Islamische Philosophie: -  Muhammad Sameer Murtaza,  Matthias Langenbahn,  Ecevit Polat,  Hakan Turan,  Hamid Reza Yousefi,  Mohamed

Islamische Philosophie: (eBook)

Band 5: Islamopäische Philosophie
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
252 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-14273-3 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
12,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Wie kann die Philosophie dekolonisiert werden? Einen wichtigen Beitrag zu diesem Projekt kann ihre Geschichtsschreibung leisten, und gerade der Blick auf die islamische Geschichte in Europa bietet Ansätze für eine Transformation in globaler Perspektive. Die Auseinandersetzung mit dem Islam in Andalusien wirft nämlich grundlegende Fragen zum Umgang mit den europäischen Narrativen und Denktraditionen auf. Ebenso stellen sich ethische Fragen nach der Rolle von Religion und Islamfeindlichkeit in der europäischen Philosophiegeschichte sowie Aneignung von intellektuellem Erbe. Anhand der Philosophiegeschichte Andalusiens muss die Frage gestellt werden: Brauchen wir eine neue Philosophiegeschichtsschreibung?

Muhammad Sameer Murtaza ist Islam- und Politikwissenschaftler, islamischer Philosoph und Buchautor. Als freier Mitarbeiter wirkt er bei der Stiftung Weltethos, wo er zu Gegenwartsströmungen im Islam, islamischer Philosophie, Gewaltlosigkeit im Islam und Islam und Weltethos forscht. Weiter wirkt er als wissenschaftlicher Gutachter bei der renommierten in Pakistan herausgegebenen islamwissenschaftlichen Fachzeitschrift Hamdard Islamicus mit. Er ist gefragter Vortragsredner und publiziert in verschiedenen Magazinen und Tageszeitungen.

Ibn Bāğğa: Wie man vernünftig unter unvernünftigen Menschen lebt

Muhammad Sameer Murtaza

Im 8. Jahrhundert war die westgotische Herrschaft über die Iberische Halbinsel durch innere politische Zwistigkeiten und christliche Pogrome gegen Juden erschüttert. Sehr selbstbewusst hielt die muslimische Seite unter Führung der Umayyaden die Zeit für gekommen, das zerfallende und ins Chaos abgleitende Westgotenreich durch eine bessere Herrschaft zu ersetzen, um so die Ordnung wiederherzustellen, und so setzte der berberische Feldherr Tāriq ibn Ziyād (gest. 720) 711 mit 7.000 Soldaten auf das europäische Festland über. Sein Landungsort ist bis heute unter dem Namen Gibraltar, ğabal Ṭāriq (Berg des Tāriq) bekannt. Innerhalb der nächsten drei Jahre eroberten er und sein später dazugestoßener Oberkommandierender Mūsā ibn Nusair, Statthalter der Provinz Ifriqiya (Tunesien, Ostalgerien, Tripolitanien), mühelos Portugal und Spanien. Bis nach Narbonne in Südfrankreich reichte der Einflussbereich der Umayyaden, bis deren Truppen durch die Schlacht von Tours und Poitiers 732 gestoppt wurden.62 Wolfgang Brunbauer zufolge ein Verlust für Europa, das gut tausend Jahre brauchte, um die Leistungen der islamischen Hochkultur in der Mathematik, Geographie, Medizin, in der Krankenfürsorge und Schifffahrt aufzuholen:

Spanien, vor allem aber Andalusien, war das reichste und blühendste Land, so lange über ihm die Sonne Allahs leuchtete. Erst die viel gerühmte Reconquista und in ihrem Gefolge die Scheiterhaufen der Inquisition verwandelten die Iberische Halbinsel in das Armenhaus Europas.63

Das muslimische Al-Andalus, Umschlagplatz der wissenschaftlichen Errungenschaften der Muslime, der arabischen Literatur sowie der Kenntnisse aus fernen Ländern wie China, Indien, Ägypten und Persien, aber auch von verloren gegangenem Wissen wie dem der Griechen wurde zum neuen intellektuellen und kulturellen Zentrum Europas, zu einem Schrittmacher und Pulsgeber, der den zurückgebliebenen Osten des Kontinents nachhaltig beeinflussen sollte. Die islamische Bildungseinrichtung der madrasa wurde zum Vorbild für die ab dem 13. Jahrhundert stattfindenden Universitätsgründungen wie Cambridge und Oxford,64 samt ihren arabischen Lehrstühlen, die wissbegierig und eifrig arabische Werke übersetzten und diese in bilingualen Editionen veröffentlichten.

