Das Einhorn (eBook)

Geschichte einer Faszination
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
176 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-27816-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Einhorn -  Bernd Roling,  Julia Weitbrecht
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Alles Einhorn? Vom Wunderallheilmittel der Antike bis zum Symbol der Queer-Bewegung in der Moderne - eine spannende Reise durch die Kulturgeschichte
Aus der Wunderkammer ins Kinderzimmer, vom christlichen Motiv zum Symbol der Queer-Bewegung: Das Einhorn fasziniert die Menschen seit jeher. Während es sich heute als fantastisches Motiv auf T-Shirts tummelt, bestand in der Antike und im Mittelalter kein Zweifel an seiner Existenz. Erst im 17. Jahrhundert wiesen es Naturforscher dem Reich der Fabeltiere zu. Bernd Roling und Julia Weitbrecht erzählen von der bewegten Geschichte des Einhorns. Sie führen uns durch Naturgeschichte und Medizin, Literatur und Kunst, aber auch durch die Medienlandschaft der Gegenwart. Auf unterhaltsame Art zeigen sie: Aus unserer Vorstellungswelt ist das Einhorn nicht wegzudenken - und seine Bedeutung erschöpft sich nicht in dem flauschigen Bild, das die Popkultur heute von ihm entwirft.

Bernd Roling ist Professor für Mittel- und Neulatein an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, unter anderem hat er sich mit Drachen und Sirenen in der Frühen Neuzeit beschäftigt.

Einleitung


Einhorn — Keinhorn — Scheinhorn

Professor Raue-Pritsche […] führte sie an der Koppel vorbei […] und auf einen Baum am Waldrand zu. An den Baum gebunden war ein großes, schönes Einhorn. Viele Mädchen »uuuhten« bei diesem Anblick. »Oooh, ist es nicht wunderschön?«, flüsterte Lavender Brown. »Wie hat sie es gefangen? Das soll ja so unglaublich schwer sein!« Das Einhorn war so gleißend weiß, dass der Schnee um es herum grau schien. Es stampfte nervös mit seinen goldenen Hufen und warf seinen gehörnten Kopf zurück. »Jungen zurückbleiben!«, bellte Professor Raue-Pritsche und ihr ausgestreckter Arm traf Harry hart an der Brust. »Sie ziehen die Hand einer Frau vor, diese Einhörner.«1

Harry Potters viertes Schuljahr in Hogwarts wird vom trimagischen Turnier dominiert, aber für zusätzliche Aufregung sorgen die zunehmenden Differenzen zwischen den pubertierenden Jungen und Mädchen — und die wechselseitige Anziehung, die aus ihnen erwächst, wenn es darum geht, wer nun wen zum Weihnachtsball einlädt. Zum Streitfall in dieser explosiven Phase wird ausgerechnet das Fach »Pflege magischer Geschöpfe«. Es wird zunächst vom ungeschlachten Halbriesen Hagrid unterrichtet, der alle Monster und gefährlichen Kreaturen liebt, besonders Drachen, aber auch die Knallrümpfigen Kröter, die die Schülerinnen und Schüler als Schulprojekt großziehen sollen. Hagrid wird schließlich zum Opfer eines Sensationsartikels, in dem ihm vorgeworfen wird, die Kinder durch den Kontakt mit diesen »grauenhaften Kreaturen« zu gefährden. Dies wird, charakteristisch für die zunehmend bedrohliche Atmosphäre in der Welt der Zauberer, mit rassistischen Anfeindungen aufgrund seiner riesischen Abstammung verbunden. Hagrid wird daher durch Professor Raue-Pritsche abgelöst, die besonders bei den Mädchen in der Klasse Gefallen findet. »Genau so hab ich mir die Pflege magischer Geschöpfe immer vorgestellt […] richtige Tiere wie dieses Einhorn, keine Monster […]«, sagt Parvati Patil im Anschluss an die Stunde zu Harry.2

