Pu, Mumin und die Kunst des Lebens (eBook)

Zur modernen Entwicklungspsychologie kleiner Wesen
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
166 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-9156-9 (ISBN)

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Pu, Mumin und die Kunst des Lebens -  Ingo Engelmann
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Die Lebenskunst von Pu-Bär und den Mumintrolls ist legendär. Sie zeigen dabei wesentliche Merkmale der modernen Entwicklungspsychologie, insbesondere Mentalisierungsaspekte tauchen immer wieder auf. Anhand einer Fülle von Textpassagen mit psychologischen Verknüpfungen zeigt der Autor die Lebenskunst dieser kleinen Wesen aus den bekannten Kinderbüchern von A.A. Milne und T. Jansson.

Dr. phil, Dipl.-Psych., geb. 1951. fast vierzig Jahre psychiatrischer Tätigkeit als Psychotherapeut und Musiktherapeut. Fotograf und Publizist.

1.3. Drittes Kapitel (In dem es um eine zentrale Frage geht: Wer bin ich – und muss das unbedingt sein?)


Die eigene Identität muss immer wieder vermessen werden. Die Grenzen muss man gut kennen, sonst gibt es blaue Flecken, wenn man irgendwo gegen stößt. Wenn ich in meiner Wohnung nachts kein Licht anmache, finde ich mich trotzdem zurecht, ohne mir weh zu tun: ich kenne mich da gut aus, weiß wo die Stühle stehen und mit ihren Stuhlbeinen meine Schienenbeine bedrohen, ich habe meine vertraute Umgebung eigentlich fast verinnerlicht, zu einem Teil meiner Selbst werden lassen. Innerhalb dieser Begrenzung, meiner Haut, befinde ich mich selbst. Außerhalb ist das Andere: Stuhlbeine, Türrahmen und alles.

Das Verhältnis von innen und außen, Identität und Beziehung, zieht sich wie ein roter Faden durch die Erlebnisse von Pu und seinen Freunden. Ob der eigene Name oder der an der Wohnungstür, ob die eigene Stimme oder die Stimme des Nichts, ob ein Besuch bei einem Freund oder bei sich selbst – immer geht es um die Grenzerfahrung „hier bin ich, da bist du, und musst du mir eigentlich so einen Schreck einjagen?“.

Es war einmal vor einiger Zeit, und diese Zeit ist schon lange, lange her, etwa letzten Freitag, als Winnie-der-Pu ganz allein unter dem Namen Sanders in einem Wald wohnte.

(„Was heißt ‚unter dem Namen‘? fragte Christopher Robin.

Es heißt, dass er den Namen über der Tür in goldenen Buchstaben hatte und dass er darunter wohnte.“) (14)

Die Identität ist eine komplexe Angelegenheit: der Name kann davon abhängen, was für ein Schild über der Tür hängt (das könnte zum Beispiel damit zu tun haben, wer vorher da gewohnt hat – also die Biografie der Lebensumstände, oder damit, wer da jetzt wohnt - also die eigene Biografie, oder was für ein Schild mit goldenen Buchstaben man beim letzten Spaziergang durch den Wald in einem Haufen am Wegesrand gefunden hat, der eigentlich nur aus Gerümpel bestand, das jemand anders nicht mehr brauchte - also eine gesellschaftliche Variante der Biografie) .

Das Ferkel wohnte in einer großartigen Wohnung inmitten einer Buche, und die Buche stand inmitten des Waldes, und das Ferkel wohnte inmitten der Wohnung. Gleich neben der Wohnung stand ein zerbrochenes Schild, auf dem „BETRETEN V“ stand. Als Christopher Robin das Ferkel fragte, was das zu bedeuten habe, sagte es, das sei der Name seines Großvaters, ein Name, der schon lange in der Familie sei. Christopher Robin sagte, man könne nicht Betreten V heißen, und Ferkel sagte, doch, das könne man, sein Großvater habe ja so geheißen und es sei die Abkürzung von Betreten Vic, welches die Abkürzung von Betreten Victor sei. Und sein Großvater habe zwei Namen gehabt, für den Fall, dass er mal einen verlöre: Betreten nach einem Onkel, und Victor nach Betreten.

Ich habe auch zwei Namen“, sagte Christopher Robin leichtsinnig.

Siehst du, das beweist es ja“, sagte Ferkel. (42)

Ferkel wohnt zwar nicht unter (wie Pu), sondern neben dem Namen, aber auch dieser Name stiftet Identität durch seinen Familienkontext und durch sein Vorhandensein. Er ist da, und dann wird er wohl auch was zu bedeuten haben. Große, mittlere und meist sogar kleine Leser bzw. Zuhörer wissen, was es zu bedeuten haben könnte. Man ahnt, dass der Ursprung dieses Schildes ein ganz anderer ist als Namensgebung für eine alteingesessene Ferkel-Sippe, eher Sitte und Anstand, Ordnung und Bürger-schützt-eure-Anlagen, eben „Betreten verboten“. Aber ist diese Ansammlung von Über-Ich-Säulen nicht auch identitätsstiftend? Sein Name sei Friedefürst, Himmelsheld… was gibt es nicht alles für Namen. Ende des 19. Jahrhunderts war „Anna“ der meist getragene Name bei den Mädchen. Über hundert Jahre später, in den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts hingegen war der beliebteste Mädchenname - „Anna“. So wird Identität gestiftet… (die Sache mit den Namen taucht auch bei den Mumins und ihren Freunden auf, aber das ist erst in Kapitel 14 dran).