Im Zuge des Umsturzes der Umayyaden-Dynastie 750 floh ihr Abkömmling ʿAbd Ar-Raḥmān (731-788) in den Maghreb, wo es ihm aufgrund verwandtschaftlicher Verhältnisse mütterlicherseits gelang, die Gunst der Berber zu erlangen. Mit deren Hilfe eroberte er 755 binnen eines Jahres die Iberische Halbinsel und rief ein souveränes Emirat bzw. Fürstentum aus. Sich bewusst, dass er einen Konflikt mit der neuen muslimischen Zentralmacht, den Abbasiden, nicht überstehen würde, ließ er sogleich verlauten, keine Absichten zu hegen, dass verloren gegangene Kalifat zurückerobern zu wollen.65 Erst unter der Herrschaft ʿAbd Ar-Raḥmān III. (889-961) wagte es die Dynastie der Umayyaden wieder, den Kalifentitel zu führen.

Die muslimische Herrschaft über die Iberische Halbinsel wird gerne von Europäern als eine goldene Zeit des interreligiösen Zusammenlebens verklärt, wodurch zugleich Al-Andalus dahingehend instrumentalisiert wird, es als eine positive Ausnahmeerscheinung muslimischer Herrschaft darzustellen, die ansonsten weiterhin zur europäischen Identitätsbildung negativ gedacht wird. Dabei stellte Al-Andalus gerade keine Singularität dar, sondern sein (damals) fortschrittliches Minoritätenrecht entsprach dem der übrigen muslimisch geprägten Welt. Brunbauer zufolge haben Christen „immer jene am grausamsten verfolgt, die ihnen theologisch am nächsten standen: Juden, Mohammedaner und sog. christliche Ketzer“66, da das Christentum eine Heilsexklusivität beansprucht (siehe Johannes 14,6). Anders im Islam, da durch dessen Heilsinklusivität Juden und Christen steuerpflichtig wurden und somit eine Konversion von politischer Seite keinen Mehrwert brachte. Brunbauer gelangt daher zum Schluss: „Zum ersten Mal in der Weltgeschichte haben Sieger ihre Macht nicht missbraucht, sondern ausgesprochen sinnvoll angewandt.“67

Im muslimischen Mittelalter war es eher die Regel als die Ausnahme, dass Juden und Christen als geschützte Leute (ahl al-ḏimma) von den muslimischen Herrschenden hinsichtlich ihres Lebens, ihrer Religionsausübung, ihrer wirtschaftlichen Freiheit und Bewegungsfreiheit Schutz erfuhren – natürlich waren Juden und Christen mit den Muslimen in der damaligen Zeit nicht gleichgestellt, aber sie waren auch nicht wie im christlichen Europa Leibeigene des Herrschers, sondern Untertanen.68 Sie wurden nicht zur Konvertierung gezwungen, ihre Gemeinden waren autonom und im Geschäftsleben waren sie mit den Muslimen gleichgestellt,69 lediglich in Regierungsämtern fand man sie seltener. Dies wurde in der damaligen Zeit oftmals als Bedrohung der gesellschaftlichen Hierarchie empfunden.70 Vom Militärdienst waren sie befreit, da die Angehörigen der einfachen Bevölkerung weder Krieger waren noch erwartet wurde, dass Menschen, die nicht der islamischen Religion angehören, das islamische Herrschaftsgebiet verteidigen.71 Davon abgesehen fand man sie jedoch in allen Berufssparten: im Färbergewerbe, in der Metallverarbeitung, als Weber, Bäcker, Winzer, Glasbläser, Schneider, Gerber, in der Käseherstellung, in Zuckermanufakturen, der Seidenverarbeitung oder der Landwirtschaft. Dem Historiker Claude Cahen (gest. 1991) zufolge waren alle Religionsgemeinschaften am Handel beteiligt und nicht nur dies, „sie arbeiten und reisen auch zusammen, durch keine Schranke getrennt. Eine bezeichnende Geschichte, mag sie wahr oder erfunden sein, berichtet von islamischen Kaufleuten, die einem jüdischen Kaufmann, dem Unrecht geschehen ist, empört zu Hilfe eilen.“72 Dies macht deutlich: Im Wirtschaftsleben standen Juden, Christen und Muslime ständig miteinander in Kontakt und es gab dadurch einen Raum, konstruktive und menschliche Beziehungen entstehen zu lassen.73 Fast schon märchenhaft klingt der arabische Ausdruck von der Ehrlichkeit der Juden (ḥaqq al-yahūd), der Zeugnis über das Ausmaß der Vertrautheit beider Religionsgemeinschaften gibt.74 Rabbi David Rosen bezeichnet das muslimische Mittelalter sogar als ein Goldenes Zeitalter jüdisch-muslimischen Zusammenlebens75:

