Gedanken hinter Gittern -  Andy West

Gedanken hinter Gittern (eBook)

Wie wir lernen, frei zu sein

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
432 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-25793-4 (ISBN)
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Kann man im Gefängnis freier sein als draußen? Könnten wir jemals »gut« sein, wenn wir nie Scham oder Reue empfänden? Was macht einen Menschen der Vergebung würdig?
Andy West unterrichtet Philosophie in Gefängnissen. Er führt mit den Insassen Gespräche über ihr Leben, erörtert ihre Ideen und Gefühle und hört ihnen zu, wenn sie neue Wege finden, um über ihre scheinbar ausweglose Situation nachzudenken. Doch immer wenn er ein Gefängnis betritt, wird er auch mit seiner eigenen Familiengeschichte konfrontiert: Sein Vater, sein Onkel und sein Bruder saßen alle hinter Gittern. Andy hat sich zwar ein anderes Leben aufgebaut. Tief drinnen fürchtet er aber immer noch, dass deren Schicksal auch das seine sein könnte. Während er mit seinen Schülern über drängende Fragen von Wahrheit, Identität und Hoffnung diskutiert, sucht er gleichzeitig auch selbst nach seiner eigenen Form der Freiheit. Bewegend, einfühlsam, weise und oft auch witzig: »Gedanken hinter Gittern« ist eine ungewöhnliche und gelungene Mischung aus Erzählung und sanfter philosophischer Hinterfragung von vermeintlichen Wahrheiten.

Andy West ist Philosophiedozent, Konfliktmediator und Publizist. Seine Artikel sind bei The Guardian, Aeon, 3:AM Magazine, The Big Issue, openDemocracy, The Times Education Supplement und Bloomsbury erschienen. »Gedanken hinter Gittern« ist sein erstes Buch. Er lebt in London und arbeitet für The Philosophy Foundation. Seit 2015 unterrichtet er Philosophie in zahlreichen britischen Gefängnissen.

Freiheit


Drinnen kannst du mit einer Seite deines Wesens ganz allein sein,

wie ein Stein am Brunnengrund,

doch die andere Seite

muss sich so sehr ins Weltgetümmel mischen,

dass du drinnen erzitterst,

wenn draußen, vierzig Tage entfernt, ein Blatt sich regt.

Nâzim Hikmet

Es sind nun paar Monate vergangen, und ich trage bei meinen wöchentlichen Besuchen im Gefängnis stets meine Halbschuhe aus weichem Leder, die ich auch sonst fast immer bevorzuge. Ich bin jüngst von einer dreiwöchigen Thailandreise, die ich allein unternommen habe, zurückgekehrt. Meine Haut ist braun gebrannt, und mein Haar hat jetzt einen karamellbraunen Farbton. Ich gehe durch die mit Neonröhren beleuchteten Gänge des Gefängnisses zu unserem Unterrichtsraum. Aus der anderen Richtung kommt mir ein von Vollzugsbeamten bewachter Mann entgegen. Er hat ein blasses Gesicht, und unter seinen Augen pellt die schuppige Haut ab. Ich streife rasch meine Hemdsärmel hinunter, um meine Sonnenbräune zu verbergen. Dann betrete ich das Klassenzimmer und schreibe das heutige Unterrichtsthema an die Tafel: »Freiheit«.

Zwanzig Minuten später ruft der wachhabende Beamte draußen auf dem Gang: »Umschluss!« Umschluss bedeutet, dass die Zellentüren entriegelt werden, damit die Männer sich zum Unterricht, zu ihren Werkgruppen oder zu anderen Aktivitäten in andere Räume, die dann verschlossen werden, begeben können, und ein paar weitere Minuten später treffen auch meine Schüler ein, darunter ein vierzig Jahre alter Mann namens Zach. Er trägt graue Sneakers mit Klettverschlüssen. Solche Schuhe bekommen die Gefangenen hier gestellt, wenn sie keine eigenen haben. Er hat die Ärmel seines Pullovers bis zu den Ellenbogen hochgestreift, wodurch man die Dutzenden von länglichen Narben an seinen Unterarmen sehen kann. Im vergangenen Monat war für ihn eine Anhörung angesetzt, bei der darüber entschieden werden sollte, ob der Rest seiner Strafe auf Bewährung ausgesetzt würde, doch am Tag vor dieser Anhörung schlug er einen Mitarbeiter des medizinischen Personals mitten ins Gesicht.

