Deutsche und Juden -

Deutsche und Juden (eBook)

Dokumentation einer Debatte

Amir Eshel, Thomas Sparr (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
138 Seiten
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
978-3-633-77954-3 (ISBN)
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»Deutsche und Juden - ein ungelöstes Problem« hieß eine Diskussion, die im August 1966 im Rahmen des Jüdischen Weltkongresses in Brüssel stattfand. Fünf Männer ungefähr einer Generation, Deutsche und Juden, fragten, was beide Nationen verbindet und was sie trennt, berichteten von ihren Erfahrungen, Ängsten und Hoffnungen. 21 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Shoah, ein Jahr nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel kamen Historiker und Politiker zum ersten Mal öffentlich zusammen, um sich auszutauschen. Die Konfrontation blieb nicht aus, ungelöste historische Fragen kamen auf, die sich mit politischen Beschwichtigungen nicht aus der Welt schaffen ließen. Diese Debatte dauert bis heute an.

Dieser Band dokumentiert die Beiträge, die damals in der edition suhrkamp erschienen, und ergänzt sie durch neue Beiträge, die das spannungsvolle Verhältnis zweier Nationen neu beleuchten und zeigen, was Deutsche und Juden verbindet, was sie trennt.

Amir Eshel ist Edward Clark Crossett Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University. Von ihm erschienen zuletzt der Band <em>Zeichnungen</em>, gemeinsam mit Gerhard Richter, 2018, und<em> Dichterisch denken. Ein Essay</em>, 2020. Thomas Sparr ist Editor-at-Large des Suhrkamp Verlags. Von ihm erschien zuletzt <em>»Ich will fortleben, auch nach meinem Tod«. Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank</em>, 2023.

»Deutsche und Juden«


Vorwort von Amir Eshel und Thomas Sparr

Am 4. August 1966 fand während des zehntägigen Jüdischen Weltkongresses mit Hunderten von Delegierten in der belgischen Hauptstadt eine Diskussion über »Deutsche und Juden – ein ungelöstes Problem« statt. Eingeladen hatte der damalige Präsident des Jüdischen Weltkongresses Nahum Goldmann, der sowohl das Thema setzte wie die Diskussionsteilnehmer auswählte: fünf Männer, die im Wesentlichen einer, nämlich seiner, Generation angehörten. Zwei davon waren jüdische Historiker, drei nichtjüdische Deutsche, unter diesen wiederum waren ein Historiker, ein Politiker und ein Philosoph. Sie alle waren aus Israel, den USA und aus Deutschland angereist. Der Philosoph Karl Jaspers hatte aus Basel eine Grußbotschaft gesandt, die verlesen wurde.

Beim Attribut »nichtjüdisch« muss man sogleich einschränken: Golo Mann stammte mütterlicherseits aus einer jüdischen Familie, Karl Jaspers war durch seine jüdische Ehefrau Gertrud, von der er sich nicht trennte, dem nationalsozialistischen Terror, der Entrechtung und Bedrohung besonders ausgesetzt. Das galt auf andere Weise auch für Eugen Gerstenmaier.

Einundzwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit Millionen von Toten, darunter sechs Millionen von Deutschen ermordeten Jüdinnen und Juden, trafen sich zum ersten Mal offiziell Deutsche und Juden, um über ihre geteilte Vergangenheit, ihre Gegenwart zu sprechen und einen Blick in die getrennte wie die gemeinsame Zukunft zu wagen.

Die Einladung von Nahum Goldmann zu dieser Diskussion auf dem Jüdischen Weltkongress ist ein fast schon vergessenes historisches Ereignis. Sie war damals ein Politikum – was den Ort anging, Brüssel, das langsam zum Zentrum der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft heranwuchs und die Zentrale der Nato beheimatete. Eine deutsch-jüdische Zusammenkunft wie diese wäre damals in Deutschland noch undenkbar gewesen. Auch der Zeitpunkt, ein Jahr nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel, war politisch aufgeladen; 1966 war auch das Jahr, in dem der 90-jährige Konrad Adenauer zum ersten und einzigen Mal das Land besuchte, und sein Aufenthalt in Jerusalem hätte fast in einem Eklat geendet.

Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Staaten war eine Voraussetzung der Brüsseler Zusammenkunft. Deutsche und Juden begegneten sich von 1965 an formal und protokollarisch als Bürgerinnen und Bürger souveräner Staaten: als Deutsche und Israelis. Das war keine Selbstverständlichkeit, die DDR unterhielt während der 41 Jahre ihrer Existenz zu keiner Zeit diplomatische Beziehungen zu Israel. In Visaangelegenheiten und ähnlichen Fällen wurden die rumänischen Botschaften in Tel Aviv und Ostberlin tätig.

Natürlich gab es auch vordem Begegnungen und Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland, etwa im Handelsverkehr. Es gab eine israelische Handelsmission in Köln, eine deutsche in Tel Aviv. Deutsche Rüstungsfirmen lieferten bereits in den 1950er Jahren Waffen nach Israel. Doch Westdeutschland hatte lange gezögert, außenpolitisch vollwertige Beziehungen zum jüdischen Staat aufzunehmen, um nicht die traditionell guten Beziehungen zu arabischen Staaten zu gefährden.

Der 1936 in Genf von Nahum Goldmann mitgegründete World Jewish Congress vertritt bis heute in über 100 Ländern jüdische Gemeinden und Organisationen und setzt sich gegenüber Regierungen, Parlamenten und Organisationen für die Belange seiner Mitglieder ein. Man nennt ihn auch »den diplomatischen Arm des jüdischen Volkes«. Früher war er insbesondere bei Entschädigungsfragen von Jüdinnen und Juden nach der Zeit des Nationalsozialismus involviert, bei Ansprüchen seitens Israels, auch bei Initiativen gegen Antisemitismus. Heute nimmt er unter anderem eine aktive Rolle bei der Einschätzung des Kriegs der Hamas gegen Israel nach dem 7. Oktober 2023 ein.

