Karl Kraus und die Rechtsakten der Kanzlei Oskar Samek -  Isabel Langkabel,  Laura Untner

Karl Kraus und die Rechtsakten der Kanzlei Oskar Samek (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
212 Seiten
Böhlau Verlag
978-3-205-21982-8 (ISBN)
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Karl Kraus (1874-1936) war nicht nur ein unbezwingbarer Satiriker und Polemiker, sondern auch ein beharrlicher Kämpfer ums Recht. Die Rechtsakten der Kanzlei Oskar Samek dokumentieren von 1922 bis 1938 diesen Kampf gegen Zeitungen, Verlage und Schriftsteller, der selbst nach Kraus' Tod fortbestand. Erstmals setzen sich in diesem Band verschiedene Literatur- und Kulturwissenschaftler:innen mit den Akten auseinander - aus biographischer, literaturwissenschaftlicher und politischer Perspektive. Dabei werden sowohl Forschungslücken geschlossen als auch neue Fragestellungen zum Leben und Werk Kraus' ermöglicht. Der Sammelband bildet außerdem erstmals Kraus' handschriftlich verfasstes Testament in Farbe ab.

Johannes Knüchel

Der „treue“ Mitstreiter in Prag: Johann Turnovsky


„Klagen wär’ die erste Pflicht“
Chor in Jacques Offenbachs Blaubart
in der Bearbeitung von Karl Kraus

(Teilweise) fiktiver Prolog


Am Abend des 9. Mai 1932 verlassen der Rechtsanwalt Johann Turnovsky und seine Frau Ilsa ihre Wohnung in der Belcrediho třida in Holešovice, Prag. Ihr Ziel ist das kubistisch gestaltete Mozarteum in der Neustadt, wo Karl Kraus an diesem Abend um halb acht Jacques Offenbachs Madame l’Archiduc in seiner Überarbeitung und mit „neuen Zeitstrophen“ vorträgt.1 Bei diesem Vortrag unterstützt ihn musikalisch lediglich Franz Mittler, ein Pianist, der hinter einem Paravent halb versteckt Kraus’ Sprechgesang untermalt. Der Abend ist ein Erfolg und das Ehepaar mitsamt den weiteren knapp vierhundert Zuhörer:innen von der dargebotenen Operette begeistert. Da die Turnovskys schon seit ihrer Kindheit fließend Deutsch sprechen, haben sie keine Probleme, dem Vortrag zu folgen – außerdem lesen sie seit längerer Zeit Die Fackel. Die Zeitschrift kennt Johann Turnovsky über seinen etwas älteren Mitschüler Franz Janowitz seit seiner Schulzeit. In den vorangegangenen Jahren hatte das Ehepaar im Prager Tagblatt immer wieder lobende Rezensionen der hiesigen Vorlesungen von Kraus lesen können, der bereits des Öfteren Offenbach, Shakespeare, Gogol und seine eigenen Texte vortrug. Nun sind sie erstmals selbst dabei.

Als leidenschaftlicher Leser lateinischer Autoren wie Catull, Horaz und Tacitus sowie als Amateurpianist fühlt sich Johann Turnovsky Kraus in vielerlei Hinsicht verbunden. Er ist der Auffassung, dass sie ähnliche Vorstellungen über die ‚wahre Kunst‘ teilen. Daher ist er bestrebt, dem eindrucksvollen Sprechkünstler näherzukommen. Über Bekannte und Kollegen findet Turnovsky mehr über Kraus heraus: in welchen Hotels er in Prag üblicherweise übernachtet, welche Kontakte er vor Ort hat und in welchen Cafés er sich bei längeren Aufenthalten in der Stadt herumtreibt. Da Turnovsky kein scheuer Mann ist, spricht er Kraus an, als sich dieser an einem der folgenden Abende nach einer weiteren Offenbach-Vorlesung mit seinen Prager Freund:innen im Café Imperial unweit des Náměstí Republiky trifft. Turnovsky stellt sich als ein Bekannter von Janowitz vor, teilt Kraus seine Bewunderung für ihn mit und trägt ihm seine Dienste als Rechtsanwalt an. Sie sprechen über ihre gemeinsame Vorliebe für lateinische Literatur sowie die traditionelle Operette, die sich von den gegenwärtigen ‚Schändungen‘ Offenbachs deutlich zu distanzieren habe, und darüber, welche Bedeutung die Operette in dieser politisch so schwierigen Zeit habe.2 Kraus ist positiv beeindruckt und beschließt schnell, sich an diesen womöglich hilfreichen Kontakt zukünftig zu erinnern, hat er doch immer wieder Schwierigkeiten mit Aufführungen und Vorlesungen in Prag. Ein vor Ort anwesender, tüchtiger und eingenommener Rechtsanwalt kann dabei sicherlich nicht schaden.