Nach und nach treffen ein paar weitere Männer ein. Einer von ihnen bleibt kurz in der Tür stehen; er ist ein großer Bursche, der Junior genannt wird, und er trägt ein babyrosafarbenes Muskelshirt, damit auch jeder seine runden Schultern und seinen kräftigen Bizeps bewundern kann. Seine Füße stecken in sündhaft teuren Nike-Sneakers, die wie neu aussehen. Ein paar Wochen zuvor war Junior von einem Mitgefangenen gefragt worden, weswegen er einsäße. »Ich bin Unternehmer«, lautete seine Antwort.

Als er den Klassenraum betritt, schüttelt er mir die Hand. »Eine Freude, wieder hier zu sein, Sir«, sagt er mit klangvoller Stimme. Seine geschwungenen, an den Enden spitz zulaufenden Augenbrauen sind sorgfältig gezupft. Dann macht er im Raum die Runde, um jeden Anwesenden mit Handschlag zu begrüßen. Dabei sieht er seinen Mithäftlingen unverwandt in die Augen und redet auch sie mit »Sir« an.

Junior setzt sich auf den Platz neben Zach und spreizt seine weit ausgestreckten Beine. Zach verschränkt die Arme vor der Brust.

Als Letzter kommt Wallace. Er hat einen sehr aufrechten Gang – nicht, um seine stolz geschwellte Brust zu betonen, sondern einfach nur, weil er sich im Schutz seines fassrunden Körpers gut aufgehoben fühlt. Wortlos nimmt er neben Junior Platz.

Wallace lässt sich nur ungern mit anderen Menschen ein; er ist zu zwanzig Jahren verurteilt worden und hat noch vier davon abzusitzen. Er geht niemals in den Fitnessraum, sondern zieht es vor, ganz für sich allein in seiner Zelle zu trainieren. Jeden Tag schreibt er einen Brief an seinen Sohn.

Der Umschluss ist beendet. Ich schließe die Tür.

Ich setze mich in den Kreis zu den Männern. »In Homers Heldenepos«, beginne ich, »führte Odysseus sein Schiff nach Ende der Belagerung Trojas heim nach Ithaka. Unterwegs aber sollten ihm die Sirenen begegnen. Diese Mischwesen aus Mensch und Vogel lebten auf einer Felseninsel mitten im Meer. Ihr Gesang war so betörend, dass ein jeder Mann, der ihn vernahm, wie von Sinnen vor Verliebtheit war und über Bord sprang, um schwimmend die Quelle dieses Gesanges zu ergründen. Dort wurden die dem Wahn verfallenen Seeleute dann Opfer der Sirenen, die sie verspeisten.«

»Keiner, der je den Sirenengesang gehört hatte, überlebte dies, um andere davor warnen zu können«, fuhr ich fort. »Daher befahl Odysseus seinen Männern, sich mit Wachs die Ohren zu verstopfen, um nicht der Verführung durch die Sirenen ausgesetzt zu sein. So konnten seine Leute weiterhin ihren seemännischen Aufgaben nachgehen, das Essen zubereiten oder Taue spleißen.

Aber es musste ja auch jemanden geben, der es hören konnte, wenn der Gesang verklungen war – damit die Männer sich das Wachs nicht zu früh aus den Ohren nahmen«, sage ich. »Also sorgte Odysseus dafür, dass seine Männer ihn am Mast festbanden. So konnte er dem Gesang lauschen, ohne über Bord zu springen. Er gab seiner Mannschaft den Befehl, auf keinen Fall darauf einzugehen, falls er verlangen sollte, wieder losgebunden zu werden.

Sie setzten ihre Fahrt fort. Odysseus vernimmt die Musik. Sie ergreift vollkommen von ihm Besitz, lässt ihn nicht los. Ein unbändiges Verlangen durchströmt ihn, und er fleht darum, losgebunden zu werden, doch seine Mannschaft fährt seelenruhig mit der Verrichtung ihrer täglichen Pflichten fort. Nur einer von ihnen ist schon so lange auf See, dass sein ständiges Heimweh ihn hat abstumpfen lassen. Ihm entgeht nicht, wie verzweifelt Odysseus sich gebärdet. Also hält er in seinem Tun inne und nimmt sich das Wachs aus den Ohren, denn er möchte wissen, wie sich der Sirenengesang anhört. Und schon ist er wie berauscht davon und springt über Bord in den sicheren Tod.

Als sie die Sireneninsel passiert haben, wird Odysseus losgebunden. Doch von diesem Tag an war ihm ständig weh ums Herz, weil er wusste, dass er nie wieder etwas so Schönes zu hören bekommen würde wie den Sirenengesang.«

»Die Sirenen hatten’s echt drauf«, bemerkt Zach. »Die haben sogar on the rocks gelebt.«

Alle Männer lachen. Bis auf Wallace.

