Jeanne d'Arc oder Die Jungfrau -  Marius Reiser

Jeanne d'Arc oder Die Jungfrau (eBook)

Geschichte - Gestalt - Wirkung
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
400 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-83561-2 (ISBN)
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Jeanne d'Arc, ein frommes, kriegerisches Bauernmädchen (1412-1431), ist Frankreichs Nationalheldin, weil sie die entscheidende Wende im Hundertjährigen Krieg gegen die Engländer brachte. Sie geriet in englische Gefangenschaft und wurde durch einen Inquisitionsprozess als Häretikerin zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. 25 Jahre später wurde sie durch einen weiteren Inquisitionsprozess rehabilitiert. Diese Vorgänge und die Gestalt dieses Mädchens sind einzigartig in der Geschichte Europas. Wie kam es zu der Wende im Hundertjährigen Krieg? Wie stand es mit den Offenbarungen Gottes, auf die sich dieses Mädchen berief? Warum wurde sie von kirchlichen Gerichten zuerst zum Tod verurteilt und dann rehabilitiert? Und wie kam es zu ihrer Heiligsprechung 1920? Davon und von einigen Beispielen der literarischen Rezeption ihrer Gestalt handelt dieses Buch.

Marius Reiser, geb. 1954, Dr. theol. habil., 1983 Promotion an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen, 1989 Habilitation; 1991 Professor für Neues Testament am Fachbereich Katholische Theologie der Universität Mainz. 2009 Aufgabe der Professur aus Protest gegen die Modularisierung und Nivellierung des Studienganges Katholische Theologie im Rahmen des Bologna-Prozesses. Forschungen v.a. zur hellenistischen Umwelt und Eschatologie des Neuen Testaments, zu Fragen der Philologie und biblischen Hermeneutik.

Vorwort

Im Jahr 1429 war das französische Königreich nahe daran, ein Teil des englischen Königreichs zu werden. Die Lage des französischen Königs schien hoffnungslos. Da trat ein 17-jähriges frommes Bauernmädchen auf und brachte in wenigen Monaten die Wende im Kriegsgeschehen zugunsten der französischen Seite. Sie geriet 1430 in Gefangenschaft und endete 1431 auf dem Scheiterhaufen. Diese Geschichte wirft Fragen auf: Wie kam ein einfaches Mädchen vom Land dazu, sich auf ein ganz und gar verrücktes kriegerisches Unternehmen einzulassen? Wie konnte dieses Unternehmen entgegen aller Wahrscheinlichkeit innerhalb kurzer Zeit gelingen? Warum wurde das Mädchen dafür in einem hochkarätig besetzten und teuren kirchlichen Prozess als Hexe und Ketzerin verbrannt? Und warum war das nicht das Ende der Geschichte? Denn das Urteil des Prozesses von 1431 wurde 25 Jahre später durch einen weiteren, wiederum hochkarätig besetzten, mindestens ebenso teuren kirchlichen Prozess annulliert. 1920 wurde die Kriegerin heiliggesprochen, und kurz darauf beschloss das französische Parlament einen Nationalfeiertag zu ihren Ehren. Wie ist das alles zu erklären? Mir scheint, dass die gestellten Fragen trotz einer schier unüberschaubaren Forschungsliteratur immer noch nicht befriedigend beantwortet sind und dass gerade Theologinnen und Theologen hier mehr als bisher beizutragen hätten.

Schon die Zeitgenossen haben das Erscheinen und Wirken dieses einfachen Mädchens auf der politischen und militärischen Bühne als einzigartig, mirakulös und wunderbar empfunden. Schon zu Lebzeiten war „die Jungfrau“ eine sagenhafte Gestalt, von Legenden umrankt.1 Ihre hellseherischen und prophetischen Gaben sind unbezweifelbar, aber eigentliche Wunder hat sie nicht gewirkt. Und doch wird man ihrem Auftreten und Tun mit seinen unübersehbaren geschichtlichen Auswirkungen kaum anders gerecht werden, als dass man im Hinblick auf das Ganze von einem Wunder spricht.2 Diesem Wunder versuche ich mit den Mitteln und Methoden des Historikers, aber auch des Theologen und Literaturwissenschaftlers auf die Spur zu kommen.

