Der christliche Narr (eBook)

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
416 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61444-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der christliche Narr -  Walter Nigg
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Das Menschenbild der Antike war der Weise. Salomo, Lao Tse und Konfuzius, sie alle verherrlichten den weisen Menschen. Unvergänglich ist das Hohelied, das Plato über den Weisheitsliebenden angestimmt hat. Das Christentum entthronte die Weisheit und lobte den heiligen Narren. Diese Umwälzung hielt nicht lange an. Der christliche Narr mit seinem Hinweis auf die Übervernunft taucht aber immer wieder auf. An ausgewählten Beispielen zeigt Walter Nigg das dramatische und zugleich beglückende Leben christlicher Narren: Erasmus von Rotterdam (?Das Lob der Torheit?), Ordensstifter Philipp Neri und Heinrich Pestalozzi. Beispielhaft in der Literatur sind Miguel de Cervantes' ?Don Quixote? und Dostojewskijs ?Idiot?.

Walter Nigg, geboren 1903 in Luzern, war Professor für Kirchengeschichte in Zürich und wirkte als protestantischer Pfarrer im zürcherischen Dänikon, wo er 1988 starb. Neben Heiligen, Ordensgründern, Propheten und Mystikern handeln seine Bücher auch von Künstlern und Dichtern und nicht zuletzt von Ketzern, die er als »verunglückte Heilige« verstand.

Palladius erzählt in seinem «Leben der heiligen Väter» eine selten erwähnte Begebenheit, die jedoch, je weniger sie beachtet wird, ein um so stilleres Leuchten ausstrahlt. Auf den innerlichen Leser wirkt sie wie ein geistliches Miniaturbild, nicht unähnlich jenen Initialzeichnungen, die man in alten, von Mönchshand abgeschriebenen Bibeln findet. Trotz der Kleinheit erzeugt eine solche Miniaturzeichnung oft einen stärkeren Eindruck als ein in großen Zügen hingeworfenes Freskogemälde. Wie eine liebevolle und fein ausgeführte Malerei steht der unscheinbare Bericht des Palladius da, an dem man immer wieder neue Schönheiten entdeckt.

Nach dem Versinken des apostolischen Zeitalters dauerte es lange, bis der erste Mensch kam, der die freiwillige Narrheit auf sich nahm. Unerwarteterweise war es eine Frau. Wie war es nur möglich, daß ein weibliches Wesen zuerst wieder auf eine der tiefsten christlichen Wahrheiten stieß? Kam es daher, weil in religiöser Beziehung «die Frauen es immer einen halben Meter vor den Männern wissen », wie Hermann Kutter einmal sagte?1 Wie dem auch sei, an dem tatsächlichen Befund läßt sich nicht rütteln: der Reigen der christlichen Narren wird in der alten Christenheit von einer Nonne eröffnet, die kaum eine Nachfolgerin gefunden hat.

Es war im Nonnenkloster zu Tabenna, darin sich «auch eine Jungfrau befand, die sich den Anschein gab, als ob sie verrückt und besessen sei. Darum hegte man allgemein solchen Abscheu vor dieser, daß keine mit ihr essen wollte; sie aber hatte das freiwillig auf sich genommen. Sie weilte beständig in der Küche, tat jede Arbeit, war sozusagen das Wischtuch des Klosters und erfüllte so, was geschrieben steht: Dünkt sich jemand weise zu sein unter euch, der soll ein Tor werden, auf daß er weise werde! Mit einem Lumpen hielt sie den Kopf umhüllt, während die andern geschoren waren und Kapuzen trugen. So war sie angetan und versah den Dienst einer Magd. Keine von den vierhundert sah sie jemals essen während der vielen Jahre; sie setzte sich niemals zu Tisch, genoß kein Stücklein Brot und war mit dem zufrieden, was sie beim Spülen der Geschirre fand. Sie kränkte niemand, murrte nicht, sagte weder viel noch wenig, obgleich sie beschimpft, geschlagen, verwünscht und verächtlich behandelt wurde2.» Palladius’ Schilderung ist kurz und läßt viele Fragen offen, die der neuzeitliche Forscher gerne wissen möchte. Es wird nichts über Herkunft und Werdegang der allseitig geringgeschätzten Nonne ausgeführt. Nur die Verachtung, die der angeblich verrückten Schwester entgegengebracht wurde, ist deutlich vermerkt. Die bösen Worte und harten Schläge, die sie über sich ergehen lassen mußte, mögen den modernen Leser des «Lebens der heiligen Väter» davor bewahren, sich das altchristliche Klosterleben allzu ideal vorzustellen. Wenn das monastische Leben auch eine religiöse Einrichtung ist, so hat es doch immer noch an der Unvollkommenheit und der gebrechlichen Einrichtung der Welt Anteil, was in dieser geistlichen Miniaturzeichnung mit Wahrheitsliebe festgehalten ist. Den Dienst einer Magd im Kloster verrichtend, steht die Nonne scharf umrissen da. Sie war nicht einmal gleich gekleidet wie die Mitschwestern, denn sie trug einen um den Kopf gewickelten Lumpen und wurde schlechthin als das «Wischtuch des Klosters» behandelt. In diesem einen Ausdruck liegt ein ganzes, nicht auszuschöpfendes Leben beschlossen.

