Hochfunktionaler Autismus bei Erwachsenen -  Isabel Dziobek,  Sandra Stoll

Hochfunktionaler Autismus bei Erwachsenen (eBook)

Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Manual
eBook Download: EPUB
2024 | 2. Auflage
200 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043083-9 (ISBN)
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Mangelnde soziale Kompetenz führt bei Personen mit hochfunktionalem Autismus und Asperger-Syndrom dazu, dass sie trotz normaler Intelligenz den Anforderungen im privaten und beruflichen Umfeld nicht gewachsen sind. Anhaltender Stress, der häufig in Depressionen und Angststörungen mündet, ist die Folge. Dies ist das erste deutschsprachige Manual, das auf die einzelpsychotherapeutische Behandlung dieser Klientel fokussiert. Zahlreiche Zitate, Erfahrungsberichte und Dialoge von Betroffenen vermitteln anschaulich das klinische Störungsbild.

Prof. Dr. Isabel Dziobek ist Professorin für Social Cognition an der Berlin School of Mind and Brain und am Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie hat viele Jahre Erfahrung in der einzelpsychotherapeutischen Behandlung von hochfunktionalen Erwachsenen mit ASS. Im Jahr 2007 hat sie gemeinsam mit Dr. Stoll die Autismus-Ambulanz für Erwachsene der Charité-Universitätsmedizin Berlin aufgebaut. Dr. Sandra Stoll ist Diplompsychologin und approbierte Psychologische Psychotherapeutin. Sie hat langjährige Erfahrung in der Diagnostik und Behandlung von Erwachsenen mit ASS und ist in der Autismus-Ambulanz für Erwachsene der Charité-Universitätsmedizin Berlin, in der Hochschulambulanz der Freien Universität Berlin und in eigener Praxis tätig.

1          Grundlagen


1.1        Diagnose/Symptomatik


1.1.1      Geschichte


Erste Publikationen von Kanner und Asperger

Ohne sich auf die Arbeit des jeweilig anderen zu beziehen, veröffentlichten der Kinderpsychiater Leo Kanner (Kanner, 1943) und der Kinderarzt Hans Asperger (Asperger, 1944) fast zeitgleich ihre Fallbeschreibungen von Kindern mit autistischer Symptomatik. Beide Ärzte verwendeten den Begriff »Autismus« bzw. »autistisch« (αὐτός, Griechisch für »selbst«), um anzuzeigen, dass die Kinder als hervorstechende Wesensart ein Alleinsein bzw. Auf-sich-selbst-bezogen-Sein zeigten. Darüber hinaus beschrieben beide Ärzte ein Beharren auf Routinen und das Beschäftigen mit abnormen Verhaltensweisen und Interessen. Die Beschreibung dieser zwei Verhaltens- und Erlebensbereiche sind als Kernsymptome von Autistischen Störungen in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10 und ICD-11; World Health Organization [WHO], 1992, 2022) und dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen – DSM-5® (American Psychiatric Association [APA], 2013) enthalten. Sowohl Leo Kanner als auch Hans Asperger gingen davon aus, dass sich die Störung von Geburt an manifestiert und eine biologische Ursache hat. Während Kanners Arbeit, die in Englisch verfasst war, schnell ihren Weg in wissenschaftliche Fachkreise und 1978 in die dritte Ausgabe des DSM fand, blieb Aspergers Arbeit bis in die frühen 1980er-Jahren praktisch unbekannt, als Lorna Wing ihre wegweisende Arbeit in einem Artikel beschrieb (Wing, 1981) und ihre Dissertationsschrift schließlich von Uta Frith zehn Jahre später ins Englische übersetzt wurde (Frith, 1991). Kurze Zeit später wurde das sog. Asperger-Syndrom als eigenständige Diagnose in das ICD-10 (WHO, 1992) integriert. In beiden Klassifikationssystemen sind die Autistische Störung und das Asperger-Syndrom unter den sog. Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gelistet. In der Neuauflage des amerikanischen Systems DSM-5 (APA, 2013) wurden sämtliche autistische Störungen, die zuvor als separate Subtypen gelistet waren (u. a. Autistische Störung, Asperger-Syndrom, tiefgreifende Entwicklungsstörung nicht näher bezeichnet) unter die Sammelbezeichnung Autistische Störung (Autism Spectrum Disorder) subsummiert, u. a. weil die Forschung der letzten zwei Dekaden wenig Evidenz für qualitative Unterschiede erbracht hatte (v. a. zwischen dem Asperger-Syndrom und der Autistischen Störung ohne Intelligenzminderung) und die Diagnosen notorisch inkonsistent über die verschiedenen spezialisierten Forschungszentren der USA hinweg vergeben wurden, also als mangelnd trennscharf beurteilt wurden. Das Beibehalten von separaten diagnostischen Kategorien schien somit nicht gerechtfertigt. Auch die neue, 11. Ausgabe des ICD, die 2022 verabschiedet wurde, hat diese Entwicklung aufgenommen und die Diagnose Asperger-Syndrom in einer übergeordneten Diagnose Autismus-Spektrum-Störung aufgehen lassen. Die ICD-11 ist zwar seit ihrem Inkrafttreten am 01.01.2022 grundsätzlich einsetzbar, Deutschland und andere Staaten bereiten die Implementierung in das Gesundheitssystem jedoch noch vor. Erst nach einer flexiblen Übergangszeit von mindestens fünf Jahren soll die Berichterstattung nur noch ICD-11-kodiert erfolgen. Bis dahin gilt, dass bis zu einer Einführung der ICD-11 im jeweiligen Anwendungsbereich die ICD-10 weiterhin die gültige amtliche Klassifikation für Deutschland bleibt. Aus diesem Grund folgt dieses Therapiemanual weiterhin der ICD-10-Klassifikation der ASS.