*

So oder so ähnlich, freilich aber auch auf ganz andere Art, könnte sich die Kontaktaufnahme zwischen dem tschechischen Anwalt Johann (oder Jan) Turnovsky (auch Turnowsky oder Turnovski) und Karl Kraus abgespielt haben. Anhand der durch Oskar Samek überlieferten Rechtsakten lassen sich einige historisch-biographische Informationen rekonstruieren und so ein detaillierteres Bild des Anwalts zeichnen.

Turnovsky in den Akten


In einem der frühesten von Turnovsky selbst verfassten Briefe – datiert auf den 26. November 1932 – aus Sameks Aktenbestand heißt es:

Herr Karl Kraus ersuchte mich, Ihnen, sehr geehrter Herr Doktor, das Ergebnis meiner Erhebungen über die Verhältnisse des ehemaligen Konzertdirektors Erich Schamschula bekanntzugeben.3

Diese Formulierung zeigt, dass Kraus zuvor schon von Turnovsky gehört und die Verbindung zu ihm hergestellt haben musste.4 Der in rechtlichen Auseinandersetzungen überaus geschulte Schriftsteller wählte Turnovsky sicherlich nicht auf gut Glück, sondern hatte wohl eine gute Vorstellung von dessen juristischen Kompetenzen. Diese sollten ihm in wichtigen Prozessen, die beide in der Tschechoslowakei führten, zugute kommen. Womöglich war Kraus ihm, wie oben entworfen, persönlich im Rahmen einer seiner Vorlesungen in der Hauptstadt begegnet5 – hierüber lassen sich allerdings nur Mutmaßungen anstellen. Insgesamt spielt Turnovsky in über 350 Dokumenten der Handakten Sameks eine Rolle. Dabei handelt es sich meist um Briefe von ihm und an ihn. Daneben verfasste Turnovsky auch mehrere Schriftsätze. Anhand dieser Dokumente wird ersichtlich, wie der Prager Anwalt sich seinem berühmten und besonders in den 1930er Jahren umstrittenen Mandanten gegenüber verhielt.

Abb. 1 Frühe Korrespondenz zwischen Johann Turnovsky und Oskar Samek.

Quelle: Dokument 133.4, 1, in: Rechtsakten Karl Kraus / Wienbibliothek im Rathaus.

Turnovskys Kanzlei befand sich zu der Zeit, als er für Kraus tätig wurde, in der Vodičkova 33 im zweiten Prager Bezirk.6 Diese in der Prager Neustadt gelegene Straße verbindet den Karlsplatz mit dem Wenzelsplatz, weswegen dort viele wichtige Gebäude und Institutionen angesiedelt waren. Turnovsky konnte sich eine äußerst gute Adresse leisten.7 Das heute dort unter dem Namen „Vodičkova 33 Residence“8 angesiedelte Projekt lässt darauf schließen, dass sich an der Qualität der Lage seiner Kanzlei nichts geändert hat.

