Die erste Bindung (eBook)
336 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12381-4 (ISBN)
2 Das Gehirn und das Ich: Ein Überblick
Es ist beeindruckend: Aus der Vereinigung einer einzigen Eizelle und einer einzigen Samenzelle entsteht ein kleiner Mensch. Er hat Augen, eine Stupsnase und ein äußerst kompliziertes Gewebe unter seinem noch flexiblen Schädelknochen. Dieses Gewebe, sein Gehirn, verschaltet sich in einer Weise, dass es nicht nur lebensnotwendige körperliche Funktionen wie Atmung und Herzschlag kontrolliert, Informationen der Außenwelt bewertet und verarbeitet und die Bewegungen des Körpers steuert, sondern auch ein individuelles und eigenständiges Fühlen und Denken hervorbringt. Der kleine Mensch entwickelt Persönlichkeit.
Wie kann dies passieren? Woher weiß die befruchtete Eizelle, was zu tun ist, woher kennt sie die Bauanleitung für den kleinen Menschen?
Ein erster grober Entwurf ist in den Genen gespeichert. Die befruchtete Eizelle besitzt in ihrem Zellkern die gesamte Erbinformation des heranwachsenden Menschen. Sie teilt sich und gibt die genetischen Informationen an alle folgenden Zellen weiter. Die Zelle im großen Zeh des kleinen Menschen ist ebenso über die Produktionsmöglichkeiten von Kopfhaar informiert wie die Zelle in der Nasenschleimhaut oder die gemeine Nervenzelle.
Einige Informationen der Gene sind für alle Menschen gleich. Sie bestimmen etwa, in welcher Weise sich die Zellen bei der Entwicklung des Menschen vermehren oder anordnen und liefern so den erwähnten Bauplan des Menschen. Andere Gene liegen in unterschiedlichen Varianten vor und liefern Anleitungen für individuelle Merkmale, etwa die Haarfarbe, die Nasengröße oder die Form des großen Zehs.
Zurück zur befruchteten Eizelle. Sie beginnt sich zu teilen. Wieder und wieder teilt sie sich, sieht zwischenzeitlich aus wie eine Maulbeere, und schon bald, zu Beginn der dritten Woche nach der Befruchtung, zu einem Zeitpunkt, an dem wir allenfalls ahnen, gerade an der Entstehung neuen Lebens beteiligt gewesen zu sein, bilden sich bereits erste Anlagen der verschiedenen Gewebe des Körpers. Eine dieser Anlagen entwickelt sich einige Tage später zu einem 2–3 mm langen hohlen Rohr. Das hört sich banal an, kennzeichnet jedoch die Entstehung des zukünftigen Nervensystems des fühlenden und denkenden kleinen Menschen (s. Abb. 2.1).
Abb. 2.1: Die Entwicklung des menschlichen Gehirns vom Neuralrohr zum Organ (modifiziert nach Carter 2014).
In der Wand dieses sogenannten Neuralrohres befinden sich die neuronalen Stammzellen. Diese teilen sich und bilden Nervenzellen und Gliazellen. Vergessen sind nun die Informationen zur Herstellung von Kopfhaar, von Proteinen zum Sauerstofftransport oder von kontraktilen Muskelelementen. Man hat sich spezialisiert – Wohnort: Gehirn.
Im hinteren Bereich des Neuralrohres entsteht das Rückenmark, der vordere Teil bringt das Gehirn hervor. Milliarden von Nervenzellen bilden sich und lassen sich an dem für sie vorgesehenen Ort im Gehirn nieder. Für ihren erfolgreichen Einsatz im jungen Gehirn müssen die neu entstandenen Nervenzellen allerdings noch weitere Eigenschaften ausbilden: Sie müssen eine bestimmte Form annehmen, sich auf die Verwendung bestimmter Botenstoffe spezialisieren und vor allem müssen sie sich mit anderen Nervenzellen verbinden, denn im Gehirn geht nichts ohne Teamwork.