Der Historiker hat freilich nicht nur Mittel und Methoden, sondern auch Voraussetzungen und Ziele. Was diese hermeneutischen Fragen angeht, halte ich mich an die Leitprinzipien historischer Forschung, die Henri-Irénée Marrou in seinem Standardwerk „De la connaissance historique“ von 1954 anschaulich mit Beispielen dargelegt und begründet hat.3 Für Marrou ist das eigentliche Ziel der historischen Forschung das Verstehen vergangener Zeiten und Geschehnisse, soweit wir über sie Bescheid wissen. Das Maß des Verstehens ist dabei abhängig vom Wissen um Kontexte, Hintergründe und Zusammenhänge, aber auch vom allgemeinen Weltwissen und vom geistigen Horizont des Historikers. Kein Historiker arbeitet ohne ein Vorurteil oder besser: Vorverständnis. Das Vorverständnis kann er oder sie im Verlauf der Forschungen korrigieren, aber nie ganz überwinden. Sachlichkeit sollten wir anstreben, Objektivität bleibt Gott vorbehalten. Ereignisse werden nicht nur sehr verschieden erlebt, sondern auch sehr verschieden beurteilt. Bei alldem muss Wahrheit das Ziel aller Forschung sein, auch wenn sie selbstverständlich immer nur annäherungsweise zu erreichen ist. Über ein gewisses Maß an Wahrscheinlichkeit kommt der Historiker nun einmal nie hinaus.

Und noch etwas benötigen wir zum wirklichen Verstehen: eine gewisse innere Affinität zum untersuchten Gegenstand oder Sachverhalt. Im Letzten kann nur ein poetisch veranlagter Mensch Poesie verstehen, nur ein musikalischer Mensch Musik, nur ein philosophisch begabter Mensch Philosophie, nur „ein weises Herz die Sprüche der Weisen“, wie schon Jesus Sirach sagt (3,29).4 Und so wird nur ein Frommer einen Frommen wirklich verstehen können und nur ein Christ einen Christen. Wer also ein frommes Mädchen wie Jeanne d’Arc und ihre christliche Umwelt verstehen will, sollte möglichst ähnlich fromm sein wie sie und ihre Umwelt. Wer ihr Weltbild und ihren Glauben an das Wirken Gottes in dieser Welt nicht teilt oder als Einbildung betrachtet, wird schwerlich zu einem echten Verstehen ihres Verhaltens, ihrer unleugbaren politischen und militärischen Erfolge, aber auch ihres Leidens im Prozess unter dem Zwiespalt einer politisch gespaltenen Kirche gelangen können. Agnostische Historiker werden dort, wo solche Phänomene zu Tage treten, zurückhaltend oder deuten sie auf ihre Weise. Meistens lassen sie religiöse Sachverhalte gänzlich unterbelichtet. Können wir auf diese Weise einem Mädchen gerecht werden, das seine gesamten öffentlichen Aktivitäten auf Offenbarung zurückführt, wie es bei Jeanne d’Arc der Fall ist? Heißt das nicht vielmehr, dass man sie gar nicht ernst nimmt?

Selbstverständlich gibt es keine historische Forschung ohne die Methoden der historischen Kritik an den Dokumenten und Quellenaussagen. Doch Kritik kann leicht in Kritizismus und Skeptizismus ausarten. Dann liest man die Quellen vielleicht mit dem Verdacht, dass sie nicht nur von Interessen geleitet sind, sondern überhaupt eher die Unwahrheit als die Wahrheit darlegen wollen. Es gibt „schimärische Geister“, wie Marrou sagt, die mit großem Scharfsinn unlösbare Fragen stellen, um die Aussagen der Texte als unglaubwürdig erscheinen zu lassen.5 Das kann dazu führen, dass man Quellen grundsätzlich gegen den Strich liest, um so zur vermeintlichen Wahrheit zu gelangen. Das ist eine absurde Methode. Im Gerichtswesen gilt heute die Unschuldsvermutung; bei der genannten Art der Quelleninterpretation dagegen gilt sozusagen die Schuldvermutung bis zum Beweis des Gegenteils. Das war im Mittelalter das Prinzip der Inquisitionsprozesse. Es wurde im Revisionsprozess für Jeanne d’Arc zu Recht kritisiert. Denn damit gerät alles von vornherein in ein schiefes Licht. Diese Betrachtungsweise ist für Marrou ein Grundübel der historischen Forschung, das ein Verstehen unmöglich macht. Ein Verstehen verlangt vielmehr die Fähigkeit, von der eigenen Denkweise abzusehen, wenigstens versuchsweise, und sich auf eine fremde einzulassen. Dazu gehören eine gewisse Demut und Liebe – Marrou sagt: Freundschaft – gegenüber den Menschen der Vergangenheit (oder der Gegenwart, je nachdem).