Die Briefköpfe der in den Handakten überlieferten Korrespondenzen Turnovskys wurden allesamt in deutscher Sprache verfasst und gedruckt. Wir können daher davon ausgehen, dass er – wie viele seiner Kollegen und Landesgenossen – (mindestens) bilingual war und neben der tschechischen auch die deutsche Sprache fließend beherrschte. Das gilt auch für die in seiner Kanzlei angestellten Schreib- und Sekretärskräfte, die sein Diktat entgegennahmen.9 Bisweilen schrieb bzw. tippte Turnovsky seine Briefe an Kraus oder Samek aber auch selbst.10

Die erste Angelegenheit, in der Turnovsky für Kraus tätig wurde, betraf den Konzertdirektor Erich Schamschula. Mit dessen Unterstützung hatte Kraus eine Vortragsreihe in der Tschechoslowakei veranstaltet, doch der Unternehmer schuldete ihm noch längere Zeit danach Geld. Zunächst hatte also Turnovsky im November 1932 „Erhebungen“11 über den zukünftigen Gegner angestellt, um in einer potenziellen Rechtsstreitigkeit ein möglichst gutes argumentatorisches Fundament zu haben. Seine Nachforschungen betrafen einen Großteil der unternehmerischen Vergangenheit Schamschulas, inklusive Informationen über dessen Firmen und zeitweise Kollegen. Es war zu dieser Zeit allerdings noch nicht letztgültig ausgemacht, dass Turnovsky Kraus’ Vertretung in diesem Fall übernehmen würde. Samek bat ihn schließlich doch, dies tatsächlich zu tun und übersandte ihm 27 Beilagen, um die finanziellen Umstände und die Hintergründe der Angelegenheit zu veranschaulichen.12 Von dieser Materialflut ließ sich Turnovsky nicht abschrecken. Die beiden Anwälte verständigten sich schnell darauf, dass Schamschula, der nach Ansicht Turnovskys zivilrechtlich nur schwer verfolgt werden könnte, strafrechtlich verfolgt werden sollte. In der Folge wird ersichtlich, dass Turnovsky kein Problem damit hatte, selbstinitiativ zu handeln: Er drohte dem Konzertdirektor noch im Dezember mit einer Strafanzeige. Samek konnte am 10. Januar 1933 bestätigen, dass Kraus eine solche wünschte und schickte abermals zahlreiche Beilagen nach Prag, um die finanziellen Umstände weiter zu illustrieren.13 Anhand des von Turnovsky verfassten Antwortbriefs werden nun mehrere Dinge deutlich: Einerseits setzte er sich ruhig und sorgfältig mit den eingesandten Dokumenten auseinander und fertigte mehrere Rechnungsaufstellungen an, um Samek eine gute Grundlage für eine Überprüfung seinerseits liefern zu können. Andererseits wollte er sich bewusst für die Reputation seines Klienten einsetzen:

Ich will es unter allen Umständen vermeiden, im Namen des Herrn Karl Kraus eine Anzeige zu überreichen, die nicht zur Strafverfolgung des Beschuldigten führen würde, damit Schamschula sich später nicht rühmen könne, Herr Kraus habe gegen ihn nichts ausrichten können.14

Klar wird, dass Turnovskys Engagement für Kraus über das übliche Maß der professionellen Beziehung eines Anwalts zu seinem Mandanten hinausging – was freilich ebenso auf Samek und andere Anwälte Kraus’ wie den Berliner Botho Laserstein zutraf. Bei Turnovsky kam es in diesem und einem weiteren Fall sogar zu Interventionen, welche die ethischen Grenzen seines Berufsstandes zumindest dehnten.15

Samek und Kraus hatten offensichtlich schnell begriffen, dass sie mit Turnovsky einen patenten Mitstreiter gewonnen hatten. Im Februar 1933 schrieb Samek mit besten Grüßen und Dank von Kraus, dass Turnovsky in der Angelegenheit Schamschula sogar selbst entscheiden könne, wie weiter vorzugehen sei.16 Turnovsky versuchte zunächst, Schamschula...

Erscheint lt. Verlag 6.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
ISBN-10 3-205-21982-1 / 3205219821
ISBN-13 978-3-205-21982-8 / 9783205219828
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