Wahrscheinlich wäre die ausdrücklich dem Pauluswort nachlebende Einfältige in ihrer Stellung als Spülmagd bis zu ihrem Tode geblieben, wenn sie darüber hätte entscheiden können. Allein, ein ganz unerwartetes Ereignis brachte eine Wendung in ihr klösterliches Küchendasein. Im Porphyrgebirge hatte der heilige Piterum eine Vision, in der ein Engel zu ihm sagte: «Was bist du stolz auf deine Frömmigkeit und dein weltfernes Leben? Willst du ein Weib sehen, das frömmer ist als du, so geh’ nach dem Frauenkloster der Mönche von Tabenna! Dort wirst du eine finden, die einen Lumpen um den Kopf gebunden hat; diese ist besser als du; denn obgleich sie von allen Seiten Unbill erfährt, hat sie niemals ihr Herz von Gott gewendet; du dagegen sitzest hier, deine Gedanken aber schweifen in den Städten umher3.» Die Leute machen sich gewöhnlich von den Visionen falsche Vorstellungen. Zu oft sehen sie darin nur eine Bevorzugung, deren sie auch gerne teilhaftig werden möchten. In Wirklichkeit lassen Entrückungen, und mögen sie bis in den dritten und vierten Himmel sich ereignen, die Menschen nicht nur unaussprechliche Süßigkeiten kosten. Sie dienen keineswegs bloß einer religiösen Selbstbefriedigung, wie die Draußenstehenden argwöhnen. Die Verzückung, die den heiligen Piterum überkam, war alles andere als schmeichelhaft. Sie zertrümmerte mit einem Schlag seine selbstgerechte, stolze Einbildung auf seine tugendsame Frömmigkeit. Wie in einem ungebetenen Spiegel sah sich plötzlich Piterum in dieser Vision wohl mit dem Körper in der Zelle sitzend, mit dem Geist aber flatterte er in der Welt herum. Das Engelwort drang durch alle Wände der Selbstgenügsamkeit: «Willst du ein Weib sehen, das frömmer ist als du …», womit der Gottesbote ihm zu verstehen gab, daß es mit seiner Christlichkeit trotz aller Weltfremdheit nicht zum besten bestellt sei. Piterum erlebte eine unangenehme Demütigung; es gereicht ihm einzig zur Ehre, daß er sich ihr beugte und sich nicht vor ihr in nutzlose Selbstrechtfertigungen flüchtete.

Obgleich Piterum sonst nie seine abgelegene Einsiedelei verließ, machte er sich nach der Vision auf den Weg nach Tabenna. Der Ruf seiner Heiligkeit verschaffte ihm ohne weiteres Einlaß im Kloster, und er wünschte die Nonnen zu sehen. Die Vorsteherin stellte sie ihm alle vor, aber nach Piterums Vision fehlte gerade die unter ihnen, die er suchte. Auf seine Frage, ob dies alle seien, erwiderten die Nonnen: «Eine haben wir noch in der Küche draußen; aber die ist närrisch.» «Führt sie herein », sprach Piterum, «ich möchte sie sehen.» Die Nonnen gingen hinaus und versuchten, die gewünschte Schwester zu holen, aber die angebliche Närrin weigerte sich kurzerhand, hineinzugehen, ahnend, daß ihr Geheimnis verraten werden könnte. Doch die andern zogen sie mit Gewalt und sagten: «Der heilige Piterum wünscht dich zu sehen.»

