Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters und der Lebensspanne -  Jutta Kray,  Julia Karbach,  Nicola Ferdinand

Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters und der Lebensspanne (eBook)

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2024 | 1. Auflage
205 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-038426-2 (ISBN)
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Wie entwickeln sich Menschen über die Erwachsenenlebensspanne hinweg betrachtet? Die menschliche Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess, der nicht nach dem Jugendalter beendet ist. Gerade die Entwicklungspsychologie des Erwachsenen- und Seniorenalters hat in den letzten Jahrzehnten einen rasanten Aufschwung genommen. In diesem Lehrbuch werden Theorien und empirische Befunde zur kognitiven, emotionalen und motivationalen Entwicklung bis ins hohe Alter, deren Beeinflussung durch neuronale und kulturelle Faktoren sowie deren Veränderbarkeit durch kognitive Interventionen dargestellt. Neben den historischen, theoretischen und methodischen Grundlagen wird der Fokus auf die Entwicklung ab dem frühen Erwachsenenalter gelegt.

Jutta Kray ist Professorin für Entwicklung von Sprache, Lernen und Handlung an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken. Julia Karbach ist Professorin für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU). Nicola K. Ferdinand ist Professorin für Psychologie mit dem Schwerpunkt Neurokognitive Entwicklung und Verhaltensregulation an der Bergischen Universität Wuppertal.

1          Historische und theoretische Grundlagen


Orientierungsfragen


•  Welche Ideen und Vorstellungen hatten wichtige Wegbereiter des Lebensspannenansatzes über die Entwicklung des Menschen?

•  Was ist der zentrale Gegenstand der Psychologie der Lebensspanne?

•  Wie unterscheidet sich die heutige Definition von Entwicklung vom traditionellen Entwicklungsbegriff?

•  Was sind die zentralen theoretischen Konzepte des Lebensspannenansatzes?

1.1          Historische Perspektive


Die Psychologie der Lebensspanne betrachtet den ontogenetischen Entwicklungsverlauf, d. h. die Veränderung im Verhalten und Erleben von der Konzeption bis zum Tod. Betrachtet man die Psychologie als sehr junge wissenschaftliche Disziplin, die sich in den letzten 150 Jahren als eigenständiges Fach etabliert hat, so zeigt sich ein gewisser Fokus auf die Erforschung des Kindes- und Jugendalters, vor allem bei nordamerikanischen Vertretern des Faches. Erweitert man jedoch die historische Perspektive, in der einzelne Fachdisziplinen weniger stark separiert und differenziert betrachtet wurden, so ergibt sich ein anderes Bild. In dem vorliegenden Kapitel werden zunächst einige wichtige Wegbereiter des Lebensspannenansatzes mit ihren Vorläuferideen vorgestellt. Anschließend wird dargestellt, welche Rolle der Lebensspannenansatz in der heutigen Entwicklungspsychologie spielt und mit welchen theoretischen Leitlinien er verbunden ist.

1.1.1         Vorläufer und Wegbereiter der Psychologie der Lebensspanne


Als wichtigster Wegbereiter und Gründer des Lebensspannenansatzes in der Entwicklungspsychologie gilt Johann Nicolaus Tetens ( Abb. 1.1), der mitunter als Begründer der Entwicklungspsychologie überhaupt angesehen wird (Lindenberger & Baltes, 1999; siehe Fokus: Zur Person). Sein zentrales Werk Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung wurde 1777 veröffentlicht, aber leider nicht in die englische Sprache übersetzt und fand somit lange Zeit keine größere Beachtung. Sein Hauptwerk gliedert sich in zwei Bände, wobei entwicklungspsychologische Überlegungen vor allem im letzten Kapitel Über die Perfektibilität und Entwi ckelung des Menschen dargelegt werden. Die Bedeutung dieses Kapitels spiegelt sich u. a. darin wider, dass dieses Kapitel ein Drittel seines Gesamtwerkes umfasst.

Fokus: Zur Person


Nicolaus Johann Tetens wurde 1736 in Tetenbüll im damaligen Herzogtum Schleswig (heute Eiderstedt in Nordfriesland) geboren. Er studierte 1754 in Kopenhagen und von 1755 bis 1759 in Rostock Mathematik, Physik und Philosophie. In Rostock promovierte er im Jahr 1760 und lehrte an der Universität Rostock zunächst als Privatdozent. Als Professor für Physik und Philosophie lehrte er dann ab 1763 an der Akademie Bützow und wurde 1776 auf eine Professur für Mathematik und Philosophie an die Universität Kiel berufen. Hier entstand auch sein Hauptwerk. Im Jahr der Französischen Revolution 1789 beendete er seine akademische Laufbahn und wechselte nach Kopenhagen, wo er als Staatssekretär der Finanzdirektion in der dänischen Regierung tätig war. Als dänischer Konferenzrat verstarb er 1807 in Kopenhagen. Er galt als führender Denker und Begründer einer empirisch fundierten Psychologie in Deutschland, der mit seinen philosophischen Versuchen das Denken bekannter Zeitgenossen wie Emmanuel Kant nachhaltig beeinflusste.

