Grenzen in der und um die Stadt (eBook)
384 Seiten
StudienVerlag
978-3-7065-6429-8 (ISBN)
Andreas Weigl, Univ.-Doz. Dr., Studium der Wirtschaftsinformatik und der Geschichte an der Universität Wien, Dr. rer.soc.oec., 1984-2008: Tätigkeit im Statistischen Amt der Stadt Wien und in der Magistratsdirektion, seit 2001 Univ.-Doz. am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, 2010-2011: Leiter des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Stadtgeschichtsforschung, seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Wiener Stadt- und Landesarchivs, seit 2011: Vorsitzender des Österreichischen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung. Forschungsschwerpunkte: Bevölkerungs-, Stadt- und Konsumgeschichte, Sozialgeschichte der Medizin; 2019: Viktor-Adler-Staatspreis für Geschichte der sozialen Bewegungen. Nikolaus Reisinger, a.o. Univ.-Prof. Dr., Studium der Geschichte, Germanistik sowie Allgemeine und Angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Graz, a.o. Univ.-Prof. am Institut für Geschichte der Universität Graz, Vizestudiendekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät, Leiter des überfakultären Leistungsbereichs Universitätsmuseen der Universität Graz. Forschungsfelder: allgemeine Wirtschafts- und Sozialgeschichte in den Bereichen der Stadtgeschichtsforschung, Technikgeschichte mit dem Schwerpunkt Verkehrs- bzw. Eisenbahngeschichte sowie Umweltgeschichte und Konflikttransformation im Kontext der Friedens- und Konfliktforschung.
Andreas Weigl
Die Stadt und ihre Grenze – Grenzen der Stadt
Stadt versus Land
Aus anthropologischer Perspektive ist die Geschichte des homo sapiens sapiens eine Geschichte der Verstädterung. Wie schwer es auch fallen mag, eine verbindliche Definition von „Stadt“ zu geben, die dem Phänomen sowohl historisch als auch in seiner rezenten globalen Dimension gerecht wird – es gab und gibt viele Arten von Städten –, so ist doch der seit geraumer Zeit vorherrschende Trend einer mehrheitlich in urbanen Agglomerationen lebenden Weltbevölkerung unbestritten und wohl in näherer Zukunft kaum umkehrbar – es sei denn man geht von einem Katstrophenszenario aus. Trotz des vor allem in Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas immer mehr ausufernden, „wilden“ Wachstums von Mega-Cities auf Basis einer Entvölkerung des ländlichen Raumes,1 ja auch des schon im Zeitalter der Früh- und Hochindustrialisierung in Europa zu beobachtenden Ineinanderfließens von Stadtagglomerationen, die für das (Um-)Land kaum mehr Platz lassen – man denke an das Ruhrgebiet – ist bis in die Gegenwart aber eine Dichotomie zwischen „Stadt“ und „Land“ weiterhin evident. Dass innerhalb des besiedelten Raume „alles Stadt geworden ist“, lässt sich längst nicht sagen.2
Das globale Phänomen „Stadt“ hat tiefe, bis in die Jungsteinzeit zurückreichende Wurzeln und spiegelt sich daher auch sprachlich. Es gibt wohl keine Sprache oder Sprachgruppe von Bedeutung, die für die Lebens- und Sozialform „Stadt“ nicht eine entsprechende Begrifflichkeit kennt.3 Damit kann auch von einer entsprechenden mentalen Verankerung eines Stadt-Land-Gegensatzes ausgegangen werden. Eine Dichotomie setzt aber Grenzen und Grenzerfahrungen voraus, auch wenn diese im historischen Verlauf variieren, mehr oder weniger ausgeprägt sein können.
