Aussprache: Zunächst findet sich die Normierung der Bühnenaussprache von Theaterschauspieler:innen (vgl. Siebs 1969), später kommt dann dem Sprechen in Radio und Fernsehen ein Vorbildcharakter für die überregionale und formelle Aussprache des Deutschen zu (vgl. Dürscheid & Schneider 2019: 19–21). Sprachliche Standardisierung bedeutet hierbei stets die Minimierung von Variation (sowohl auf Ebene der Lexik, der Grammatik als auch hinsichtlich der Schreibung und Lautung), indem in der Regel pro Variable eine Variante als Standardvariante lizensiert wird.

Auf Grundlage dieser sprachhistorischen Prozesse kommt der Standardvarietät die kommunikative Funktion einer Verkehrssprache zu, derer sich Sprecher:innen bedienen, wenn sie in überregionalen Kommunikationskontexten unauffällig agieren wollen. Zudem ist die besondere gesellschaftliche Stellung des Standards durch seinen Gebrauch in den öffentlichen Medien sowie in (staatlichen) Institutionen fest verankert. Vor diesem Hintergrund spielt die Beherrschung der Standardvarietät auch eine entscheidende Rolle für eine gesellschaftliche Teilhabe. Der Gebrauch des Standards als Varietät, der das größte Maß gesellschaftlichen Prestiges beigemessen wird, ist in vielen gesellschaftlichen Kontexten eine zentrale Voraussetzung, sozial und kommunikativ erfolgreich handeln zu können. Dementsprechend stellt der Standard auch die Zielvarietät in Prozessen der sprachlichen Bildung dar. Da die Standardsprache im Regelfall nicht als Erstsprache erlernt wird, muss sie in formalen Lernprozessen erworben werden.

Der Vorstellung einer völlig einheitlichen Standardvarietät müssen wir jedoch in verschiedener Hinsicht einen Riegel vorschieben: Es lassen sich durchaus Phänomene von Standardvariation beobachten (vgl. Eichinger & Kallmeyer 2008). Einerseits liegt diese vor, wenn mindestens zwei konkurrierende Formen von den Sprecher:innen als standardsprachlich wahrgenommen werden, in den sprachlichen Nachschlagewerken keine eindeutige Standard-Lizensierung zu finden ist und dementsprechend sprachliche Zweifelfälle bestehen (vgl. Klein 2018). Solche Variationsphänomene sind häufig Indikatoren für Sprachwandel im Prozess. Andererseits handelt es sich beim Deutschen um eine plurizentrische bzw. pluriareale Sprache, da für Deutschland, Österreich und die Schweiz zwar große Überschneidungen in dem vorliegen, was als Standarddeutsch gilt, aber jeweils hinsichtlich spezifischer Formen...

Erscheint lt. Verlag 28.10.2024
Reihe/Serie Linguistik und Schule
Verlagsort Tübingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
Schlagworte ethnolekte • Gastarbeiterdeutsch • Kommunikativer Stil • Kommunikative Stile • Soziolinguistik • Sprachideologie • Sprachkritik • Sprachliche Variation • Variationslinguistik
ISBN-10 3-8233-0482-8 / 3823304828
ISBN-13 978-3-8233-0482-1 / 9783823304821
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