Graswurzelglaube (eBook)

Über neue Formen des Religiösen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
176 Seiten
Kösel (Verlag)
978-3-641-31535-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Graswurzelglaube -  Wolf-Andreas Liebert
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Wo sprießen neue Formen des Religiösen?
Kirchenaustritte, enttäuschte Gläubige, kaum noch religiöse Sozialisation: Es scheint, als sei das große Zeitalter der Religion vorbei, vor allem in Mitteleuropa, wo der Einfluss des Christentums im Sinkflug ist. Wer noch religiös ist, steht fast per se unter dem Verdacht, rückwärtsgewandt und unmodern zu sein. Gleichzeitig zeigt sich, dass Religiöses in den unterschiedlichsten Bereichen unserer vermeintlich durchsäkularisierten Gesellschaft wieder auftaucht, sich Bahn bricht, gar wuchert und eine faszinierende Attraktion entfaltet und zwar völlig unabhängig von den kirchlichen Institutionen.

Genau damit begibt sich Kulturwissenschaftler Wolf-Andreas Liebert auf Tuchfühlung: Er beobachtet Massenveranstaltungen von Eckhart Tolle, analysiert quasi-religiöse Sprechweisen in der Politik und untersucht Spielarten spirituellen Erwachens. Am Ende steht eine differenzierte Schlussfolgerung: Das Zeitalter der Religion ist keineswegs vorbei, unsere entzauberte Moderne hat vielmehr den Boden dafür bereitet, dass das Religiöse neu und anders sprießen kann. Das ist Gefahr und Chance zugleich.

Ein Buch, das einerseits ein Plädoyer fürs Religiöse hält, das uns hilft, als Gesellschaft zusammenzuhalten, andererseits eine Warnung formuliert vor extremistischen Denk- und Sprechweisen und spirituellem Zerfall.

Prof. Dr. Wolf-Andreas Liebert, geb. 1959, ist Sprach- und Kulturwissenschaftler an der Universität Koblenz. Er ist Co-Leiter der Domäne Religion im 'Netzwerk Sprache und Wissen' der Universität Heidelberg und veröffentlichte zahlreiche Artikel zur Sprache neuer spiritueller Bewegungen sowie zur Sprache des religiösen und politischen Extremismus (u.a. erschienen im Handbuch Prävention des Bundeskriminalamts).

Totgesagte leben länger

»Tja, der Gott, an den du nicht glaubst, ist sagenhaft gut zu mir gewesen.«

Dolly Parton1

Ist die Religion nicht einfach tot? Es vergeht doch kein Monat, in der wir nicht wieder von einer neuen Welle von Kirchenaustritten lesen. Und die Wissenschaften scheinen dies zu bestätigen, indem sie von einer zunehmenden Säkularisierung2 und dem Bedeutungsverlust der Religion in unserer Gegenwart ausgehen. Aber ist das wirklich so? Erscheint es uns vielleicht nur so, weil wir aus einer europäischen Sichtweise darauf blicken?

Schauen wir zunächst, wie die These einer immer weiter um sich greifenden Säkularisierung so einflussreich geworden ist.

Ein wesentlicher Faktor dafür war eine Reihe einflussreicher Denker, die den Untergang der Religion zugunsten einer säkularen Lebensweise behauptet und befürwortet haben. Für Karl Marx etwa war Religion das »Opium des Volkes«, eine Droge, mit der man sich Traumwelten vorgaukelte, um das Elend der Arbeitswelt aushalten zu können. Für Sigmund Freud war religiöses Erleben lediglich eine nicht bewusste, sehr frühe Kindheitserinnerung. Damit war Religion für ihn lediglich eine »Illusion«. Für den Soziologen Max Weber (1864 – 1920) führten Rationalisierung und Verwissenschaftlichung zu einem kollektiven Glauben an eine totale wissenschaftliche Erklärbarkeit der Welt, in der durch bloße Berechnung alles bis in die letzten Winkel menschlicher Regungen kontrolliert werden kann und jegliches magische oder religiöse Denken dadurch ausgeschlossen ist. Er nannte dies »Die Entzauberung der Welt«. Und schließlich gab Friedrich Nietzsche Gott selbst den Todesstoß: »Gott ist tot«, so lautet sein bekanntester und auch heute noch meist zitierter Satz. Aus diesem Denken entstand im 19. und 20. Jahrhundert etwas Neues: ein programmatischer Atheismus.