Wenn man die Geschichte der Stadt und ihrer Grenzen behandelt, kommt man notwendigerweise letztlich an einer Definition von Stadt nicht herum. Zwar ist die räumliche Sozialformation Stadt letztlich zweifelsohne ein Synthesebegriff,4 doch scheinen bei aller Verschiedenartigkeit drei Elemente von Stadt konstitutiv: ein umgrenztes Territorium, städtische Einwohner und die wie immer geartete rechtliche Fundierung als Gebietskörperschaft mit einem gewissen Grad an Selbstverwaltung.5 So sehr diese Definition unmittelbar einsichtig scheint, ist sie doch und vor allem auf das europäische Modell von Stadt bezogen, welches seit dem Hochmittelalter besteht. Allein die Tatsache, dass trotz der Eindeutigkeit des Begriffs „limes“ im Lateinischen, die Herkunft von „Grenze“ aus dem Altpolnischen es als Lehnwort im Deutschen ausweist und auch die entsprechenden Begriffe im Englischen und in den romanischen Sprachen jünger sind als man vielleicht glauben würde,6 verweist darauf, dass die Begrenzung der Stadt eine Geschichte hat. Spätantike oder frühmittelalterliche Rechtsverbände stützten sich nur bedingt auf territoriale Grenzen, wurzelten in Personenverbänden. Lineare Grenzen waren allerdings auch dem europäischen Frühmittelalter keineswegs völlig fremd. Man denke an die Grenze von Hufen, von Fluren, an die „Grenzmarken“.7 Die Besonderheit der europäischen Stadt bestand darin, dass sie sich allmählich vom Personenverband zum Territorialverband wandelte. Seit dem 11. Jahrhundert bestimmte zunehmend nicht persönliche Freiheit oder Unfreiheit sondern die ökonomische Selbständigkeit einer Person ihre Zugehörigkeit zur bürgerlichen Stadtgemeinde.8 Und selbst diese behielt nicht dauerhaft ihren unterbürgerliche Schichten exkludierenden Charakter. In der Praxis wurden mehr und mehr alle dauerhaft in einer Stadt lebenden Personen zu Städterinnen und Städtern. Auch wenn das den alteingesessenen bürgerlichen Eliten keineswegs gefiel.
Von der Antike zum Hochmittelalter
Mit Blick auf die Anfänge der europäischen Stadt des Mittelalters lässt sich feststellen, dass diese ganz im Gegensatz zur antiken Stadt durch eine zumindest physisch scharfe Grenzziehung gekennzeichnet war. Das Imperium Romanum wurde bekanntlich von einem flächendeckenden Netz von sich selbst verwaltenden Gebietskörperschaften (civitates/poleis) überzogen.9 Deren als urbs, manchmal auch als oppidum bezeichneten Zentren entwickelten sich – häufig unabhängig von ihrem Rechtsstatus – zu dichtbesiedelten Städten.10 Die civitates bildeten politisch-rechtlich und wirtschaftlich eine Einheit, wobei die Stadt der Ort war an dem administrative und gerichtliche Entscheidungen getroffen, von der aus die abhängige ländliche Umgebung verwaltet wurde. Durch die enge Verflechtung zwischen Stadt und Land ergab sich keine Notwendigkeit für scharfe Grenzziehungen. Vielmehr legitimierten sich Angehörige der lokalen Elite als Schutzherrn für die städtische und ländliche Bevölkerung gemeinsam. Landbewohner besuchten im Alltag städtische Zentren, seien es städtische Märkte, aber auch Theater, Feste und Spiele sowie Thermen.11 Die pax romana verschaffte den Städten im Binnenimperium Sicherheit, die Schutzmauern vielfach entbehrlich machte. Erst der Vorstoß gentiler Verbände auf das innere Reichsgebiet ab dem 3. Jahrhundert sollte dies ändern. Alte Stadtmauern wurden nun reaktiviert, engere Mauerringe um den Stadtkern gezogen, eine Entwicklung, die auch anderswo den verbleibenden antiken Stadtresten den Charakter von „Burgsiedlungen“ verlieh.12 Selbst bei der Gründung von Konstantinopel und der Wahl Ravennas als Herrschaftszentren standen im Osten