Das mystische Dreigestirn (eBook)
208 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61446-6 (ISBN)
Walter Nigg, geboren 1903 in Luzern, war Professor für Kirchengeschichte in Zürich und wirkte als protestantischer Pfarrer im zürcherischen Dänikon, wo er 1988 starb. Neben Heiligen, Ordensgründern, Propheten und Mystikern handeln seine Bücher auch von Künstlern und Dichtern und nicht zuletzt von Ketzern, die er als »verunglückte Heilige« verstand.
Früher stellte man sich die Heiligen gerne als ehrwürdige, in langen Kleidern daherschreitende Männer vor. Dieses fromme Klischee ist längst überwunden. Ein ähnlich falsches Bild zeichnete man von den großen Mystikern. Gewiß waren sie nicht wie unsereiner. Fraglos ist ihre Bedeutung nicht leicht faßbar. Aber sie erstarrten jedenfalls nicht in ihrer Würde. Die wirklich Großen des Glaubens waren bei aller Geistesmächtigkeit doch wiederum ganz natürliche Menschen, die es gar nicht auf Esoterik abgesehen hatten. Die Mystiker verhielten sich zu ihren Nächsten ebenso schlicht wie menschlich, und gerade ihre Bescheidenheit unterstreicht ihre innere Größe.
Auch Eckhart war alles andere als unnahbar. In Erfurt, wo er als Prior wirkte, pflegte er am Abend mit seinen «geistlichen Kindern», das heißt mit seinen jüngeren Ordensbrüdern, beisammen zu sein. Zwar ist in den Klöstern nach neunzehn Uhr Silentium geboten, doch der Prior erteilte Dispens. Man saß um einen Tisch und führte ungezwungene Gespräche. Nie war es ein bloß zeitvertreibender Plausch, denn der Prior achtete darauf, daß wesentliche Fragen behandelt wurden. Er hielt das Gespräch in den Händen, so daß es nicht im Uferlosen versandete. Die Novizen – Eckhart nannte sie liebevoll «Kinder» – waren ebenfalls nicht zu allen Torheiten aufgelegte junge Leute. Sie hatten das weltliche Kleid schon abgelegt und trachteten bewußt nach einem religiösen Leben. Aus diesem Grunde waren sie doch in den Dominikanerorden eingetreten. Bei dem abendlichen Zusammensein brachten seine jungen Mitbrüder ihre Fragen vor, und Eckhart antwortete ihnen eindeutig und aufschlußreich, ohne je einer Frage auszuweichen.
Eckhart schrieb hernach in seiner Zelle seine Antworten nieder, überdachte die Formulierungen und verfaßte so seine «Unterweisung», eine Arbeit, die von ihm selbst stammt und keine bloße Nachschrift darstellt. Auf diese Weise entstand Eckharts erstes Buch, das zunächst als Traktat bezeichnet wurde. Im Laufe der Zeit aber rief das Wort «Traktätchenliteratur» ein unangenehmes Frösteln hervor, so daß man heute besser von Eckharts Frühschrift spricht. Die aus zwanglosen Gesprächen hervorgegangenen Ausführungen sind in loser Folge aneinandergereiht, und es liegt ihnen keine strenge Komposition zugrunde19. Eckhart gab dem Buch den Titel: «Reden der Unterweisung». Wohlgemerkt: nicht «Unterhaltung», denn sie versandet im Unverbindlichen. Vor den Augen seiner staunenden Zuhörer entwickelte er eine konkrete Anweisung zum christlichen Leben. Die schriftliche Fixierung der abendlichen Tischgespräche hört sich wie eine seiner späteren Lesungen an. Die vorliegende Darstellung ist keine phantasievolle Erfindung zum Zweck, die allzu dürftigen Nachrichten über Eckharts Vita auszumalen. Sie stützt sich auf die Einleitung zu den «Reden», in der es wörtlich heißt, daß «Bruder Eckhart» solche Gespräche mit seinen «geistlichen Kindern geführt hat, die ihn zu diesen Reden nach vielem fragten, als sie zu abendlichen Tischgesprächen beieinander saßen20».
Diese Frühschrift Eckharts ist beachtlich; sie ist das bezaubernde Präludium zu seiner späteren Melodie. Wohl spricht nicht der vollendete Eckhart aus ihr, denn auch er ist nicht als gemachter Mann auf die Welt gekommen, sondern hatte seine Entwicklungsphasen durchzumachen, bis er zu abgeklärter Reife gelangte. Und doch hat er zwar nicht alle, aber schon viele Themen seiner Mystik berührt. Freilich fehlte noch der spekulative Einschlag. Zunächst war der Traktat noch vorwiegend praktisch ausgerichtet. Er kann im vorliegenden Zusammenhang unmöglich in seiner ganzen Fülle entfaltet werden. Es seien deshalb nur einige Themata herausgegriffen. Der beste Weg zu Eckhart führt über seine freien Tischgespräche, denen intensiv zu lauschen eine Wonne ist.
Eckhart pries, sich darin als echter Dominikaner erweisend, den wahren Gehorsam als «eine Tugend vor allen Tugenden21». Der Gehorsam spielt im Mönchsleben eine bedeutsame Rolle. Ohne ihn vermag ein Kloster auf die Dauer kaum zu bestehen. Als erwachsener Mensch während des ganzen Lebens zu gehorchen, ist eine schwere Verpflichtung. Gewöhnlich wird der tägliche Gehorsam unterschätzt, erfordert er doch viel innere Kraft. Doch darf der Gehorsam nicht nur als eine mönchische Tugend aufgefaßt werden, besonders nicht bei Eckhart, der damit keinen Verdienstgedanken verband. Schon im Alten Testament finden sich die Worte: «Gehorsam ist besser denn Opfer22», und im Neuen Testament heißt es: «Christus war gehorsam bis zum Kreuz23.» Auch Bruder Klaus räumte bei einer Befragung dem Gehorsam den ersten Platz ein. Der religiöse Mensch ist verpflichtet, dem göttlichen Befehl zu gehorchen, selbst wenn es ihn Verzicht und Selbstüberwindung kostet. Am Anfang von Eckharts Unterweisung steht eine harte Forderung, die man nicht schnell übergehen darf, nur weil sie heute nicht zeitgemäß ist.