Die mittelalterliche islamische Zivilisation erreichte zwischen den Jahren 900 und 1200 ihre produktivste Phase und die jüdische Kultur in der islamischen Welt zog nach. Während dieser Phase wurden einige der größten Werke der jüdischen Philosophie, Grammatik, Rechts- und Sprachwissenschaft sowie Lexikographie verfasst, parallel zu den Fortschritten der islamischen Welt in diesen Gebieten. Die jüdische Poesie in Hebräisch erlebte ebenfalls in dieser Zeit eine Renaissance und ihre Versfüße, Stile und Inhalte entwickelten sich parallel zu denen des Pendants im muslimischen Arabisch. Nirgends war dies ausgeprägter als in Spanien, wo die jüdische Kultur nebst dem Aufblühen der islamischen und säkularen Wissenschaften und Kultur in der gesamten Region erblühte, die im Arabischen als al-Andalus bekannt ist. Die relativ offene Gesellschaft in al-Andalus wurde aufgehoben und endete schließlich als nordafrikanische Armeen kamen, um bei der Verteidigung gegen die spanischen Christen zu helfen, welche die Muslime aus ihren Festungen aus dem Norden nach Süden drängten. Juden wurden unter den islamistischen Berber-Regimen stark eingeschränkt und begannen letztlich in die neu eroberten christlichen Gebiete im Norden zu ziehen. Zu dieser Zeit wurden sie dort besser behandelt.76

Doch mit dem Alhambra-Edikt von 1492, das vorsah, Juden aus allen Gebieten der spanischen Krone zu vertreiben, verschlechterte sich ihre Lage dramatisch. In ihrer Not suchten sie Zuflucht in den muslimischen Gebieten Nordafrikas und den Städten des Osmanischen Reiches. Rabbi Leo Trepp (gest. 2010) schreibt hierüber: „Der Sultan machte sich über den König von Spanien lustig, der seine wertvollsten Bürger vertrieben hatte. Da Palästina zum Osmanischen Reich gehörte, kehrten viele Juden dorthin zurück und gründeten in Safed ein neues Zentrum.“77

Als Untertanen mussten Juden und Christen als ahl alḏimma eine Steuer entrichten, die Schutzabgabe (ğizya). Von ihr befreit waren a) Frauen, b) Kinder und Jugendliche, c) alte Männer, d) kranke und behinderte Männer sowie e) Rabbis, Priester und Mönche – also allesamt Personen, die keinen Wehrdienst leisten konnten.78 Sicherlich, von Zeit zu Zeit trieben muslimische Herrscher Schindluder, indem sie die ğizya exorbitant erhöhten. Streng genommen stellte dies sogar nach dem islamischen Recht, wonach die ğizya nicht höher als die zakāt (rituelle Pflichtabgabe eines jeden Muslims) ausfallen darf, einen Missbrauch dar.79 Dennoch wurde...

Erscheint lt. Verlag 10.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Islam
ISBN-10 3-384-14273-X / 338414273X
ISBN-13 978-3-384-14273-3 / 9783384142733
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,8 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich