Die Deutschen in der Welt (eBook)

Siedler, Händler, Philosophen: Eine globale Geschichte vom Mittelalter bis heute
eBook Download: EPUB
2024
1008 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-28491-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Deutschen in der Welt - David Blackbourn
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Wie lebten Deutsche in Minnesota, in Südaustralien, in Liverpool oder im brasilianischen Rio Grande, wie prägten sie die dortige Kultur, zum Guten und zum Schlechten?
Wer deutsche Geschichte erzählt, bewegt sich zumeist in den Grenzen der Staatsnation, oder konzentriert sich auf die deutsche Gewaltherrschaft und Eroberungsgeschichte des 20. Jahrhundert mit ihren Folgen bis heute. David Blackbourn beweist mit seinem augenöffnenden Buch, wie kurz diese Perspektive greift. Er wählt einen globalen Ansatz und zeigt, wie seit rund fünfhundert Jahren Menschen, Güter, Erfahrungen und neue Ideen aus Deutschland in vielfältiger Weise mit der ganzen Welt verbunden waren. Blackbourn blickt nach Amerika und Asien, nach Afrika und ins restliche Europa, er erzählt Geschichten von Händlern und Missionarinnen, von Siedlern und Wissenschaftlerinnen, Entdeckern, Denkern und Söldnern. Ein überraschender, grandios erzählter neuer Blick auf Deutschland, der zeigt, dass man nicht nur eine Weltgeschichte der Spanier, der Franzosen oder der Engländer schreiben kann - sondern auch eine faszinierende deutsche Geschichte aus globaler Sicht.

Mit zahlreichen Abbildungen

David Blackbourn, geboren 1949, ist seit 2012 Cornelius Vanderbilt Distinguished Chair of History an der Vanderbilt University in Tennessee. Zuvor war er Coolidge Professor of History an der Harvard University und dort Leiter des Minda de Gunzburg Center for European Studies. Er ist einer der führenden Historiker, die sich mit der Entstehung des modernen Deutschland beschäftigen. Sein zusammen mit Geoff Eley veröffentlichtes Buch 'Mythen deutscher Geschichtsschreibung' (1980) entfachte eine Debatte um den deutschen 'Sonderweg'. Blackbourns 2007 bei DVA erschienene Studie 'Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der Deutschen Landschaft' wurde von der Kritik begeistert aufgenommen.

Einleitung


In Schlagzeilen ist ständig von Deutschlands Platz in der Welt die Rede: »Deutschland nimmt 1 Million syrische Flüchtlinge auf«, »Deutscher Axel-Springer-Verlag will Politico kaufen«, »Türkisch-deutscher Regisseur gewinnt Golden Globe« und – natürlich – »Deutschland macht sich für die Ukraine stark«. Nachdem Donald J. Trump zum US-Präsidenten gewählt worden war, wurde Bundeskanzlerin Angela Merkel häufig als »Führerin der freien Welt« bezeichnet. Wenn man die Idee, dass Nationen »Marken« seien, so abscheulich sie ist, akzeptiert, dann befindet sich die Marke Deutschland auf einem Höhenflug. Auf dem Anholt Ipsons Nation Brands Index belegte es 2021 zum siebenten Mal hintereinander den ersten Platz.

Aber es gibt auch eine dunklere Seite, die sich ebenfalls in Schlagzeilen wiederfindet: »Deutschlands China-Problem« verweist auf ein Konfliktfeld, auf dem Handel, Geopolitik und Moral aufeinanderprallen, und »USA klagen sechs Personen an, während Volkswagen 4,3-Milliarden-Dollar-Vergleich zustimmt« bezieht sich auf einen Skandal um einen der deutschen Blue-Chip-Konzerne. Zudem hat Volkswagen als im Dritten Reich gegründetes Unternehmen eine befleckte Vergangenheit. Man liest regelmäßig von Beispielen dafür, wie die NS-Vergangenheit einen Schatten auf die Gegenwart wirft. »Deutschlands zweitreichster Klan entdeckt dunkle Nazivergangenheit«, erfuhr man 2019. Gemeint war die Familie Reimann, deren Milliarden heute aus dem Verkauf von Krispy-Kreme-Donuts, Jimmy-Choo-Schuhen und Calvin-Klein-Parfüm stammen. Aber es ist nur recht, darauf hinzuweisen, dass die Familie Reimann, wie vor ihr Volkswagen, Historiker beauftragt hat, zu erforschen, was ihre Vorfahren getan haben. Diese Bereitschaft ist ein erkennbares, ja prägendes Merkmal des heutigen Deutschlands, das von vielen als Musterbeispiel für Vergangenheitsbewältigung angeführt wird.

