Der Dichter und der Risches -  Ernst Osterkamp

Der Dichter und der Risches (eBook)

Leben und Werk des Michael Beer (1800-1833)
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2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Wallstein Verlag
978-3-8353-8736-2 (ISBN)
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Eine Wiederentdeckung: Leben und Werk des vergessenen Dichters Michael Beer, den seine Trauerspiele berühmt machten und der zeitlebens gegen den »Risches«, den Antisemitismus, zu kämpfen hatte Der früh verstorbene und nach seinem Tod bald vergessene Dichter Michael Beer gehörte mit seinen Trauerspielen »Der Paria« und »Struensee« zu den erfolgreichsten deutschen Dramatikern seiner Zeit. Ernst Osterkamp stellt erstmals Leben und Werk des aus einem angesehenen jüdischen Elternhaus stammenden Michael Beer dar. Dabei tritt eine auf vielfache Weise für das literarische Leben des ersten Jahrhundertdrittels repräsentative Gestalt mit herausragenden künstlerischen und politischen Beziehungen hervor. Beer war ein Kosmopolit, der in Paris, Neapel und München genauso zu Hause war wie in seiner Geburtsstadt Berlin und spannungsvoll freundschaftliche Beziehungen zu Karl Immermann, Heinrich Heine und Ludwig Börne unterhielt. Er verfügte über ein beeindruckendes Verständnis für die Formprobleme des Dramas in seiner Zeit, besonders für die Gattungskonkurrenz von Oper und Drama (sein ältester Bruder war der gefeierte Opernkomponist Giacomo Meyerbeer) und für Möglichkeit und Unmöglichkeit des historischen Dramas. Dem Antisemitismus, dem »Risches«, widersetzte er sich mit ganzer Kraft. Osterkamps einfühlsame Beschreibung von Leben und Werk Michael Beers erscheint nun 200 Jahre nach der von Goethe unterstützten Weimarer Aufführung des »Paria« am 6. November 1824, in dem Beer das jüdische Schicksal des Ausgegrenztseins im Spiegel des indischen Kastenwesens reflektiert hat. Das aber wollte Goethe nicht wahrnehmen ...

Ernst Osterkamp, geb. 1950, war von 1992 bis 2016 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin, von 2017 bis 2023 war er Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Zuletzt erschienen: Sterne in stiller werdenden Nächten. Lektüren zu Goethes Spätwerk (Frankfurt 2023); Felix Dahn oder Der Professor als Held (München 2019); Caroline von Humboldt und die Kunst (Berlin 2017).

Tod eines Dichters und Biedermannes


Zu dem Wenigen, das Michael Beer mit Goethe gemeinsam hatte, gehört sein Todestag; er starb am 22. März 1833, genau ein Jahr nach seinem bewunderten Vorbild. Freilich erreichte Michael Beer nur das Alter von 32 Jahren, während Goethe ein halbes Jahrhundert älter wurde. Und während Goethes Leben im Kreis seiner Familie und zugleich vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu Ende ging, starb der vermögende, vielfach begabte und menschlich gewinnende Kosmopolit Michael Beer, den doch so viele ihren Freund nannten, einsam unter heute nur schwer durchschaubaren Umständen. Seine drei Brüder gelangten nicht rechtzeitig genug an sein Kranken- und Sterbebett, um ihn noch lebend anzutreffen, und seine Mutter, die ihn abgöttisch liebte, wäre ohnehin nicht mehr in der Lage gewesen, in höchster Eile von seinem Heimatort Berlin nach München, wo er starb, zu reisen. So gibt es nur einen einzigen Bericht eines Augenzeugen über Krankheit und Tod Michael Beers, und dieser wirft mehr Fragen auf, als er Antworten gibt. Er findet sich in einem auf Französisch verfassten Brief, den ein junger Mann namens Henry Reeve, der Beer offenbar in Paris kennengelernt hatte, am Tag nach Beers Tod »avec la plus vraie émotion« an den Klaviervirtuosen und Komponisten Ferdinand Hiller, einen gemeinsamen Freund, sandte und in dem er ihn davon unterrichtete, dass Beer in seinen Armen gestorben sei. Mehr noch als Beers Tod selbst scheinen die Umstände, unter denen er erfolgte, und dabei vor allem die Einsamkeit von dessen Tod Reeve erschüttert zu haben:

Vous qui avez connu toutes ses faiblesses, et toute sa bonté, vous en serez bien affligé – cet étrange hazart qui a fait qu’un homme qui s’est dit ami de tout le monde mourut comme cela, sans autre témoin qu’un jeune ètranger avec lequel il s’était brouillé quelques semaines auparavant.[1]