Natürlich gab es atheistische und verwandte Denkansätze schon viel früher, zum Beispiel bei den sogenannten »Skeptikern« in der Antike.3 Neu beim modernen Atheismus war nun jedoch die Programmatik, die mit aller Härte des wissenschaftlich geschulten Verstandes zeigen wollte, dass Religion in grundsätzlicher Weise belanglos, überholt und sogar von Übel ist und – wenn sie nicht von allein verschwindet – abgeschafft werden muss.

Dieser programmatische Atheismus hat sich mit dem wissenschaftlichen Denken und der Aufklärung verbunden, sodass diese heute wie untrennbar zusammengehörig wirken. Ein einflussreicher Protagonist dieses programmatischen Atheismus im 20. Jahrhundert war der Nobelpreisträger Bertrand Russell. Sein berühmter Vortrag aus dem Jahr 1927 »Warum ich kein Christ bin« muss damals für viele ein Weckruf gewesen sein:

»Die ganze Gottesvorstellung ist eine aus den alten orientalischen Despotien abgeleitete Anschauung. Es ist eine für einen freien Menschen völlig unwürdige Haltung. Wenn Sie hören, wie die Leute in der Kirche sich selbst erniedrigen und sagen, sie seien elende Sünder und das ganze andere Zeug, dann ist das einfach nur beschämend und eines Menschen, der sich selbst achtet, nicht würdig.«4

Drastische Worte, doch sprach Russell damit vielen Menschen aus der Seele, die sich selbst nun als Vertreter der Moderne auf der Seite der Zukunft wahrnahmen und die Religion im 20. Jahrhundert nur noch als vormoderne Schlacke eines ausgebrannten Christentums ansahen, die nach und nach vertrocknete. Die Säkularisierungsthese war der Ausdruck dieser humanistischen Fortschrittsutopie. Das Christentum wurde dabei – aus heutiger Sicht undenkbar – mit Religion insgesamt gleichgesetzt.

Die Annahme, dass die Religion in der Moderne keine Rolle mehr spielt, ist mittlerweile in der Wissenschaft sehr umstritten. Es hat sich vieles ereignet, was ihr eklatant widerspricht. Seit einiger Zeit denkt man deshalb darüber nach, ob dem Religiösen nicht doch mehr Bedeutung zukommt, als noch vor wenigen Jahrzehnten prophezeit. Und spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 durch die islamistische Terrorgruppe al-Qaida ist klar: Religion, in ihrer schlimmsten Ausprägung als politisch-religiöser Fundamentalismus und Fanatismus, ist wieder auf der Weltbühne präsent und wird auch nicht so schnell verschwinden. Für den Philosophen Jürgen Habermas ist klar, dass uns das in eine »postsäkulare Gesellschaft« katapultiert hat, in der wir das Verhältnis von Religion und Wissenschaft neu definieren müssen – auch wenn der Bedeutungsverlust der traditionellen christlichen Kirchen und die zunehmende Zahl von Menschen ohne Konfession in Europa unbestrittene Tatsachen sind.5

Zugleich wandelt sich auch die religiöse Kultur: Einerseits erhalten fundamentalistische Religionen aller Art weltweit Zulauf und nehmen starken Einfluss auf die Politik. Vielleicht denkt man hier zuerst an Theokratien wie die Islamischen Republiken Iran oder Pakistan, also Gottesstaaten, in denen Staat und Religion eine Einheit bilden, doch zeigen sich solche Tendenzen auch in demokratisch und wissenschaftlich geprägten Ländern wie Indien oder den Vereinigten Staaten.

In den Vereinigten Staaten hatte beispielsweise der ehemalige und jetzt wieder zur Wahl stehende US-Präsident Donald Trump einen religiösen Beraterstab einberufen, zu dem auch der radikale Evangelikale John Hagee zählte. Seine Tele-Gottesdienste bestehen aus einer professionell gemachten Mischung aus Lebensberatung, Heilungsritual und politischem Aktivismus. Bekannt wurde Hagee, als er Homosexuelle aus New Orleans für den Hurrikan Katrina, der die Stadt besonders hart traf, verantwortlich machte. Diese größte Naturkatastrophe in der Geschichte der Vereinigten Staaten bezeichnete er als Strafe Gottes für deren Homosexualität. Ebenso dankte John Hagee in einer irrwitzigen Logik Gott dafür, dass er Hitler erschaffen habe, denn das habe dazu geführt, dass der Staat Israel entstehen konnte, und dies sei die notwendige Voraussetzung, damit dann dort der seit zweitausend Jahren angekündigte Messias erscheinen könne. Dadurch würden dann auch alle dort lebenden Juden und Jüdinnen auf einen Schlag zum Christentum bekehrt.6 Zum »republikanischen Hauspastor« aufgestiegen, war er eine Zeit lang weniger gefragt, bis ihn die republikanische Trump-Herausforderin, die ehemalige Gouverneurin von South-Carolina und UN-Botschafterin Nikki Haley in den Präsidentschaftswahlkampf 2024 einband.

Andererseits entstehen neue, vielfältige Formen von Religiosität, die sich selbst gar nicht als religiös bezeichnen, aber viele Merkmale von religiösem Leben tragen. Manchmal nennen sie sich spirituell, manchmal geben sie sich aber auch keine bestimmte Bezeichnung. Beispiele finden sich überall im Alltag: Sie brauchen nur die Tageszeitung aufzuschlagen und können dort lesen, dass Fritz Wepper in seinem schwarzen Meditationskimono und seiner Mala begraben werden wollte, da dies »Symbole des Loslassens« seien. Eine Mala ist eine buddhistische Handkette, um die Anzahl der Mantren zu zählen ähnlich wie ein christlicher Rosenkranz. In der Spalte daneben sinniert Jimi Blue Ochsenknecht über höhere Mächte und Karma:

»Er wisse zwar nicht, ob man diesen Zustand ›religiös‹ nennen sollte. ›Aber ich glaube auf jeden Fall an etwas‹, sagte Ochsenknecht. Auch daran, dass es ›etwas Höheres‹ gebe, das uns beobachte.«7

Ochsenknecht spielte 2024 den Judas im österlichen RTL-TV-Spektakel »Die Passion«, sodass man zunächst PR-Motive hinter diesem Interview vermuten kann. Allerdings lässt sich sein Statement nicht nur auf Filmmarketing reduzieren, denn diese Art von einfachem, selbst verfasstem Bekenntnis ist typisch für unsere Zeit. In der wissenschaftlichen Statistik verbergen sich solche Einstellungen, wie sie auch Ochsenknecht äußert, dann in der wachsenden Gruppe der Konfessionslosen und werden damit unsichtbar.

Gegenwärtig gibt es eine kaum überschaubare Zahl informeller religiöser Netzwerke und Zirkel, die ein spirituelles Leben in weitgehender Unverbindlichkeit ermöglichen. Es herrscht die sogenannte »Selbstermächtigung des religiösen Subjekts«8, bei der Menschen ihren Glauben ohne Rückversicherung der religiösen Institutionen selbst zusammenpuzzeln.

Und nicht nur das, denn dieser individuelle Glaube wird dann als der »bessere« gegenüber den traditionellen religiösen Institutionen behauptet, häufig im Gestus emotionaler, empörter Abgrenzung oder Abwertung dieser Institutionen.9 Es gibt viele Menschen, die sich als »Erwachte« bezeichnen und sich als »Lehrer« anbieten. Ein Beispiel dafür ist der »spirituelle Lehrer« Eckhart Tolle, der Versatzstücke verschiedener Religionen und Traditionen zu einem eigenen Glauben zusammenfügt, um diesen dann den traditionellen Religionen »um die Ohren zu schlagen«. Tolle ist wie ein Symbol für die spirituelle Szene der Gegenwart, sodass wir uns in einem eigenen Kapitel damit beschäftigen werden.

Der neue informelle und unverbindliche Zugang zum religiösen Erleben hat aber auch die traditionellen Religionen verändert. Besonders auffällig ist dies beim Buddhismus, der sich im 20. Jahrhundert weit in die westliche Kultur geöffnet hat. Am bekanntesten sind dabei der Zen-Buddhismus und der tibetische Buddhismus, prominent vertreten durch ihr Oberhaupt, den Dalai-Lama. Im Kontakt mit der westlichen Kultur sind neue Formen entstanden, die das formalisierte...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
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ISBN-10 3-641-31535-2 / 3641315352
ISBN-13 978-3-641-31535-1 / 9783641315351
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