Man liest mit einigem Abstand die reizvolle, auch irgendwie altmodische Schulgeschichte mittlerweile vielleicht mit einem anderen Blick auf die Darstellung der Geschlechter. Die Autorin J. K. Rowling sieht sich in den 2020er-Jahren mit massiven Vorwürfen der Transphobie und -feindlichkeit konfrontiert. Sie wird als TERF bezeichnet, also als Feministin, die transgender Frauen nicht als Frauen anerkennt, und hat sich selbst immer wieder vehement zu einer Binarität der Geschlechter bekannt. Kritische Lektüren der Harry-Potter-Reihe haben zahlreiche Hinweise auf transphobes Framing erarbeitet, welche die Vorwürfe gegen Rowling stützen sollen. Ob das dem Gegenstand angemessen ist, kann und soll hier nicht erörtert werden. Man könnte aus literaturwissenschaftlicher Perspektive vielleicht einwenden, dass die magische Zauberwelt Harry Potters eigenen Gesetzen der Fiktionalität gehorcht und daher den gesellschaftlichen Konflikten des Spätkapitalismus enthoben ist. Andererseits lädt Rowling selbst die Welt von Harry Potter im Kampf des Guten gegen das ausgrenzende, totalitäre System Voldemorts durchaus mit Bezügen zur historischen Realität ideologisch auf, worin auch ein besonderer Reiz der Reihe für jugendliche wie erwachsene Leserinnen und Leser liegt. Jede Zeit hat ihre eigenen Aufklärungsdiskurse, und was im Jahr 2000, als der vierte Band der Reihe erschien, noch so emanzipiert erschien wie die kluge und mutige Hermine, wirkt heute in Bezug auf die Darstellung der Geschlechter und ihrer schulischen Sozialisierung vielleicht eher ein bisschen betulich, wie auch die harmlosen Pferdemädchen Lavender und Parvati.

Was hat das nun alles mit den Einhörnern und diesem Buch zu tun?

Sehr viel, denn die Darstellung Rowlings ist alles andere als voraussetzungslos. Die Eigenschaften, die Professor Raue-Pritsche ihre Schülerinnen in Hogwarts lehrt und die auch im Spin-off zur Potter-Serie der Phantastischen Tierwesen eine Rolle spielen, gehen auf Vorstellungen zurück, die man sich seit der Antike vom Einhorn gemacht hat und um die es in den folgenden Kapiteln gehen wird.3 Dazu gehört etwa, dass sein Horn ein wirksames Gegenmittel gegen Gift darstelle, dass Einhornblut Heilkräfte besitze und dass das Tier sehr scheu sei und sich nur von einer Frau einfangen lasse.

Im Aussehen dagegen weist das in Harry Potter beschriebene Tier alle Merkmale eines »modernen« Einhorns auf: ein anmutiges pferdeähnliches Geschöpf mit einem gewundenen Horn auf der Stirn, das allen romantischen Seelen ein spontanes »Ahhh« entlockt. Ältere Menschen verbinden diese Darstellung vielleicht auch noch mit dem Animationsfilm »Das letzte Einhorn« von 1982 nach der Buchvorlage Peter S. Beagles, die 1968 erschien. Das gleißend weiße Tier ähnelt auch den unzähligen gehörnten Wesen, die in den letzten Jahren auf Rucksäcken, T-Shirts, Bettwäsche und Handyhüllen aufgetaucht und in der Masse schier explodiert sind. Diese modernen, hübschen Einhörner sind kommerziell enorm erfolgreich: Für schlappe 249 Euro kann man, wie man bei »Kalkofes Mattscheibe« erfährt, auf AstroTV ein Einhorn Super Set XXL inklusive »Ritualzubehör« und Einhorn-Spray erstehen, mit dessen Hilfe die Einhörner aus dem Reich der Legenden »wieder« zurück in unseren Alltag kommen und diesen »zum Leuchten bringen«.4