An der Forschungsliteratur zu den beiden Prozessen in Rouen fällt dem Theologen auf, dass Historikern und Juristen manch mal nicht klar zu sein scheint, was für die katholische Kirche seit der Väterzeit eigentlich unter einer Häresie zu verstehen ist. Eine Häresie ist ein bewusst und hartnäckig vertretener Widerspruch gegen eine verbindliche Glaubenslehre der Kirche. Ein bloßer Irrtum hinsichtlich einer Glaubenswahrheit ist für sich genommen noch keine Häresie, kann es aber werden, wenn er hartnäckig verteidigt wird.6 Ob eine solche Häresie bei Johanna vorliegt oder nicht, war die entscheidende Frage in den beiden Inquisitionsprozessen in Rouen, die sich mit ihrem Fall befassten. Der erste meinte Ja und verbrannte angeblich eine Häretikerin, der zweite Nein und rehabilitierte sie. Wer von beiden hatte recht? Die namhafte Mittelalterhistorikerin Claude Gauvard will diese Frage in ihrem großen Essay von 2022 gar nicht entscheiden, sondern lediglich zeigen, wie es zu den beiden so gegensätzlichen Sichtweisen der Heldin bei ihren Feinden einerseits und ihren Freunden andererseits kam. Am Ende stellt sie mit Bedauern fest, dass diese Fragestellung zu einem undurchsichtigen Bild führt, „un écran opaque“. „Wer die Jungfrau in Wirklichkeit war, können wir nicht wissen.“7 Müssen wir uns mit diesem Ergebnis bescheiden? Können wir dem Ziel eines sachlichen Urteils und des Verstehens nicht näherkommen? Nicht einmal angesichts einer solchen Fülle von guten Quellen?

Schon im 19. Jahrhundert setzt eine Forschungsrichtung zu unserem Thema ein, die zu zeigen versucht, dass der erste Prozess, den man dem kriegerischen Mädchen 1431 machte, korrekt und in guter, ehrlicher Absicht gegen die Angeklagte geführt wurde, während der Revisionsprozess 25 Jahre später nur mit Verdrehungen der Wahrheit zum Ziel gelangen konnte. Man geht davon aus, dass die ausgewählten Zeugen damals zumeist nur sagten, was man von ihnen hören wollte. Für Malte Prietzel etwa war der Prozess von 1431 „mustergültig“ und „ging ordentlich zu Ende“, der Rehabilitierungsprozess dagegen weist eine „Vielzahl bewusster Manipulationen“ auf.8 Dann wäre Jeanne d’Arc zu Recht verurteilt worden, zumindest nach den Kriterien ihrer Zeit, und ihre Rehabilitation und spätere Heiligsprechung zu Unrecht geschehen. In diesem Zusammenhang will ein neuerer Aufsatz den Richter des ersten Prozesses, Pierre Cauchon, rehabilitieren und präsentiert den Inquisitor des zweiten Prozesses, Jean Bréhal, als Erdichter einer schwarzen Legende über Bischof Cauchon. Er führt sorgfältig die Invektiven Bréhals gegen Cauchon auf, ohne die Frage zu stellen, ob Bréhals Vorwürfe nicht wenigstens zum Teil gerechtfertigt sind.9 Dieser wissenschaftliche Aufsatz könnte durchaus der Beginn einer schwarzen Legende über Jean Bréhal werden. Man muss freilich damit rechnen, dass derart einseitigen Hypothesen Antipathien zugrunde liegen, die...

Erscheint lt. Verlag 10.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Mittelalter
ISBN-10 3-451-83561-4 / 3451835614
ISBN-13 978-3-451-83561-2 / 9783451835612
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