wie im Westen des Reiches die hervorragenden Verteidigungsmöglichkeiten im Vordergrund.13 In Summe kennzeichnete eine Stadtflucht die Spätantike, auch wenn etwa in Gallien noch im 6. Jahrhundert ein vergleichsweise dichtes urbanes Städtenetz bestehen blieb.14 Zweifellos sorgten aber die 541–750 nicht nur die Küstenstädte heimsuchenden wiederkehrenden Pestwellen, die unter der Bezeichnung „justinianische Pest“ firmieren, neben anderen politischen und ökonomischen Faktoren für einen verheerenden demographischen Rückschlag. Der musste besonders die urbane Bevölkerung treffen, denn diese benötigte ja agrarische Überschüsse des Landes zum Überleben. Angesichts der dünnen Besiedlung des europäischen Kontinents blieben die Wirkungen der Pest freilich lokaler beschränkt und erreichten in Summe sicher nicht die Dimensionen des spätmittelalterlichen „Schwarzen Todes“.15
Die Wehrfunktion der Stadtmauern förderte aber nicht unbedingt eine scharfe Abgrenzung zwischen der intra- und extramuralen Bevölkerung. Dazu trug auch die Verbreitung des Christentums bei, da sich frühe Sakralbauten überwiegend bei den Friedhöfen befanden, die gemäß den römischen Gesetzen außerhalb der Stadtmauern zu liegen hatten. Als „Stadtfeindlichkeit“ des Christentums sind diese allerdings nicht zu deuten. Vielmehr galten Stadtmauern und Türme als res sanctae. Auch extramurale Foederatensiedlungen begünstigten im Alltag Grenzüberschreitungen.16 Eine enge, über die Herrschaft der Bischöfe, die immer häufiger die Stellung von Stadtherren einnahmen, vermittelte Beziehung zwischen Stadt und suburbium blieb im Früh- und Hochmittelalter vielfach bestehen, nicht nur in Norditalien,17 sondern generell im fränkischen Einflussbereich. So umgab etwa die römische Siedlungsfläche in Trier um 800 ein Kranz von Klöstern, die vielfach an der Stelle von Grabbauten errichtet worden waren.18 Der klösterliche Besitz reichte ohnehin häufig weit in das Umland hinaus. Damit waren die Stadtgrenzen überwindende soziale und wirtschaftliche Beziehungen allein aus diesem Umstand heraus gegeben.
Den gentilen Verbänden aus dem Norden und Osten, die in das Imperium eindrangen, blieb das städtische Leben zunächst eher fremd, besonders deutlich im Fall der Langobarden. Dazu steht nicht unbedingt im Widerspruch, dass diese aus strategischen Gründen Verona und Mailand, später Pavia als Residenz ausbauten.19 Auch frühfränkische Adelige konnten mit Burgen als Wohnsitz nichts anfangen. In dieser Beziehung unterschieden sie sich sehr wohl von der gallorömischen Bevölkerung.20 Stadtgestalt und Stadtideal durchliefen auch dadurch in den Nachfolgereichen des Weströmischen Imperiums eine erhebliche Transformation.21
Innerhalb des ehemaligen Territoriums des Westteils des Imperium Romanum entstand im 6. und 7. Jahrhundert ein Nebeneinander alter, stark verkleinerter und umwallter Römerstädte und neuer Burgstädte. Beide Städtetypen näherten sich in ihrem Aussehen und ihrer Funktion immer mehr an.22 Das kam auch in der Namensgebung zum Ausdruck. Verbliebene römische Stadtreste erhielten von den neuen Herren Namen wie Augsburg oder Kolnaburg (Köln).23 Außerhalb des mediterranen Raumes bildeten nun häufig Burgsiedlungen das Pendant zum „flachen Land“. Etymologisch lässt sich die Fortentwicklung der Bezeichnung nichtruraler Orte und Plätze im angelsächsischen England besonders gut nachvollziehen. „Burg“ bei den...
Erscheint lt. Verlag | 2.7.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Kulturgeschichte |
ISBN-10 | 3-7065-6429-7 / 3706564297 |
ISBN-13 | 978-3-7065-6429-8 / 9783706564298 |
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