Man darf annehmen, dass Reeve mit dem jungen Fremden, der sich einige Wochen zuvor mit Beer zerstritten hatte und dann doch der einzige Zeuge seines Todes war, sich selbst meinte. Umso mehr Licht sollte freilich auf ihn selbst und auf seine Großherzigkeit fallen, für die es ausgeschlossen gewesen sei, einen Bekannten in den Armen seines Kammerdieners sterben zu lassen:

Moi seul, je m’y suis trouvé, car je ne veux pas que des gens que ’ai connus meurent entre les bras d’un valet de chambre.[2]

Der Kammerdiener, über den sich Reeve so herablassend äußert, hatte allerdings einen Namen, und Reeve erwähnt diesen auch im vorhergehenden Absatz seines Briefes: Bellile, wobei er nicht umhin kann einzuräumen, dass Bellile Beer in den zehn Tagen seiner Krankheit gepflegt habe, bis er selbst am Tag vor Beers Tod, wenn auch nicht bedrohlich, erkrankt sei. Es gab neben Reeve also noch mindestens einen zweiten Mann an Beers Totenbett, und dass dessen Rolle mit »valet de chambre« nur unzureichend beschrieben war, geht schon daraus hervor, dass die noch auf den 22. März datierte gedruckte Todesanzeige Michael Beers einzig von A. Bellile unterzeichnet ist;[3] dieser beruft sich dort auf seine »schmerzliche Freundespflicht« und erhebt damit Anspruch darauf, sehr viel mehr für Beer als nur dessen Diener gewesen zu sein. Reeve führt in seinem Brief also einen sozialen Verdrängungskampf darum, wer dem Toten nähergestanden habe, und stellt sich damit selbst ins Zwielicht. Es fällt schwer, sich vorzustellen, was in dem einsamen Sterbezimmer Beers tatsächlich vor sich gegangen ist, zumal der Kranke zumeist bewusstlos war und Ärzte in Reeves Brief nicht erwähnt werden.[4]

Dafür, dass den Sterbenden keiner seiner vielen Münchner Freunde besucht hat, gibt Reeve allerdings eine plausible Begründung: Beer habe zehn Tage vor seinem Tod ein »fièvre nerveuse et putride« ereilt, ein Nerven- und Faulfieber, und was immer dies medizinisch bedeuten mag, für die von der Gefahr der Cholera, deren letzte Welle erst zwei Jahre zuvor über Deutschland hinweggegangen war, traumatisierten Zeitgenossen stand fest, dass sie sich vor jeder Ansteckungsgefahr schützen mussten: »Tout le monde a craint le contagion«. Und so blieb denn Beer, der zeitlebens »tout le monde« zu seinen Freunden zählen durfte, in seinem Sterbezimmer verlassen und allein: »bien triste – bien solitaire – point de musique, point de femmes, point de larmes – rien que deux Rabbins récitaient leurs prières« [»sehr traurig – sehr einsam – keine Musik, keine Frauen, keine Tränen – nichts als zwei Rabbiner, die ihre Gebete sprachen«]. Wird mit den Frauen noch einmal an Beers Schwächen erinnert, deren Kenntnis Reeve zu Anfang seines Briefes bei Hiller voraussetzen durfte? Auch dies bleibt unklar angesichts der Tatsache, dass es zwei Männer waren, die an dessen Bett um die größtmögliche Nähe zu dem Sterbenden wetteiferten. Aber gerade dies lässt den deprimierenden Einblick in Michael Beers Sterbezimmer, den Reeve gibt, so symptomatisch erscheinen: Beer mag »tout le monde« zu seinen Freunden gezählt haben, er selbst blieb aber undurchschaubar und bei aller Bereitschaft, seine »bonté« der Welt zuteilwerden zu lassen, ihr insgesamt verschlossen. So gern und so oft er sich in seinen Briefen auch zur Freundschaft bekannte, so wenig neigte er doch dazu, von sich selbst etwas preiszugeben.