Bei jeder Wahrnehmung, jedem Gedanken und jeder Handlung ist ein riesiges Netzwerk von Nervenzellen aktiv. Verschiedene Strukturen unseres Gehirns sind für unterschiedliche Informationen zuständig. Der eine kümmert sich darum, dass wir senkrechte oder waagerechte Balken sehen, ein anderer codiert die Zeitabläufe von Dingen wie Fahrradfahren oder Suppe kochen und wiederum andere sind aktiv, wenn wir Angst haben, Musik hören oder unwillkürliche Laute ausstoßen. Es arbeiten bei der Verarbeitung von Informationen allerdings immer viele Bereiche zusammen. Gemeinsam sind sie dafür verantwortlich, dass wir uns bewegen, dass wir sehen und fühlen. Manche dieser Hirnstrukturen sind tief im Inneren des Gehirns gelegen, andere gehören zur Hirnrinde. Die Hirnrinde (womit ich in diesem Buch immer die Großhirnrinde und nicht die Kleinhirnrinde meine), bezeichnet die eingefaltete graue Schicht von Nervenzellen, die wie ein Mantel die tiefer gelegenen Hirnstrukturen umgibt und die uns auf typischen Hirnbildern wie eine Walnuss erscheint. Die Hirnrinde gilt als Ort besonders komplexer Verarbeitung. Mit ihrer Hilfe können Bilder, Töne, Sprache, Zusammenhänge und Emotionen detailliert erfasst und verarbeitet werden. Dazu später mehr.
Zurück zur Entwicklung. Die junge Nervenzelle (s. Abb. 2.2) hat eine wichtige Aufgabe: Sie muss ein Netzwerk mit vielen anderen bilden. Woher weiß sie, mit wem? Wie einem Erstklässler am ersten Tag in der neuen Schule stehen der Zelle viele potentielle Kameraden zur Verfügung. Mit welchen der anderen Zellen soll sich ihr informationsweiterleitender Fortsatz, ihr Axon, verbinden? Es soll ja nicht die Augenzelle mit der Nasenzelle verbunden werden, und schon gar nicht mit der des großen Zehs. Zunächst einmal bahnt sich das Axon seinen Weg durch das Gehirn und sucht sich grob das Zielgebiet, – so ähnlich, wie der Erstklässler den Gebäudetrakt mit dem Klassenraum. Dieser Vorgang wird genetisch gesteuert. Die Gene geben vor, dass an entscheidenden Stellen des sich entwickelnden Gehirns bestimmte Moleküle ausgeschüttet werden, von denen sich das Axon entweder angezogen oder abgestoßen fühlt – als würden Pfeile an der Wand den Weg weisen. Das wachsende Axon navigiert sich mit seinem vorderen Teil, dem Wachstumskegel, durch das Dickicht von Nerven- und Gliazellen und findet bald das Gebiet, in dem seine Gruppe von Zellkameraden bereits wartet.
Abb. 2.2: Bei einer beispielhaften idealisierten Nervenzelle werden die Informationen in Form elektrischer Erregung entlang des Axons in Richtung der nächsten Zelle transportiert. Chemische Moleküle wie Glutamat oder Dopamin werden in den synaptischen Spalt hinein freigesetzt, binden an passende Rezeptoren der Zielzelle und führen dazu, dass auch in der Zielzelle eine elektrische Erregung entsteht und die Information codiert.