Mein Buch schaut aus globaler Perspektive auf Deutschland. Man stelle es sich als eine neue deutsche Geschichte für ein globales Zeitalter vor. Eine solche Geschichte wird dringend gebraucht. Neu ist sie insofern, als die vielfältigen Verbindungen zwischen den deutschsprachigen Ländern in Mitteleuropa und der weiten Welt im Mittelpunkt meiner Darstellung stehen und nicht nur am Rande behandelt werden. In diesem Buch geht es um die Bewegung von Menschen, Gütern und Ideen in den letzten fünf Jahrhunderten. Ich zeige, wie Deutsche, im Guten wie im Schlechten, als Akteure in der Welt aufgetreten sind, und untersuche, welche Auswirkungen dies im Innern hatte. Zugleich betrachte ich das Spiegelbild davon, die Nichtdeutschen, die in deutsche Lande kamen, um sie zu erobern oder dort zu arbeiten oder zu studieren, und die Kulturpraktiken, die sie mit sich brachten. Im Folgenden tritt ein buntes Tableau von Menschen auf: Händler und Missionare, Musiker und Bergbauingenieure, Studenten und Wissenschaftler, Entdecker und Soldaten, Auswanderer und Exilierte. Auch einige nichtmenschliche Geschöpfe spielen eine Rolle: Pflanzen und Tiere, absichtlich nach Deutschland gebrachte, die in botanischen oder zoologischen Gärten eine neue Heimat fanden, ebenso wie invasive und Epidemien verursachende Arten, die als blinde Passagiere ins Land kamen.

Über ein Buch wie das vorliegende nachgedacht habe ich das erste Mal zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Damals erschien die Idee, aus dem nationalen Rahmen herauszutreten, gewagter als heute, da das Wort »global« zum Klischee geworden ist und das Adjektiv »transnational« als akademischer Gemeinplatz in Förderanträge eingestreut wird, um sie aufzupeppen. Die frühen Verfechter einer übernationalen Geschichtsschreibung sahen sich als Herausforderer des Zeitgeists, dementsprechend scharf war ihre Sprache. Es war die Rede davon, »Geschichte vor der Nation zu retten«[1]. Zeitgenössische Ereignisse trugen sicherlich zu dieser Abwendung von einer eng national gefassten Geschichtsschreibung bei. Die Globalisierung unterstrich die Bedeutung grenzüberschreitender Bewegungen, Ströme, Austausche und Netzwerke – alles Begriffe, die für uns alltäglich geworden sind. Dazu können wir die gegenwärtige postkoloniale Abrechnung mit Reich und Rasse hinzufügen. Debatten über die Rückgabe von Museumsbeständen wie den Benin-Bronzen, einschließlich der nach Hunderten zählenden im Berliner Ethnologischen Museum, haben die Art und Weise, wie wir über europäische Geschichte nachdenken, ebenso beeinflusst wie die Tatsache, dass europäische Großstädte eine erhebliche Zahl nichtweißer Einwohner haben. Dass sie dort – oft an den Rand gedrängt und entfremdet – leben, ist eine Folge des Imperialismus. Diese Diskussionen haben die britische, französische und niederländische Geschichte in vielversprechende neue Kanäle gelenkt. Und Deutschland? Es besaß nur kurze Zeit ein Kolonialreich, von 1884 bis 1918, aber lange genug, um in Afrika zwei völkermörderische Kriege zu führen, die manche Historiker mit dem Holocaust in Zusammenhang gebracht haben.[2] Kolonien hatten zudem einen Platz in der deutschen Vorstellungswelt, und zwar lange bevor es sie in der Realität gab und lange nachdem sie verschwunden waren. Die koloniale Dimension der deutschen Geschichte verdient die Aufmerksamkeit, die sie jetzt erhält und die ihr in meinem Buch zuteilwird.

Als ich anfing, über dieses Buch nachzudenken, reagierte ich zum Teil auf Entwicklungen wie diese, denn alle Geschichte ist Gegenwartsgeschichte. Aber Geschichte folgt auch einem eigenen Rhythmus. Was mich wirklich dazu brachte, es zu schreiben, war die Frage, wie es wäre, eine Geschichte zu schreiben, welche die Nation nicht als selbstverständlichen Rahmen hinnähme. Ich war lange von der Idee fasziniert, »mit Maßstäben zu spielen«.[3] Wenn man mit stärkerer Vergrößerung auf einen Ort oder ein Ereignis schaut, entdeckt man Dinge, die vorher unsichtbar waren. Aber auch umgekehrt: Wenn man sehr große Prozesse in den Blick nimmt, werden bisher verborgene Muster erkennbar. Diese beiden Alternativen zum nationalen Rahmen, die Mikro- und die Makroperspektive, schließen einander nicht aus. »Das Weltweite schafft das Lokale nicht ab«, stellte der französische Philosoph Henri Lefebvre fest.[4] In diesem Buch treten die beiden Perspektiven häufig gemeinsam auf, gewissermaßen als die Version eines Historikers davon, was Geschäftsleute Globalisierung nennen.