Die Namensverleihung führt nicht automatisch dazu, dass das namentlich identifizerte Wesen nun auch gleich mentalisieren könnte. Es reicht nicht aus zu behaupten, man habe einen Großvater gehabt. Wenn die Familienstruktur (dazu gehört der Name, mit dem man als einer Familie zugehörig erkannt werden kann) nur durch die Generationenzugehörigkeit definiert wird, wenn andere in der Familie keine psychologischen oder bindungsbezogenen Bedeutungen haben, dann ist das meist mit einem eher niedrigen Niveau reflexiver Fähigkeiten (RF) verknüpft. Auf der neunstufigen Skala der Reflexionsfähigkeit (die gibt es tatsächlich!) würde Ferkel mit seiner Großvater-Story vielleicht gerade mal eine drei erhalten, und das ist ja nun echt nicht so viel. Mentalisieren und reflektieren sind nicht Ferkels große Stärke.

Reflexive Fähigkeiten ergeben sich im Mentalisierungsprozess durch das Ins-Verhältnis-Setzen der inneren und der äußeren Welt. Wenn man beispielsweise nur so tut, als ob man ein großer Räuber wäre und sich so durch die Welt rockert, dann weiß irgendwann jeder, dass man diese Rolle nur spielt, und kriegt nicht im mindesten die Angst, die ein so großer Räuber hervorrufen sollte (Als-ob-Modus). Wenn man aber selbst mit einer so großen Angst durch die Welt läuft, dass sie nur durch die (vermutete) permanente Anwesenheit einer größeren Ansammlung von Räubern erklärt werden kann (Äquivalenz-Modus), dann hält man nur noch nach diesen Räubern Ausschau und ist sich ganz sicher, dass sie spätestens hinter dem nächsten großen Busch lauern, weswegen man lieber umkehrt und lieber doch nicht den Weg weiter zur Schule geht, wie von der Mutter beauftragt. Erst wenn diese beiden Modi durch Reflexion des realen Verhältnisses meiner inneren und der realen äußeren Welt relativiert werden können, verlieren die Räuber der Welt ihre Bedrohlichkeit, man hat sich an sie gewöhnt, lässt sie einfach links liegen hinter ihrem Busch und geht gelassen zur Schule, es wird langweiliger und man selbst wird wieder mal ein Stück erwachsener, steigt eine (Reifungs-)Stufe höher.

Er ging froh vor sich hin und fragte sich, was wohl alle anderen machten und was das für ein Gefühl wäre ein anderer zu sein. (33)

Hier betreten wir das Allerheiligste der „Theory of Mind“ und der Mentalisierungskonzepte. Pu besteigt die Stufe der Intersubjektivität (wie es der Säuglingsforscher D. Stern nennt). Rumpeldipumpel, auf dem Hinterkopf, und noch eine Stufe höher… Sich einen anderen vorstellen und ihn oder sie als eine andere Person verstehen zu können ist eine erhebliche Leistung in der Entwicklung des Selbst, wo doch am Anfang zunächst das symbiotische Verfließen mit dem anderen zu einer grandiosen Ganzheit gehörte. Aber dann fängt man an zu verstehen, dass die andere (meist handelt es sich um die Mutter) nicht automatisch alles sieht und hört, was man selbst sieht und hört, manchmal muss man ausdrücklich auf etwas zeigen und zur Mutter gucken, ob sie auch überhaupt hinsieht. Vorher guckte der kleine Pu noch zu dem gezeigten Spielzeug hin und konnte gar nicht sehen, ob Mama auch hinguckt, weil er noch gar nicht wusste, dass nicht jede Mama genau dasselbe sieht wie er auch. Was für eine Kinderei, dachte er später, und fragte sich, was es denn für ein Gefühl sei, ein anderer… (Zugegeben: diese Verallgemeinerungen erfinde ich jetzt einfach so, denn eine Mutter für Pu – die hat A.A. Milne nicht erwähnt, nirgends vorgesehen, das ist jetzt nur phantasiert).

Die Dissoziation von der eigenen Person verläuft nicht immer so reflektiert wie im vorgenannten Beispiel, in dem Pu über das Anderssein nachdenkt. Als Kaninchen ihn wieder einmal schwindlig geredet hat und die warme Sommersonne das ihre tut, passiert es dann so:

Ferkel gab Pu einen Stups, der Pu erstarren lassen sollte, und Pu, der zunehmend das Gefühl hatte woanders zu sein, stand langsam auf und begann sich zu suchen. (255f)

Dann wird ihm auf den Kopf zugesagt, dass er nun ja mal wieder gar nicht zugehört habe, und er redet sich mit einem Stück Pelz raus, das ihm ins Ohr gekommen sei. Es ist für ihn (noch) nicht an der Zeit, sich darüber mehr Gedanken zu machen, was wohl mit einem los ist, wenn man sich selbst woanders sucht als man gerade ist.

Auch anders herum sammelt Pu Erfahrungen damit, wie es ist, wenn eine bestimmte Person sie selbst ist oder eben gerade sie selbst nicht ist (oder zumindest nicht sein will, jetzt gerade im Augenblick eben mal nicht). Er kommt zu Kaninchens Bau und ruft in das Eingangsloch:

Ist jemand zu Hause?“ Plötzlich hörte man innen im Loch ein Trippeln und dann war es wieder still.

Ich sagte ‚Ist jemand zu Hause?‘“ rief Pu sehr laut.

Nein!“, sagte eine Stimme, dann fügte die Stimme hinzu: „Du brauchst nicht so laut zu rufen. Beim ersten Mal habe ich dich...

Erscheint lt. Verlag 25.1.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Entwicklungspsychologie • Kinderbuch • Mentalisierung • Mumin • Pu der Bär
ISBN-10 3-7583-9156-3 / 3758391563
ISBN-13 978-3-7583-9156-9 / 9783758391569
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