Ein einziger Grashalm -  Henry Shukman

Ein einziger Grashalm (eBook)

Den Weg zum Herzen finden - Ein Zen-Memoir
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
384 Seiten
Arbor Verlag
978-3-86781-393-8 (ISBN)
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Ein Zen-Memoir von Henry Shukman Der erfolgreiche Romancier und Poet Henry Shukman legt in ­diesem ergreifend geschriebenen Memoir Rechenschaft ab über seinen persönlichen Heilungsweg. Aus einem ­intellektuellen, ­agnostischen Elternhaus in Oxford stammend, ist ihm alles andere vorgezeichnet als eine spirituelle Ankunft Jahrzehnte später als Leiter eines buddhistischen Zen-Zentrums in New Mexico und einer der angesehensten westlichen Zen-Meister weltweit zu ­werden. Verwirrende Offen­barungserlebnisse, Krankheit, ­Zweifel und ­Abwege zeichnen seinen allzu menschlichen Weg - aber ­immer ­getragen von einem offenen Herzen für die tiefe Poesie der Welt und die Schönheit des Lebens. Die ganz persönliche Perspektive führt uns zugleich unvergleichlich besser ins Herz dessen, worum es bei Zen wirklich geht. Keine äußerliche Beschreibung des Zen-Weges könnte jemals leisten, was hier verständlich wird. Bescheiden und zugänglich, aber sprachlich brillant und literarisch mitreißend teilt Henry Shukman seinen Werdegang mit uns und hinterlässt mit diesem Vermächtnis vor allem eines: Trost und ­Gemeinschaftlichkeit bei unser aller fehlbaren Suche nach uns selbst und dem, was wirklich zählt im Leben.

Prolog


Es war der dritte oder vierte Abend des Retreats. Draußen prasselte der Regen, peitschte gegen die dunklen Fenster, und manchmal klirrte es, als ob jemand eine Handvoll Kies gegen die Scheiben geschleudert hätte.

Regen in der Wüste ist rar, und ein Segen, und der prickelnde Geruch von feuchtem Staub schwängerte allmählich die Luft in der Meditationshalle. Auch eine erfrischende Kühle war von draußen hereingekrochen.

All dies nahm ich wahr, aber vor allem war mir bewusst, dass ich endlich in einen Zustand von Ruhe und Klarheit geglitten war. Es war eine willkommene Erlösung. Den ganzen Tag über hatte ich mir richtig schwer getan. Mühselige, quälende Gedankenketten hatten sich durch mein Gehirn gewunden – über einmal getroffene Lebensentscheidungen, dass ich ein gutes Leben in England aufgegeben hatte, um nach New Mexico zu ziehen, dass ich meinen Vorstellungen davon, ein guter Vater zu sein, oder ein aufmerksamer Ehemann, in vielerlei Hinsicht nicht gerecht geworden war, über Herausforderungen in der Arbeit, schwierige Gespräche aus den letzten paar Wochen oder vergangenen Jahrzehnten, alles war genau in dem Moment über mich hereingebrochen, als ich so dringend innere Ruhe gebraucht – oder mir jedenfalls gewünscht – hätte. Es gab alle möglichen Arten, sich zu martern, wenn man in der Meditation hilflos festhing, aber die Tatsache, dass ich die meisten davon inzwischen kannte, schien keinerlei Hilfe zu sein.

Das Retreat-Zentrum lag in den Hügeln oberhalb des abgelegenen Städtchens Gallup im Westen New Mexicos. Gallup war eine staubige, in der Wüste ausgebreitete Kleinstadt, verschlafen, mit Ausnahme der Züge. Zufällig war es nämlich auch ein Eisenbahnknotenpunkt, und den ganzen Tag über war, zwangsläufig immer dann, wenn sich meine Gedanken gerade ein wenig zu beruhigen begannen, das langgezogene, tiefe Hupen eines Zugs die Hügel heraufgeschallt und hatte mich jäh wieder aus der sich sacht anbahnenden Sammlung gerissen. Von Neuem trieben mich Attacken von Unbehagen und Bedauern um, begleitet von Spannungen und Druck in meinen Eingeweiden – wie die Gewitterwolken, die vermutlich gerade draußen über den Nachthimmel zogen.