Kommerz verbindet sich hier mit einem besonderen Heilsversprechen, das auch zahlreiche Formen neuer Religiosität auf das Einhorn projizieren: Veranstalter von »Einhorn-Sommercamps« und »Einhorn-Meditationen«, die das Tier als spirituellen Energielieferanten anzapfen wollen, berufen sich auf die schamanische und in jeder Hinsicht heilende Kraft des Einhorns, ja sie erheben die Begegnung mit ihm zu einem regelrecht kultischen Ereignis. Viele dieser meditativen Entgrenzungen erinnern an klassisches Channeling und an Varianten der Engelmagie, wie sie die Esoterik seit Jahrzehnten begleiten, doch verwundert es doch, dass unser gehörntes Tier für manche Menschen fast im Alleingang imstande ist, die Sehnsucht nach Sinngebung zu stillen. Wer das fast kindliche Leuchten in den Augen einiger der Erwachsenen sieht, die an vergleichbaren Kursen teilnehmen, dem fällt es schwer, sich uneingeschränkt über diese Menschen zu amüsieren. Ihr Glaube an die spirituelle Heilkraft der Tiere zeigt jedenfalls, wie groß der Wunsch nach Sinngebung und Erfüllung ist.

Sich selbst für ein inkarniertes Einhorn zu halten, ist für die Verfasserin von Auf dem Einhornpfad. Die Reise zu meinem Seelenursprung, Julia Jannsen, ein aufrichtiges Bekenntnis. Mit gleicher Überzeugung verspricht die Amerikanerin Diane Cooper, man könne aus den »Begegnungen mit den erleuchteten Wesen der siebten Dimension« direkten Nutzen für das eigene Seelenleben ziehen. Die Autorin hat noch in diesem Jahr eine Magie der Einhörner folgen lassen, doch liegen seit Jahren schon Dutzende von Lebenshilfen vor, die das Einhorn auf dem Titel führen. Auch Sonja Ariel von Staden, deren Youtube-Kanal zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Buchs 51.000 Follower hat, zeugt von der esoterischen Erfolgsgeschichte der spirituellen Einhörner. Sie inspiriert, malt und schreibt mit enormer Intensität und Frequenz seit mehr als zwei Jahrzehnten im Bereich der neuen Religiosität. Das Einhorn findet bei ihr seine Heimat zwischen Sternentoren und Engel-Botschaften. Mit Gesang begleitete Meditationsübungen, die den Kontakt zu den »Einhörnern der Weisheit« in Aussicht stellen, Amulette, Kartensets, Gemälde, T-Shirts, Tassen, Video-Botschaften, die DVD Einhörner: Vom Mythos zum Begleiter und der jährliche Engel- und Einhorn-Kalender vereinigen sich zu einem Ensemble, das alle medialen Segmente abdeckt. Angemerkt sei auch, dass die Bepreisung dieser Artikel sich in diesem Umfeld zumindest nachvollziehbarer gestaltet als im Fall des Einhorn Super Set XXL. Sonja Ariel von Stadens eigene Monografie zum Thema, die unter dem Titel Das Einhorn als Beschützer und Begleiter für die Neue Zeit firmiert, liefert zunächst eine historische Einleitung des...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte Antike • Aristoteles • AstroTV • Aufklärung • Aussatz • Christentum • Das letzte Einhorn • Drache • Einhorn-Emoji • Einhorn-Hype • Eskapismus • Fabelwesen • Fantasy • Faszination • Gemälde • Geschichte • Harry Potter • Heilkraft • Hildegard von Bingen • Horn • Jungfrau • Keuschheit • Kulturgeschichte • Kunst • Kunstgeschichte • Legende • leibniz • Martin Luther • Mittelalter • My Little Pony • Mythos • Narwal • Nashorn • Naturgeschichte • Naturkunden • Neuzeit • Pest • Pferd • Phönix • Physiologus • Plinius • Queer • Renaissance • Sage • Stoßzahn • Tafelbild • The Last Unicorn • Unsterblichkeit • Wandteppich • Wollnashorn • Wunderkammer • Zentaur
ISBN-10 3-446-27816-8 / 3446278168
ISBN-13 978-3-446-27816-5 / 9783446278165
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