Als Piterum nun die eintretende Nonne sah, ereignete sich eine höchst überraschende Szene, auf die keine der Schwestern vorbereitet war und die mit Blitzesschnelle die bisherige Situation ins Gegenteil umkehrte. Zu ihrem maßlosen Erstaunen fiel der heilige Piterum alsogleich vor dem «Wischtuch des Klosters » zu Füßen und sagte zu ihm: « Segne mich!» Im gleichen Moment kniete jedoch auch die verachtete Nonne nieder und bat Piterum: «Segne du mich, Herr!», die einzige verbale Äußerung, die von diesem ganz in die Welt des Schweigens eingetauchten Menschen überliefert ist. Über die beinahe komische Situation dieses gegenseitigen Wunsches, gesegnet zu werden, wunderten sich die verdutzt zuschauenden Nonnen aufs höchste. Sie konnten das Geschehen in keiner Weise begreifen, glotzten einander nur fassungslos an und sprachen schließlich zu Piterum: «Vater, laß dich doch nicht zum besten halten. Sie ist ja närrisch.» Piterum aber antwortete: «Ihr seid närrisch; denn sie ist meine und eure Mutter – so nennen sie jene, die ein Leben des Geistes führen –, und ich wünsche nur ihrer würdig befunden zu werden am Tage des Gerichtes4.» Ein größeres Lob hätte er ihr gar nicht zollen können. Der kniende Piterum hebt die verachtete Närrin über alle Insassen der Klostergemeinde und möchte so werden, wie sie ist. Welch zarte religiöse Schönheit steckt doch in dieser einen Ausführung des geistlichen Miniaturbildchens.

Nach dieser unerwarteten Mitteilung Piterums kam eine wirkliche Betroffenheit über die versammelten Nonnen. Mit Schrecken gewahrten sie, wie unchristlich sie die begnadete Küchenmagd behandelt hatten. Sie fielen der Verachteten ebenfalls zu Füßen, und jede gestand ein anderes Vergehen, dessen sie sich schuldig gemacht hatte. Die eine bekannte, sie mit Spülwasser begossen zu haben, die andere, sie so stark geschlagen zu haben, daß sie blaue Flecken bekommen hatte, und die dritte klagte sich an, ihr die Nase mit Senf bestrichen zu haben. Alle ohne Ausnahme hatten sich ihr gegenüber gar nicht als fromme Klosterschwestern benommen, sondern sich die unstatthaftesten Übergriffe erlaubt und baten nun voll Reue für ihr häßliches Verhalten um Verzeihung.

Die Närrin im Kloster wollte nicht Ruhm und Ehre bei den Schwestern genießen und fand die vielen Abbitten lästig. Sie fühlte sich in ihrer verborgenen Herzensgemeinschaft mit Gott ertappt «und entwich nach wenigen Tagen aus dem Kloster. Wohin sie ging, wo sie sich verbarg und wo sie gestorben ist, hat niemand erfahren5.» Mit diesen Worten schließt der kurze Bericht über diese unbekannte Nonne, die sich « den Anschein » gab, als «ob sie verrückt sei», und in Wirklichkeit das Leben einer Heiligen geführt hat.

Palladius’ Ausführungen sind tatsächlich nur eine feinsinnige Miniaturzeichnung, die nicht gestattet, eine biographische Skizze dieser weiblichen Närrin zu schreiben. Dafür ist das ihr gewidmete Kapitel im Leben der Altväter viel zu fragmentarisch und ließe der Phantasie einen allzu großen Spielraum. Trotzdem ist es voll kostbaren Inhaltes, an dem man sich nicht genug erlaben...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2024
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte Cervantes • Dostojewskij • Erasmus • Literatur • Religion • Theologie • Vernunft • Weisheit
ISBN-10 3-257-61444-6 / 3257614446
ISBN-13 978-3-257-61444-2 / 9783257614442
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