Ich stelle eine Frage: »Da waren also nun die Seeleute mit dem Wachs in den Ohren, da war Odysseus, und dann der Mann, der sich das Wachs aus den Ohren genommen hat. Wer von ihnen war wohl der freieste?«

Ich reiche Wallace das faustgroße Bohnensäckchen, das bedeutet, dass derjenige, der es in der Hand hält, mit Reden an der Reihe ist.

»Die Männer mit dem Wachs in den Ohren, das sind die freiesten«, sagt er. »Sie machen einfach ihr Ding. Das ist so ähnlich wie bei uns hier drin, wir brauchen uns nicht darum zu kümmern, irgendwelche Rechnungen zu bezahlen oder Kinder zur Schule zu fahren. Ich habe Freiheiten, die andere Leute nicht haben.«

»Zum Beispiel?«, hake ich nach.

»Ich habe keine Wahl, was ich tun oder lassen soll – genau wie die Seeleute mit dem Wachs in den Ohren.«

Junior beugt sich in seinem Stuhl vor. »Aber wenn du keine Wahl hast, was du tun sollst, bist du auch nicht frei«, sagt er zu Wallace.

»Draußen gerät man viel zu leicht in Scherereien«, sagt Wallace. »Hier drinnen kann ich besser auf mich aufpassen.«

Nach einer kurzen Pause frage ich Junior: »Wer ist deiner Meinung nach der freieste dieser Männer?«

»Odysseus«, antwortet er. »Er ist der Boss. Die Leute haben zu tun, was er sagt.«

»Aber Odysseus ist so unfrei, wie man nur sein kann«, meldet Wallace sich zu Wort. »Was er auch immer Aufregendes erlebt, er wird immer auf der Suche nach einer noch größeren Herausforderung sein und nie genug davon kriegen.«

»Aber Odysseus hat immerhin etwas aus seinem Leben gemacht«, wendet Junior ein.

»Jedes Mal, wenn er sich an etwas erinnert, was er vollbracht hat, quält ihn das nur umso mehr. Da ist man in einer Zelle freier«, sagt Wallace.

»Die Männer mit dem Wachs in den Ohren quälen sich nicht so wie Odysseus, weil sie nie etwas aus ihrem Leben gemacht haben«, erwidert Junior. »Die sind doch bloß Fußsoldaten.«

»Sie verhalten sich so, wie man es von ihnen verlangt«, antwortet Wallace. »So können sie alles tun, was sie tun müssen, um bald wieder zu Hause zu sein.«

»Was wollen die denn zu Hause, wenn das das einzige Leben ist, das auf sie wartet?«, sagt Junior.

Ich gebe das Säckchen an einen Mann namens Keith weiter. Er legt es sich in den Schoß und sagt: »Nun, das kann man auf verschiedene Art und Weise betrachten.«

Als ich mit meiner Arbeit im Gefängnis anfing, erzählte mir der Gefängnisbibliothekar, dass Keith bereits seit dreizehn Jahren säße, eine Einzelzelle hätte und sich alle zwei bis drei Tage ein neues Buch holte, weil er das davor schon wieder durchgelesen hatte. Keith spricht mit einem ausgeprägten Glasgower Akzent, der ihn als einen Angehörigen der Arbeiterklasse ausweist. Ab und zu streut er in seine Redebeiträge Begriffe wie »Nomenklatur« ein. »Man könnte es aus einer neurowissenschaftlichen Perspektive betrachten«, sagt er gerade. Er spricht ziemlich schnell, wie Autodidakten es oft tun – als wollte er sich von der Bürde seiner eigenen Erkenntnisse befreien; doch einige der übrigen Kursteilnehmer beginnen bereits, in ihren Stühlen zusammenzusinken und nur noch zu Boden zu starren.

»Derjenige, der über Bord springt, ist frei – so, wie der Hofnarr auf eine gewisse Weise freier ist als der König«, fährt Keith fort. Am liebsten würde ich ihn unterbrechen. Ich würde ihn sogar nur zu gerne unterbrechen. Für mich ist es...

Erscheint lt. Verlag 10.7.2024
Übersetzer Leon Mengden
Sprache deutsch
Original-Titel The Life Inside. A memoir of Prison, Family and Learning to be Free.
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte 2024 • amerikanisches Justizsystem • eBooks • Freiheit • Gefangenendilemma • Gefängnis • Inspirierend • Lebensgeschichte • Memoir • Neuerscheinung • Philosophie • Rechtsstaat • Wahre Begebenheit
ISBN-10 3-641-25793-X / 364125793X
ISBN-13 978-3-641-25793-4 / 9783641257934
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