Frühkindlicher Autismus & Asperger-Syndrom

1.1.2      Diagnosekriterien


Der Frühkindliche Autismus und das Asperger-Syndrom sind im ICD-10 (WHO, 1992) unter den Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gelistet. Diese Gruppe von Störungen verbinden qualitative Beeinträchtigungen in sozialen Interaktionen und Kommunikation und ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Verhaltensweisen. Die qualitativen Auffälligkeiten sind situationsübergreifende Funktionsmerkmale, woraus sich der Begriff »tiefgreifend« erklärt. Um die Diagnose im Erwachsenenalter zu stellen, muss die Symptomatik bis ins Kinderalter zurück verfolgbar sein, was den Diagnostiker häufig vor Schwierigkeiten stellt, vor allem wenn Kindheitsinformationen oder -informanten wie die Eltern nicht verfügbar sind ( Tab. 1.1).

Tab. 1.1: Diagnosekriterien für den Frühkindlichen Autismus und das Asperger-Syndrom, vereinfacht nach ICD-10

Wie in Tabelle 1.1 überblicksartig zu sehen, stimmen die diagnostischen Kriterien für den frühkindlichen Autismus und das Asperger-Syndrom überein bezüglich der qualitativen Beeinträchtigungen in sozialer Interaktion und den begrenzten, repetitiven und stereotypen Verhaltensmustern, Interessen und Aktivitäten. Beim Asperger-Syndrom fehlen die Beeinträchtigungen in der Kommunikation und ferner muss die Entwicklung bezüglich Intelligenz, adaptivem Verhalten und der Sprachfähigkeiten unauffällig verlaufen. Das Asperger-Syndrom kann somit als eine im Kern autistische Störung mit einer geringer ausgeprägten Symptomatik verstanden werden.

Autismus-Spektrum-Störungen

In den letzten Jahren setzt sich auch im deutschsprachigen Raum zunehmend der Begriff Autismus-Spektrum-Störungen durch, der ausdrückt, dass es zwischen unterschiedlichen Varianten von Autismus lediglich graduelle Unterschiede gibt und die qualitative Abgrenzung theoretisch und praktisch schwierig ist.

Hochfunktionaler Autismus

Eine Charakterisierung, die häufig anzutreffen aber nicht offiziell definiert ist, ist die des sog. Hochfunktionalen Autismus (HFA). Hiermit werden solche Fälle mit Frühkindlichem Autismus (F84.0) bezeichnet, bei denen eine durchschnittliche oder überdurchschnittlich hohe Intelligenz vorliegt (IQ > 70), vor dem Kontext der bekannten sozialen und behavioralen Symptome ( Tab. 1.1) sowie der Sprachentwicklungsverzögerung (Vogeley & Remschmidt, 2011). In der Tat ist besonders bei erwachsenen Menschen die Unterscheidung zwischen dem Asperger-Syndrom und HFA schwierig zu treffen. Denn trotz einer per Definition vorliegenden Sprachentwicklungsverzögerung beim HFA entwickeln die meisten Betroffenen schließlich sprachliche Fähigkeiten, die nicht mehr zu unterschieden sind von denen der Menschen mit einer Asperger-Syndrom-Diagnose. In der Praxis kommt es ergo nicht selten vor, dass Patient*innen eine vergleichbare Schwere an Symptomatik bezüglich sozialen Beeinträchtigungen und repetitivem, stereotypem Verhalten und Interessen präsentieren und keine auffällige Sprache sowie ein normales Intelligenzniveau aufweisen. Basierend auf den unterschiedlichen Angaben zur Sprachentwicklung, wird jedoch einer von beiden mit dem Asperger-Syndrom und der andere mit HFA diagnostiziert. Obwohl einige Forscher an einer Abgrenzung der Störungen festhalten und Unterschiede für z. B. motorische Ungeschicklichkeit und Intelligenz postulieren (z. B. Remschmidt, 2000), ist nach Erfahrung der Autorinnen die Unterscheidung für das gesprächsorientierte psychotherapeutische Setting nicht relevant.

Konzeptionalisierung & Neurodiversität

Neurotypisch vs. Autismus-Spektrum-Spezifik (ASS)

Es soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass das Konzept der Störung gerade für den Bereich des hochfunktionalen Autismus und Asperger-Syndroms nicht von allen Klinikern und Betroffenen befürwortet wird. Zunehmend setzt sich die Konzeptionalisierung und der Begriff der Neurodiversität durch, der ein weniger defizitorientiertes Verständnis von ASS transportiert. Nach diesem Verständnis reflektieren viele als psychische Störungen bezeichnete Zustände normale neuronale Vielfalt und sollten daher nicht als Störungen oder grundsätzliches Defizit betrachtet werden. Eine solche Betrachtungsweise erlaubt ein ausgewogeneres Gesamtbild von Menschen mit ASS mit einem offeneren Blick für vorhandene Stärken und Potenziale (vgl. Bölte, 2009). Nach dem Konzept der Neurodiversität werden psychisch unauffällige Personen als neurotypisch bezeichnet, um dem Fakt Rechnung zu tragen, dass sie auf dem Kontinuum neuronaler Vielfalt die Mehrheit repräsentieren, d. h., Personen mit einer typischen Merkmalsausprägung darstellen. Um dieser Sichtweise einer Andersartigkeit Rechnung zu tragen, verwenden wir in diesem Manual daher häufig die Begriffe neurotypisch und Autismus-Spektrum-Spezifik (ASS) . Tatsächlich befürworten wir ein Verständnis von...

Erscheint lt. Verlag 3.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
ISBN-10 3-17-043083-1 / 3170430831
ISBN-13 978-3-17-043083-9 / 9783170430839
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