Sein Leben sei, so heißt es in der Todesanzeige, »allem Guten, Schönen und Edlen gewidmet« gewesen, und was dies konkret bedeutet, sagt Bellile zumindest in deren letzter Zeile, in der er dessen »zahlreiche Freunde« auffordert, den »Dichter und Biedermann« zum Grabe zu geleiten. Als Dichter und Biedermann hat die Welt Michael Beer gekannt, als einen Mann, der vor allem ein Dichter sein wollte, keinem bürgerlichen Beruf nachgehen musste und als das gelten durfte, was die Zeit mit dem Ehrentitel des Biedermanns verband: ein rechtschaffener, vertrauenswürdiger, tüchtiger und deshalb achtbarer Mann.[5]

Der Unterzeichnete erfüllt hiermit die schmerzliche Freundespflicht, anzuzeigen, daß Herr

Michael Beer

von Berlin

heute Nachmittag 5 Uhr an den Folgen eines Nervenfiebers ein Leben endete, welches allem Guten, Schönen und Edlen gewidmet war.

Die sterbliche Hülle desselben wird morgen Abend 7 ½ Uhr beigesetzt und Sonntag den 24ten dieses, Morgens 11 Uhr auf dem israelitischen Gottesacker beerdigt werden.

Die zahlreichen Freunde des Verblichenen werden durch Erweisen der letzten Ehren gewiß gerne beitragen, das Andenken des Dichters und Biedermannes zu feiern. –

 München, den 22ten März 1833.

        A. Bellile.[6]

Dem Bericht des Dichters und hohen Regierungsbeamten Eduard von Schenk zufolge, der nicht versäumt, sich selbst »den vertrautesten seiner Freunde« zu nennen,[7] sind die Freunde des Dichters diesem Aufruf tatsächlich gefolgt:

Die Trauer um seinen Tod war groß und allgemein, er war nicht in seiner Heimath, aber doch in einer ihm werthen, fast heimathlich gewordenen Stadt, in Mitte ihn liebender und ehrender Freunde gestorben. Darum war auch der Zug seiner Leiche bis zu dem eine halbe Stunde von der Stadt entlegenen israelitischen Friedhof so zahlreich, rührend und feierlich, als ob ihn aller kirchliche und amtliche Pomp umgeben hätte, und die Reihe von Fackeln, die seinen Leichenwagen umgaben, bestrahlten viele Thränen, die dem so früh vollendeten Loose des edeln Dichters flossen.[8]

Auch wenn man am sachlichen Gehalt dieses Berichtes nicht zweifeln möchte, so sind doch dessen konsolatorische Funktion und der die Umstände von Beers Tod harmonisierende Duktus offensichtlich. Schenk, der nach eigenem Zeugnis seinen Freund zwei Jahre vor dessen Tod zum letzten Mal gesehen hatte, will, dass seine Leser den einsam verstorbenen Biedermann geborgen inmitten seiner Freunde Abschied vom Leben nehmen sehen, und er möchte den frühen Tod des Dichters ideell überhöhen dadurch, dass er ihm den sentimentalen Ehrentitel des Frühvollendeten anheftet; beides geht an der Realität vorbei. Was Schenk hingegen keineswegs verschleiert, ist die Abwesenheit der Familie des mit seiner Mutter und seinen Brüdern so eng verbundenen Michael Beer bei dessen Tod:

Seine Brüder, Wilhelm und Heinrich, die auf die erste Kunde seiner Krankheit von Berlin nach München geeilt waren, fanden ihn nicht mehr am Leben, selbst seine sterblichen Reste kaum mehr über der Erde. Ihre Trauer, – die Trauer der Mutter um einen solchen Sohn ist einer Schilderung weder fähig noch bedürftig.[9]

Wilhelm und Heinrich Beer waren also gerade noch rechtzeitig zur Beerdigung ihres Bruders am 24. März eingetroffen. Mit der Nennung von Wilhelm und Heinrich Beer markiert Schenk, unausgesprochen, aber für jeden zeitgenössischen Leser offensichtlich, zugleich eine markante Lücke unter den Trauernden am Grab Michael Beers: die unbegreifliche Abwesenheit des in ganz Europa berühmten ältesten Bruders Giacomo Meyerbeer, dessen Name hier nicht einmal fällt. Meyerbeer befand sich damals in Baden-Baden, hatte also einen kürzeren Weg nach München als seine Brüder und hätte deshalb Michael auch noch lebend antreffen können. Er wollte aber, als ihn die »Estafette« mit der Nachricht von Michaels tödlicher Erkrankung erreichte, nicht recht an den Ernst der Lage glauben, obwohl ihm Michael doch in seinem Brief vom 24. Februar...

Erscheint lt. Verlag 26.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
ISBN-10 3-8353-8736-7 / 3835387367
ISBN-13 978-3-8353-8736-2 / 9783835387362
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