Das Thema »Deutsche und Juden – ein ungelöstes Problem« greift eine Gedankenfigur des späten 19. wie des frühen 20. Jahrhunderts auf, mit der vor allem Juden »Deutschtum« und »Judentum« verglichen. Heinrich Heine sprach von der »innigen Wahlverwandtschaft zwischen den beiden Völkern der Sittlichkeit, den Juden und den Germanen«, Hermann Cohen veröffentlichte 1915, mitten im Ersten Weltkrieg, seine Schrift »Deutschtum und Judentum«, in der er den deutschen Idealismus mit dem jüdischen Monotheismus in Analogie setzte. Deutschland sei, heißt es an anderer Stelle, »das Mutterland der abendländischen Judenheit«; es gebe so etwas wie »eine seelische Verwandtschaft von Deutschtum und Judentum«.

In Was ist Deutsch? konnte Dieter Borchmeyer zeigen, dass auf diese Frage Juden und Jüdinnen die tiefsten, nachhaltigsten Antworten gegeben haben. Doch nicht nur Juden haben den Mythos von einer besonderen deutsch-jüdischen Wahlverwandtschaft genährt, auch Deutsche haben daran mitgewirkt, vor allem der Dichter Stefan George mit seinem Bild von den »verkannten Brüdern«. Die Intensität und Leidenschaftlichkeit der jüdischen George-Rezeption erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass Georges Lyrik ein Bild von Juden schuf, das ihnen erlaubte, zu sein, was ihnen in der Wirklichkeit verwehrt blieb: Deutsche und Juden. George schuf den Mythos von einer deutsch-jüdischen Wahlverwandtschaft, einer inneren Ähnlichkeit von Deutschen und Juden.

»Deutsche und Juden« war auch das Lebensmotiv Nahum Goldmanns, sowohl aus biografischen Gründen wie auch in seinem Nachsinnen über seinen Lebensweg. 1894 im damals russischen Vishnevo geboren, kam er 1900 als Kind nach Frankfurt am Main, wo der Vater, ein früher Zionist, in der jüdischen Gemeinde unterrichtete. Goldmann studierte in Marburg, Heidelberg und Berlin Rechtswissenschaft und Philosophie und bereiste 1913 für einige Monate das damals unter osmanischer Herrschaft stehende Palästina. Anschließend veröffentlichte er das Buch Eretz Israel. Reisebriefe aus Palästina. Er arbeitete als Journalist und Autor und begründete 1929 zusammen mit dem Schriftsteller und Philosophen Jakob Klatzkin die Encyclopaedia Judaica, ein Pionierprojekt jüdischer Kultur und Wissenschaft in der Weimarer Republik. Goldmann entkam der Verhaftung durch die Nationalsozialisten nach der Machtübertragung, weil er sich 1933 zur Beerdigung seines Vaters in Palästina aufhielt.

Nachdem ihm die deutsche Staatsangehörigkeit 1935 entzogen worden war, ging Goldmann nach New York, wo er eine Schlüsselrolle bei der Gründung des Jüdischen Weltkongresses einnahm. Über Jahre repräsentierte er zudem die Jewish Agency, die zentrale Institution für die jüdische Einwanderung nach Palästina und ins spätere Israel.

Goldmann war auch ein enger Freund Konrad Adenauers, mit dem er 14 Jahre zuvor die Verhandlungen über die deutschen Reparationszahlungen im niederländischen Wassenaar, die der Bundesrepublik den Weg in die westliche Staatengemeinschaft geebnet hatten, vorbereitet hatte. Kurz vor dem Treffen in Brüssel, im Mai 1966, hatte Goldmann den Altbundeskanzler auf dessen Reise nach Israel begleitet. Der israelische Premierminister Levi Eshkol gab in seiner Residenz ein Abendessen für den Gast aus Deutschland und bemerkte in seiner Tischrede, die von deutscher Seite geleisteten Zahlungen könnten nur ein Anfang sein. Adenauer reagierte empört und wies umgehend den deutschen Botschafter Rolf Pauls an, den Rückflug für den nächsten Morgen zu organisieren. Eshkol versuchte den aufgebrachten Gast zu beruhigen, indem er darauf verwies, er habe doch Adenauers Verdienste bei den Verhandlungen gewürdigt. Doch Adenauer erwiderte kühl, es spiele keine Rolle, was der Ministerpräsident von ihm persönlich halte, er habe »das deutsche Volk beleidigt«. Mit Mühe gelang es Goldmann schließlich am späten Abend im Hotel King David, Adenauer zu beschwichtigen, der daraufhin die Reise in Israel fortsetzte.

Seiner Autobiografie gab Goldmann den Titel Mein Leben als deutscher Jude. Es war der Rückblick auf das Leben eines »Doppelmenschen«. In seiner Schrift »Von der weltkulturellen Bedeutung und Aufgabe des Judentums« von 1916 betonte er, der zu dieser Zeit – inmitten des Ersten Weltkriegs – wie zahlreiche Juden seiner Generation patriotisch gesinnt war, »dass die künftige Weltkultur in ihrem tiefsten Wesen deutsch sein wird, dass Deutschland in Zukunft...

Erscheint lt. Verlag 20.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte edition suhrkamp 169 • Eugen Gerstenmaier • Gershom Scholem • Golo Mann • Holocaust • Israel • Judentum • Jüdischer Weltkongress • Karl Jaspers • Nahum Goldmann • Salo W. Baron
ISBN-10 3-633-77954-X / 363377954X
ISBN-13 978-3-633-77954-3 / 9783633779543
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