Wieso sehen Vertreter der Entwicklungspsychologie Tetens als Begründer der Psychologie der Lebensspanne? In seinen philosophischen Abhandlungen werden Kernthemen heutiger theoretischer Konzeptionen des Lebensspannenansatzes vorweggenommen, die im nächsten Kapitel ( Kap. 1.2) ausführlicher beschrieben werden. Zu zentralen Aufgaben der Entwicklungspsychologie, die Tetens wissenschaftlich betrachtet hat, gehören u. a.:

•  die Erforschung der Optimierung und somit der Veränderbarkeit menschlicher Entwicklungsverläufe sowie deren Beschreibung und Erklärung

•  die Bestimmung interindividueller Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der menschlichen Entwicklung

•  die Berücksichtigung der Interaktion von Anlage- und Umwelteinflüssen als Ursache von interindividuellen Entwicklungsveränderungen

•  die Betrachtung der Ontogenese unterschiedlicher psychischer Funktionsbereiche über die gesamte Lebensspanne von der Kindheit bis ins hohe Alter

•  die Berücksichtigung historischer und kultureller Faktoren in die Entwicklung psychischer Funktionen über die Lebensspanne

•  die Beschreibung von Gewinnen und Verlusten und deren wechselseitige Beziehung, beispielsweise die Kompensation sensorischer Defizite im Alter mittels erhöhter Anstrengung im kognitiven Bereich

•  die Unterscheidung zwischen absolutem und relativem Vermögen, die mit alterssensitiven und altersresistenten intellektuellen Fähigkeiten einhergeht ( Kap. 5.1)

•  die Erforschung der Grenzen kognitiver Plastizität mit zunehmendem Alter

Friedrich August Carus (1770–1808) war deutscher Philosoph und Psychologe, der sehr jung verstarb und dessen Werke erst posthum veröffentlich wurden. Seine Schriften und Ideen fanden keine weitere Verbreitung, obwohl er als Erster ein Buch zur Geschichte der Psychologie anfertigte. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive ist sein zweibändiges Buch Psychologie von Interesse, in dem er wie Tetens als einer der Ersten die Entwicklung über die gesamte Lebensspanne betrachtet, die er in vier Phasen unterteilte: Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Greisenalter. Auch Carus betonte die Gleichzeitigkeit von Verlusten und Gewinnen, die mit dem Greisenalter verbunden sind. Altern ist demnach nicht nur durch sensorische Defizite und kognitive Beeinträchtigungen gekennzeichnet, sondern auch mit zunehmender Reife der Persönlichkeit und perfektem Menschsein. Seine Forderung, die Möglichkeit der Veränderbarkeit in Abhängigkeit der Lebensumstände zu untersuchen, gleicht den Ideen von Tetens zur kognitiven Plastizität. Carus betrachtete zudem Altern als einen Prozess, der aufgrund nachlassender Fähigkeiten zunehmend durch Spezialisierung und Fokussierung gekennzeichnet ist.

Der belgische Mathematiker und Statistiker Adolphe Quetelet (1796–1874) ( Abb. 1.1) wurde bekannt durch seine Arbeiten auf dem Gebiet der Sozialstatistik, als deren Begründer er gilt. Quetelet (2013) erforschte die Verteilung menschlicher Charakteristika, wie körperliche Merkmale (z. B. Brustumfang) sowie soziale und moralische Eigenschaften (z. B. die Neigung zur Kriminalität), die schließlich zur Entdeckung der Normalverteilung führte. Sein 1842 veröffentlichtes Werk A treatise on Man and the Development of his Faculties beinhaltete eine Vielzahl an gesammelten Daten zu demographischen, psychologischen und körperlichen Merkmalen, die die gesamte Lebensspanne umfassen. Neben seiner Betrachtung von Lebensspannenveränderungen kommt Quetelet der Verdienst zu, methodische Herausforderungen bei der Bestimmung von altersbedingten Veränderungen erkannt und benannt zu haben. Dazu gehören die Probleme bei der Betrachtung querschnittlicher Analysedesigns und die Forderung, mehrere Altersstichproben zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu untersuchen ( Kap. 2.3). So können Einflüsse historischer Ereignisse und des gesellschaftlichen Wandels auf Entwicklungsverläufe besser kontrolliert werden.

Zusammengenommen haben vor allem Tetens, aber auch Carus und Quetelet bereits vor über 150 Jahren grundlegende, theoretische und methodische Beiträge zur Psychologie der Lebensspanne geliefert, auch wenn ihre wissenschaftlichen Arbeiten zunächst nur wenig Beachtung fanden.

1.1.2         Die weitere Entwicklung bis in der Gegenwart


Als sich die Entwicklungspsychologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts als eigene Fachdisziplin etablierte, war sie stark von dem Zeitgeist wissenschaftlicher Forschung in Nordamerika und anderen europäischen Ländern, allen voran England, geprägt. Beeinflusst von der Genetik und der Evolutionstheorie Charles Darwins war die Konzeption des Entwicklungsbegriffs auf Zugewinne aufgrund biologisch determinierter Reifungs- und Wachstumsprozesse ausgerichtet und so wurde in Nordamerika die neue Fachdisziplin überwiegend als Kinderpsychologie definiert (vgl. Lindenberger, 2007).

Als Ausnahme kann der amerikanische Psychologe G. Stanley Hall (1844–1924) ( Abb. 1.1) benannt werden, der aufgrund seiner Arbeiten...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Entwicklungspsychologie
ISBN-10 3-17-038426-0 / 3170384260
ISBN-13 978-3-17-038426-2 / 9783170384262
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