Doch jetzt hatte sich all das verwandelt. Stattdessen stieg, in der Kühle des Saals und der nach Kreide riechenden Luft des Wüstenregens, eine leuchtende Ruhe in mir auf, sickerte nach oben wie das Wasser der anschwellenden Flut durch nassen Sand, und machte mich hellwach, vollkommen still und tief entspannt. Als ob mein gesamter Körper die schlichte Tatsache seines Existierens genoss. Ich spürte, wie sich meine Wahrnehmung immer mehr weitete, wie die Blende einer sich öffnenden alten Kamera. Gleichzeitig erfasste mich ein komisches Gefühl, wie es manchmal in vertiefter Meditation passiert, als würde ich von beiden Seiten zusammengedrückt und mit jeder Sekunde dünner und länger, bis ich so schlank und rank war wie der Stängel einer Blume und das Gefühl hatte, jeden Moment abzuknicken.

Dann fokussierte mein Blick auf die Wand vor mir – eine Wand aus Lehmziegel – „adobe“ genannt –, die im Schein einer Lampe ­schimmerte. Eine tiefe Liebe für diese Wand wallte in mir auf, fast als würde ich mich in die Wand verlieben und sie sich in mich. Urplötzlich, mit der Unmittelbarkeit eines Erdstoßes, schien sich der ganze Saal komplett zu öffnen und ins Unendliche auszudehnen, und mir war, als würde ich in diesen grenzenlosen Raum hineingesogen und würde Teil davon, so dass die Wüstenberge draußen, die sich nach Gallup hinunter in das zwei Meilen entfernte Tal und darüber hinaus erstreckten, mein eigener Körper waren.

Eine intensive Energie durchströmte mich und die Welt, und ich spürte Tränen über mein Gesicht rinnen – Tränen der Liebe, der Freude, der Dankbarkeit. Es stimmte, was die Buddhisten sagten: Ich war eins mit der Welt. Ich war eins mit allem. Die ganze Welt war mein Körper, mein Geist. Und deshalb war ich geliebt, zugehörig, geheilt auf jede erdenkliche Weise. Alles war gut und war insgeheim immer schon gut gewesen.

Der Klang der Glocke verkündete das Ende der Meditationseinheit, und in mir beruhigte sich alles und wurde wieder normal, außer einem Kribbeln in meinen Gliedmaßen und einem Gefühl großer Ausdehnung, als wäre mein Geist ausgelöscht worden und ein grenzenloser Friede an seine Stelle getreten.

Dann musste ich mich um das Zimmer für die Einzelgespräche des Lehrenden kümmern, und der Abend ging weiter, und noch immer prasselte der Regen auf das kleine Retreat-Zentrum, trommelte auf das Dach, erfüllte die Luft mit diesem Duft von Verheißung. Aber ich wusste: Diesem Zen konnte ich trauen. Irgendwie war es einfach völlig richtig. Es war real, und es funktionierte. Trotz vieler gelegentlicher Zweifel – ich war auf einem wahrhaftigen Weg.

***

Einmal besuchte ich einen Vortrag der Engländerin Tenzin Palmo über ihre zwölf Jahre in einer abgelegenen Höhle im Himalaya. Die Isolation war Teil ihres buddhistischen Trainings gewesen. Jemand aus dem Publikum fragte, wie es sich angefühlt habe, danach wieder in die Welt hinaus zu gehen.

„Gut“, antwortete sie. „Entweder ist man gekocht oder nicht.“

„Wie weiß man, ob man gekocht ist?“, wollte die Zuhörerin wissen.

„Man weiß es einfach. Man ist gar.“

Sie überlegte kurz und fügte hinzu, sie habe von Leuten gehört, die dasselbe zwölfjährige Training in einer Höhle absolviert hatten und am Ende nicht „gar“ waren. Aber wenn man es war, dann war man’s – und mehr gab es dazu nicht zu sagen.

Man kann in der Welt der Meditation diesen Eindruck gewinnen: dass Menschen sich ganz normal hineinbegeben, dann in der Mitte irgendetwas passiert, etwas Unergründliches, Unbeschreibliches, das sich der gewöhnlichen Sprache der Sterblichen entzieht, und dass diese Menschen am Ende neu, verändert, „gar gekocht“ wieder daraus hervorkommen.

