Frei ohne Willensfreiheit (eBook)
224 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-4061-8 (ISBN)
Fritz Kalberlah, geboren 1948, ist promovierter Wirtschaftsingenieur und Humantoxikologe; er lebt in Freiburg im Breisgau, ist verheiratet und hat zwei Töchter. Der Zugang zur Philosophie mag schon in Schulzeiten im altsprachlichen Gymnasium in Bad Homburg angelegt sein. Der Autor beschäftigte sich seither mit Themen der Ethik in der persönlichen Lebensgestaltung und in der politischen Umsetzung. Auch die wissenschaftlichen, beruflichen Arbeiten spiegeln aus Sicht von Fritz Kalberlah fachübergreifend seine Persönlichkeit. Mit seinem Hintergrund als Quereinsteiger in die Philosophie versucht er dem Streit der Schulen um die Willensfreiheit eine neue Tür zu öffnen, indem er ungewohnte Gedankenwege beschreitet.
1 Wie alles anfing … und die Folgen
Das Glas Wasser
Es begann mit einem Alltagskonflikt des Beziehungslebens. Meine Frau stellte mir fürsorgend ein Glas Wasser auf den Tisch. „Du solltest mehr trinken!“ Ich bemerkte erstaunt, dass ich doch selbst auf mich achten und meine Trinkmenge selbst bestimmen wolle. Wenig später brachte sie wieder ein Glas Wasser. Ich fühlte mich zunehmend gefangen in der Fürsorge und machte ihr Vorwürfe.
Konnte sie denn nicht anders? Ich durfte ja davon ausgehen, dass sie mich nicht ärgern wollte. Und trotzdem! Offensichtlich obsiegte bei der Willensbildung meiner Frau ihr ausgeprägtes eingeprägtes Fürsorgeprogramm, nicht das Wissen um meine Allergie gegen freundliche Übergriffe, nicht das Vertrauen in meine Selbstverantwortlichkeit, nicht die Einsicht in die Ineffektivität ihrer Fürsorge, da ich oft tagelang, wenn wir uns nicht begegnen, ohnehin über die Trinkmenge allein entscheiden würde.
Diese Erfahrung (und einige ähnliche andere, bei denen ich mir auch selbst auf die Schliche kommen wollte, warum ich mich für jene und keine andere Handlung entscheide) brachte mich zum grundlegenden Nachdenken, wie es denn um unsere Willensfreiheit bestellt sein dürfte, wenn ein „handlungswirksames Wollen“ (als Ergebnis des Willensbildungsprozesses) entsteht.
Je mehr ich mich damit auseinandersetzte und auch die Gedanken in der philosophischen Literatur auf mich wirken ließ, desto mehr kam ich von der Idee der Existenz einer Willensfreiheit ab und erkannte, dass wir nur so unseren Willen bilden, wie unsere Bedingtheit uns das erlaubt (also unter anderem unsere Prägung mit der verinnerlichten Wertewelt).
Dies führte bei mir zu mehr Leichtigkeit, meine Bedingtheit und die meiner Frau und anderer Menschen anzunehmen. Der Vorwurf „Wie kannst du nur immer wieder übergriffig ein Glas Wasser auf den Tisch stellen?“ verblasste. Ich durfte lernen, mich einerseits deutlich von Verhalten, das ich nicht gut finde, abzugrenzen, andererseits der Person mit anderen Vorstellungen deshalb keine Vorwürfe zu machen, sie deshalb nicht abzuwerten und Respekt vor dem unterschiedlichen Wesen der anderen zu gewinnen. Denn das Argument: „Natürlich hättest du auch anders handeln können!“ hatte sich für mich als ein Irrtum erwiesen.
Bringt meine Frau nun manchmal ein Glas Wasser, weicht die Entrüstung öfter einem gemeinsamen Lächeln: „So sind wir, da begegnen wir uns mal wieder in unseren Unterschiedlichkeiten!“. Bisweilen fehlt mir geradezu unser Code „Trinkst du auch genug?“, wenn die Frage ausbleibt. Öfter lernen wir auch dazu und freuen uns dann daran, dass wir Gleiches oder Ähnliches wollen.