Eine weitere sehr wichtige Eigenschaft, die ausreifen muss, ist die Auswahl eines bestimmten Botenstoffs. Nervenzellen verwenden chemische Botenstoffe, sogenannte Neurotransmitter, um Informationen von einer Zelle an die nächste weiterzuleiten. Sie sind dabei in der Regel auf die Verwendung eines oder weniger Stoffe spezialisiert. Möchte eine Zelle eine Botschaft an die nächste senden, vielleicht, weil herannahende Kissenkonturen erahnen lassen, dass eine schützende Handbewegung nach links oben erforderlich ist, dann werden schnell wirksame Transmitter[1] verwendet, um die Botschaft von einer Zelle an die nächste weiterzugeben und schließlich die Handbewegung auszulösen. Darüber hinaus gibt es Neuromodulatoren, die auf größere Bereiche des Gehirns einwirken, etwa Noradrenalin, Serotonin, Dopamin und Acetylcholin. Diese Moleküle werden freigesetzt, wenn das Gehirn merkt, dass irgendein Reiz aus der Umwelt oder aus dem eigenen Körper besonders wichtig ist, etwa, weil ihm klar wird, dass es sich doch nicht um das erwartete Kirschkernkissen handelt, sondern um die zuvor nur nachlässig verschnürte Windel, die mit hoher Geschwindigkeit aus Kinderhand auf unser Gesicht zurauscht. Diese Reize erfordern, dass nicht nur einzelne Nervenzellen ihre Aktivität ändern, sondern dass der ganze Körper blitzschnell reagiert, man wachsam wird und bereit ist, sofort zu handeln. Die Stoffe werden dann von jeweils einer kleinen Gruppe Nervenzellen produziert und nicht nur an einer einzigen Synapse, sondern gleichzeitig in verschiedenen Bereichen des Gehirns freigesetzt. Ihre Wirkung kann unser gesamtes Fühlen, aber auch unser Denken, Wollen und Verhalten beeinflussen.
Nun ist die junge Nervenzelle am Ort ihrer Berufung und hat einen bestimmten Neurotransmitter, über den sie mit anderen Nervenzellen kommunizieren kann. Riesige Netzwerke miteinander verschalteter Nervenzellen bilden sich. Im letzten Drittel der Schwangerschaft beginnt eine noch weit über die Geburt hinausgehende Phase, in der die Neubildung von Synapsen besonders ausgeprägt ist. Man schätzt, dass fast 40 000 Synapsen pro Sekunde gebildet werden (Tau und Peterson 2010). Das sind 2,4 Millionen Synapsen in der Minute! Auch nach dieser Periode entstehen zahlreiche Synapsen, allerdings nicht mehr in einem vergleichbaren Umfang. Nun könnte man meinen, je mehr die Synapsen miteinander verschaltet werden, desto ausgereifter und klüger würde das Gehirn. Das ist nicht ganz richtig, denn in einem weiteren sehr wichtigen Prozess wird die Anzahl der Synapsen wieder vermindert. Einer zunächst nachlässig ausschweifenden Überproduktion folgt eine umfangreiche und strukturierte Beseitigung vieler Synapsen. So, wie der Erstklässler am ersten Schultag noch eine ganze Reihe potentieller bester Freunde begrüßt, geht auch die Zelle erst einmal Verbindungen mit allen möglichen in Frage kommenden Zellen ein, um sich dann auf einige wenige zu konzentrieren. Je nach Hirnregion tritt die Synapsenbeseitigung im Verlauf von Kindheit oder Jugend auf.
Wie im Klassenzimmer sind es die Erfahrungen, die darüber entscheiden, welche Verbindungen erhalten werden. Gemeinsam mit den Genen bestimmen sie dadurch, wie sich das Gehirn entwickelt.
2.1 Gene und Erfahrungen...
Erscheint lt. Verlag | 16.9.2024 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Baby • Bindung • Bindungsbeziehung • Eltern • Eltern-Kind-Bindung • Entwicklung • erste Lebensjahre • Gehirn • Hirnforschung • Kinder • Kinderbetreuung • Kita • Kita-Betreuung • Kleinkind • Mutter-Kind-Bindung • Neurobiologie • Neurowissenschaften • Persönlichkeitsentwicklung • Psychologie • Säugling • Säuglinge • Soziale Kompetenz |
ISBN-10 | 3-608-12381-4 / 3608123814 |
ISBN-13 | 978-3-608-12381-4 / 9783608123814 |
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