Ich wohnte eine Zeit lang nahe des Städtchens Stroud in Gloucestershire, England. Dort gab es ein Café, in dem ein Druck an der Wand hing, ein Triptychon mit drei Bildern von einem Berg. Das erste Bild war ganz schlicht, ein ikonischer dreieckiger Berg, und darunter die Worte: BEFORE ZEN, A MOUNTAIN IS A MOUNTAIN. Auf dem zweiten Bild waren mehrere Berge wirr übereinander projiziert und darunter stand: DURING ZEN, A MOUNTAIN IS NOT A MOUNTAIN. Das letzte Bild war dasselbe wie das erste, ganz einfach und schlicht, und der Satz darunter lautete: AFTER ZEN, A MOUNTAIN IS A MOUNTAIN1.

Was auch immer also dieser Garprozess mit einem anstellte, wie unübersichtlich es mittendrin auch werden mochte, es ging dabei nicht um irgendein jenseitiges Ziel, jedenfalls nicht auf dem Zen-Weg. Allerdings machte das die ganze Sache nur noch verwirrender. Wenn am Ende alles wieder genauso war wie am Anfang, warum dann das Ganze? Oder vielleicht waren zwar die Dinge am Ende genauso wie zuvor, aber man selbst betrachtete sie anders?

Dieses Buch trägt die Hoffnung in sich, den Garprozess zu entmystifizieren, ihn in gewöhnliche Sprache zu gießen und zu zeigen, wie er im ganz normalen Leben funktionieren kann. Und zu vermitteln, warum er wichtig ist. Denn auch wenn wir weiterhin unser gewöhnliches Leben leben, kann sich durch diesen Prozess die Art und Weise, wie wir dieses Leben erfahren, verändern. Und diese Veränderung ist alles andere als gewöhnlich. Manche sind überzeugt, es sei das Radikalste, was wir für uns und unsere Mitgeschöpfe tun können. Kann uns dieser Prozess doch zeigen, dass wir nicht allein sind, es gar nicht sein können, wie einsam wir uns auch manchmal fühlen mögen. Vielmehr sind wir alle Teil einer einzigen Existenz. Wenn das stimmt, sind die Implikationen schwindelerregend.

Gensha, ein Zen-Meister aus dem neunten Jahrhundert, erfuhr diese eine Existenz urplötzlich im Alter von dreißig Jahren. Er wuchs als Sohn eines Fischers in China auf und musste als Junge mitansehen, wie sein Vater von einem angeschwollenen Fluss mitgerissen wurde und ertrank. Er wurde selbst Fischer, ging jedoch als junger Mann, aufgewühlt von der Vergänglichkeit des Daseins, in ein Kloster und begann zu meditieren. Nach einigen Jahren kam er zu dem Schluss, dass er nicht das Zeug dazu habe, die Mysterien der Praxis zu durchdringen. Er schulterte seinen Reisesack, stieg in seine Sandalen und machte sich auf den Weg, ohne zu wissen wohin.

An seinem ersten Tag unterwegs wanderte er einen Hang hinauf und stieß sich die Zehe an einem großen Stein an. Es sah schlimm aus. In manchen Quellen ist von viel Blut die Rede, in anderen heißt es, seine Zehe „explodierte“. Während er unter Schmerzen seine verletzte Zehe umfasste, überkam ihn eine tiefe Erkenntnis, und seine Wahrnehmung, sich als getrenntes Wesen durch die Welt zu bewegen, löste sich auf. Dabei soll er ausgerufen haben: „Es gibt keinen Körper. Woher kommt dann dieser Schmerz?“

Außer sich vor Erleichterung – trotz seiner schmerzenden Zehe – humpelte er zum Kloster zurück.

„Warum bist du schon wieder zurück?“, fragte ihn sein alter Lehrmeister. „Was ist mit deiner Pilgerreise?“

Gensha erwiderte: „Kein einziger Schritt wurde getan.“

Offenbar gefiel dem Meister diese Antwort, und er hieß ihn wieder im Kloster willkommen. Dann fragte er, was genau passiert sei, was er gesehen habe.

Genshas Antwort lautete: „Dieses ganze Universum ist eine leuchtende Perle.“2

Anhand dieser kleinen Geschichte kann man ein paar Dinge lernen. Erstens, dass es manchmal stimmt: no pain, no gain – „Ohne Schmerzen, kein...

Erscheint lt. Verlag 27.6.2024
Übersetzer Marlies Ruß
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
ISBN-10 3-86781-393-0 / 3867813930
ISBN-13 978-3-86781-393-8 / 9783867813938
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