Ein Gedanke führte zum nächsten, bis ich mich schließlich entschloss, diesen Essay „Frei ohne Willensfreiheit“ zu schreiben, um die Gedanken zu teilen, vielleicht mit der Idee anzustecken und um weitere Anregungen zu einer verblüffend spannenden Thematik zu bekommen.
Ein übliches Gespräch
Als ich im Kaffeehausgespräch sagte, dass nach meiner Sicht kein freier Wille existiere, grinste mein Gegenüber mit ironischem Ton: „Und du hast dir natürlich nicht freiwillig ausgesucht, dass du heute mit mir hier an diesem Cafétisch plauderst und dass du gerade Kaffee und nicht Tee trinkst?!“ Mein Antwortlächeln war etwas süßsauer, weil diese Bemerkung mich in fast allen Diskussionen zum Thema schnell entwaffnen soll – nach dem Motto: „Es ist schon reichlich absurd, was du mir mit dieser These der fehlenden Willensfreiheit auftischen willst und somit allenfalls eine liebenswerte gedankliche Spielerei – das sagt uns doch schon der gesunde Menschenverstand!“.
Nachdem wir diese Hürde überschritten haben – ja, das kommt durchaus vor –, sind es oft Argumente zum Gerechtigkeitsempfinden, die mir entgegengehalten werden: „Und dann ist der Mörder nicht mehr schuld an seiner Tat – ohne freien Willen kann er ja nichts dafür und wird mit diesem Hinweis von der Anklagebank aufstehen und eine Strafwürdigkeit von sich weisen – er ist ja angeblich unfrei, also nicht verantwortlich für sein Handeln!“
Bisweilen gelingt es mir, auch bei dieser Thematik zumindest den Brustton der Überzeugung aus dem Gespräch aufzulösen, der etwa so klingt: „Ohne Willensfreiheit funktioniert schon unsere freiheitliche demokratische Grundordnung nicht mehr mit dem rechtsstaatlichen Prinzip der Anerkennung von Verantwortung, Schuld und Strafwürdigkeit!“
Wenn es also möglich wird, auch in diesem Punkt mehr Differenzierung und Nachdenklichkeit zu wecken, folgt bisweilen der Hinweis auf die (scheinbar) notwendige Konsequenz des Fatalismus: „Und wenn alles schon vorgegeben (determiniert) ist, dann sind wir ja alle nur Marionetten; dann kann ich mich auch aufs Sofa setzen und muss mich nicht mehr bemühen – es kommt ohnehin alles so, wie vorherbestimmt. Das ist doch keine nützliche Haltung zu den Herausforderungen des Lebens, selbst wenn ich natürlich zugebe, dass Willensfreiheit nicht beweisbar ist!“
Und wenn unser Gespräch, liebe Leserin/lieber Leser, nicht diesen üblichen Verlauf nehmen und nicht vorzeitig auf einer der skizzierten Stufen mit Grinsen, Kopfschütteln oder Resignation enden soll, dann wäre es aus meiner Sicht hilfreich, diesen Essay weiterzulesen. Denn diese häufigen, spontanen Reaktionen werden aufgegriffen und etwas genauer angeschaut. Ich freue mich auf dieses Gedanken-Gespräch mit Ihnen!
Widersprüchliches Interesse
Ja – es ist wahrlich kein brandneues Thema, das ich aufgreifen möchte. Die vorliegenden philosophischen Betrachtungen haben auch nach Jahrhunderten kein abschließendes Ergebnis gebracht und jedes Jahr erscheinen neue Publikationen zur ungelösten Fragestellung: Gibt es nun einen freien Willen oder doch nicht?