Lassen Sie mich ein Beispiel anführen. Mich interessieren die Feinheiten des grenzüberschreitenden Warenverkehrs, weil sie so vielsagend sind. Man denke etwa an das Quecksilber, das im 16. Jahrhundert in Spanien unter der Aufsicht eines deutschen Handelshauses gewonnen, auf Spezialschiffen über den Atlantik gebracht und auf Mauleseln die Bergpfade hinauf zu den Minen von Potosí transportiert wurde, wo man mit seiner Hilfe Silber aus Gestein löste. Das Silber wurde dann nach Europa verschifft, wo es den lokalen Handel befeuerte, oder es wurde auf »Manila-Galeonen« auf die Philippinen gebracht und verband so die europäischen, amerikanischen und asiatischen Handelsströme. Dieses Buch ist voller Waren – von Pfeffer und anderen Gewürzen über Diamanten und Perlen bis zu Kaffee, Zucker, Tabak und den übrigen »Kolonialwaren« des 19. Jahrhunderts und schließlich zu der Fülle von Autos, Waschmaschinen und sonstigen Produkten aus der Traumwelt der Reklame des 20. Jahrhunderts. Wenn man ihren Weg von ihrem Ursprungsort bis zum Ort des Konsums verfolgt, erfährt man viel über Status, Macht, Geschlecht und anderes, von Wissenschaft bis Mode. Auch die Abwehr von Waren ist vielsagend. Lange vor der berüchtigten Autarkiepolitik der Nationalsozialisten gab es eine Ablehnung von Pfeffer und anderen Gewürzen im 16., von Kaffee im 18. und von importiertem Getreide und Fleisch im 19. Jahrhundert. In diesem Buch erfahren Sie, warum.

Auch Menschen überquerten Ländergrenzen. Im 19. Jahrhundert verließen fünfeinhalb Millionen Deutsche ihr Land und schufen eine globale Diaspora. Ich habe zu rekonstruieren versucht, was es bedeutete, in einem der »Kleindeutschlands« in den USA, in Südaustralien oder Rio Grande do Sul in Brasilien zu leben. »Massenauswanderung« war die Summe Tausender Einzelentscheidungen. Sie kam nicht zufällig in Gang, sondern war von Wirtschaftszyklen verursacht und durch Kettenmigration geformt, das heißt, Menschen aus bestimmten Gegenden in Deutschland gingen in bestimmte Gegenden im Ausland, und andere folgten ihnen. So kamen viele der Deutschen im englischen Liverpool aus Württemberg, was zu einer spektakulären Vermischung zweier ausgeprägter Dialekte geführt haben muss. Als immer mehr Menschen weggingen, begannen Nationalisten ihren »Verlust« zu beklagen und sie als »Auslandsdeutsche« zu bezeichnen statt als »Auswanderer«. Bewahrten sie ihr »Deutschsein«? Das hing davon ab, woher sie kamen, ob sie sich in einer Stadt oder auf dem Lande niederließen, ob sie einer eng verbundenen religiösen Gemeinschaft angehörten, wie alt sie waren und ob sie verheiratet oder alleinstehend waren. Was daraus entstand, ist häufig schwer einzuordnen. Was für eine Sprache ist es zum Beispiel, wenn Deutsche, die sich in Australien niederließen, davon sprachen, jemand würde »seinen Foot downputten«?

Die Antwort lautet: eine Hybridsprache. »Hybridität« ist einer der nützlichsten Begriffe, wenn es darum geht, kulturelle Kontakte zu beschreiben, wie sie in der einen oder...

Erscheint lt. Verlag 13.11.2024
Übersetzer Klaus-Dieter Schmidt
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 2024 • Aufklärung • Auswanderung • Dichter und Denker • die eroberung der natur • Dreißigjähriger Krieg • eBooks • Exil • Geschichte • Globalgeschichte • Heiliges Römisches Reich • Humboldt • Kant • Kindergarten • Kolonialismus • Missionare • Nationalsozialismus • Neuerscheinung • Philosophie • Reformation • Revolution 1848 • Siedler
ISBN-10 3-641-28491-0 / 3641284910
ISBN-13 978-3-641-28491-6 / 9783641284916
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