Eckhart sprach schon damals vom «ledigen Gemüt», das er für unbeirrbar hielt und das deshalb für ihn bedeutsam war. Mit dem durch keine Kreatur gebundenen Gemüt verband er die wichtige Einsicht: «Darum fang zuerst bei dir selbst an, und laß dich!24» Diese Erkenntnis ist die erste Stufe zum Eintritt in das Wesentliche. Solange man die anderen anklagt oder an sie Forderungen stellt, verharrt man im Unfruchtbaren. Die andern richten sich doch nie danach; der Mensch kann nur bei sich selbst beginnen. Eckhart dachte stets konkret und zupackend, wußte auch, daß man bei sich selbst anfangen muß, und wenn man dies nicht tut, wird überhaupt nie begonnen. Nur uns selbst haben wir in der Hand, und dies nicht einmal ganz. Trotzdem: bei uns selbst beginnt der wahre Ernst.
In der vierten Unterweisung führte Eckhart seine zentralen Themen aus: «So weit du ausgehst aus allen Dingen, so weit, nicht weniger und nicht mehr, geht Gott ein mit all dem Seinen25.» Der Leser stutzt und denkt vielleicht, er verstehe dies nicht. Warte noch ein wenig, Eckhart wird dies in seinen späteren Predigten noch weit angriffiger ausführen, so daß man nicht mehr von Schwerverständlichkeiten reden kann. Vorläufig fährt er weiter: «Die Leute brauchten nicht soviel nachzudenken, was sie tun sollten; sie sollten vielmehr bedenken, was sie wären. Nicht gedenke man Heiligkeit zu gründen auf ein Tun; man soll Heiligkeit vielmehr gründen auf ein Sein. Denn die Werke heiligen nicht uns, sondern wir sollen die Werke heiligen26.» Damit hat Eckhart die Position bezogen, die er nie mehr verlassen wird: Es kommt auf das Sein an. Natürlich ist es auch wichtig, was der Mensch denkt, aber entscheidend ist, daß er das auch verkörpert, was er bei sich überlegt und ausspricht. Dauernd zu fragen: «Was sollen wir tun?» führt zu nichts, zumal es schon im Alten Testament heißt: «Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was Gott von dir fordert27.» Ebensowenig genügt ein bloßes Postulieren, gilt es doch zu verwirklichen, was man zu wollen vorgibt. Auf das Realisieren kommt es an; Heiligkeit gründet sich tatsächlich auf ein Sein. Der Heilige ist eine Seinsgestalt, das ist gerade das Ungewöhnliche an ihm. Wenn man das persönliche Sein nicht ernst nimmt, verflattert alles wie Spreu vor dem Wind.
Dann mahnt Eckhart, daß «des Menschen Gemüt gänzlich zu Gott gekehrt sei. Darauf setze all dein Studieren, daß dir Gott groß werde28.» Dies ist der entscheidende Satz; Eckharts Geist beginnt das Feuer zu entfachen, daß Funken sprühen. Und sollte alles, was man von Eckhart liest, wieder aus dem Gedächtnis entschwinden, eines darf man nie, nie mehr vergessen: «daß dir Gott groß werde»! Vieles entfällt einem im Leben, aber diese eine Zielsetzung muß man unbedingt festhalten. Sie gehört zum zentralen Anliegen Eckharts, eine Aufforderung, mit der die Menschen nie zu Ende kommen. Sie stellen sich Gott gerne und immer wieder in menschlicher Weise vor, mögen sie sich das eingestehen oder nicht, es ändert nichts daran. Sie reden von Gott, als wäre er ein kleiner Gott, schon die gedankenlose Rede vom «lieben Gott» grenzt gewöhnlich an einen Mißbrauch seines Namens. Unsere Rede von Gott verrät meistens nur unsere geringe Ahnung von ihm. Der lebendige Gott kann zuweilen einen Menschen überfallen, daß er den Ewigen als wahre Qual erlebt. Jedenfalls geht es in der Beziehung des Menschen zu Gott immer um das Sein oder Nichtsein – anders hat noch niemand die Unmittelbarkeit Gottes erlebt. Die engen Gedanken und kleinlichen Vorstellungen halten die Christen gefangen. Dabei gälte es doch, die ganze Kraft daran zu setzen, von Gott stark zu reden, und redete man groß von ihm, ist es immer noch nie groß genug. Denn solange der Mensch meint, Gott mit seinem Wissen einfangen zu können, so lange ist er noch von Gott entfernt. Der Christ hat alle Gottesbegriffe und Gottesformulierungen beständig zu überschreiten, weil nichts davon Gott wirklich entspricht. «Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen und alle Kreatur29.» Wertvoll ist einzig die persönliche Gotteserfahrung, sie allein überwindet alle Zweifel und bringt den Menschen zum inneren Beben. Der wesenhafte Gott ist der lebendige Gott, für den der brennende und doch nie verbrennende Dornbusch ein Gleichnis ist. Das ganze theologische Studium und...
Erscheint lt. Verlag | 24.4.2024 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
Schlagworte | Biografie • Biographie • Gott • Mystiker • Mystizismus • Religion |
ISBN-10 | 3-257-61446-2 / 3257614462 |
ISBN-13 | 978-3-257-61446-6 / 9783257614466 |
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