In einer interdisziplinären Analyse zur Willensfreiheit fand ich einen bezeichnenden Satz aus dem dreizehnten (!) Jahrhundert, der bereits die Unauflösbarkeit des Problems für alle Zeiten prognostizierte:
„Es gibt einen Disput [der weitergehen wird] bis die Menschheit von den Toten aufersteht, zwischen den Necessitariern und den Partisanen des freien Willens“, Dschalal ad-Din Rumi1.
Für mich sind drei Gründe erkennbar, warum dieser Diskussion heute bei uns im Lebensalltag einerseits in der Regel keine hohe Bedeutung zugemessen, andererseits aber dann, wenn sie denn geführt wird, zumeist heftig und polemisch geführt wird:
Erstens haben sich viele Menschen innerlich bereits entschieden, dass sie die Existenz von „Willensfreiheit“ annehmen, weil sie ein festgelegtes Freiheitsgefühl in ihrem Weltbild verankert haben, zum Beispiel: „Ich kann in die Berge oder ans Meer zum Urlaub fahren, also bin ich frei“ oder „jede Person hat, wenn sie nicht krank ist, natürlich den inneren freien Spielraum, unsere Gesetze einzuhalten oder zu verletzen“. Diese scheinbare Bestätigung einer Willensfreiheit ist tief in unserem kulturellen Verständnis verankert. Damit empfinden viele eine Diskussion zu diesem Thema als reichlich akademisch. Für das praktische Leben werden philosophische Grundsatz-Fechtereien als irrelevant eingeordnet. Die Sache ist doch klar! Genervte Reaktionen oder Desinteresse am Thema können die Folge sein. Wir werden sehen, dass die Sache ganz und gar nicht „so klar“ ist, und zwar auch konkret – nicht nur akademisch!
Zweitens: wenn aber doch diskutiert wird, liegen die Heftigkeit wie auch die häufige Unterbewertung der zentralen Bedeutung des Themas Willensfreiheit in der aktuellen Debatte daran, dass wir alle es gewohnt sind, unsere eigenen Denkgewohnheiten für selbstverständlich oder natürlich anzunehmen und nicht darauf zu achten, dass beim Anderen bisweilen eine konträre Position ebenso als selbstverständlich und natürlich angesehen wird. Oft ergibt sich ein Streit, bei dem den jeweils anderen vorgeworfen wird, sie würden „zu kurz“ denken, „geradezu absurde“ Annahmen treffen, sollten einmal ihren „gesunden Menschenverstand“ anwenden, und die anderen würden zu wenig Mühe aufwenden, bestimmte Argumente zu hinterfragen. All diese Anwürfe finde ich auch in Fachbüchern professioneller philosophischer Autoren. Es wird also keine Schlussfolgerung daraus gezogen, dass es bei solchen philosophischen Fragestellungen oft mehrere Wahrheiten gibt, die alle Respekt verdienen und vielleicht – bei Verlassen der gewohnten, eigenen Denkgewohnheit – wertvolle Bereicherungen für unser eigenes Verständnis der Anderen und von uns selbst bedeuten könnten.
Und drittens: Wenn jemand von Willensfreiheit spricht, steht in der Wahrnehmung meist der Begriff „Freiheit“ im Vordergrund, wobei recht unterschiedliche Definitionen dieses Begriffs vorliegen und in unseren gedanklichen Assoziationen verankert sind. So lässt sich trefflich aneinander vorbeireden und wahlweise streiten oder die Thematik als irrelevant abtun, weil wir jeweils über unterschiedliche Dinge, unterschiedliche...
Erscheint lt. Verlag | 9.7.2024 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Esoterik / Spiritualität |
Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Allgemeines / Lexika | |
Schlagworte | Authentizität • Determinismus • Handlungsfreiheit • Selbstreflexion • Universalismus |
ISBN-10 | 3-7597-4061-8 / 3759740618 |
ISBN-13 | 978-3-7597-4061-8 / 9783759740618 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,1 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich