Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen (eBook)

Spiegel-Bestseller
Fragen nach Gott

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
240 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27354-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen - Navid Kermani
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Bestsellerautor und Friedenspreisträger Navid Kermani über Religion und den Sinn des Lebens - die Essenz seines Denkens und ein Aufruf zum Miteinander
'Als er im Krankenhaus lag, sollte ich Opa versprechen, dich den Islam zu lehren, wenn er nicht mehr da ist, unseren Islam, den Islam, mit dem ich aufgewachsen bin.' So beginnt ein Vater Abend für Abend seiner Tochter zu erzählen - nicht nur von seiner eigenen Religion, sondern von dem, was alle Gläubigen eint, von Gott und dem Tod, von der Liebe und der Unendlichkeit um uns herum. Dieses sehr persönliche Buch ist nicht nur Verzauberung und literarisches Meisterstück, sondern ein wahrer Erkenntnisgewinn, gerade weil Navid Kermani auch ins Dunkle zu schreiben wagt und damit seiner, unserer Ratlosigkeit einen Ausdruck gibt. Und weil seine Sprache, seine Offenheit, sein Wissen aus zwei Kulturen einzigartig sind, so hell und so tief.

Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen, lebt in Köln. Für sein literarisches und essayistisches Werk erhielt er u. a. den Kleist-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis, den Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2015, den ECF Princess Margriet Award for Culture 2017, den Staatspreis des Landes NRW 2017, den Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg 2020 und den Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels 2021. Zuletzt erschienen bei Hanser Dein Name (Roman, 2011), Über den Zufall (Edition Akzente, 2012), Große Liebe (Roman, 2014), Album (Das Buch der von Neil Young Getöteten / Vierzig Leben / Du sollst / Kurzmitteilung, 2014) und Sozusagen Paris (Roman, 2016). Ayda, Bär und Hase (2017) ist sein erstes Buch für Kinder. 2022 folgte Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.

Die Unendlichkeit ringsum


Als er im Krankenhaus lag, sollte ich Opa eines Nachts versprechen, dich den Islam zu lehren, wenn er nicht mehr da ist, unseren Islam, den Islam, mit dem ich aufgewachsen bin, den Islam, den auch er als Kind in Isfahan erlebt hatte, den Islam unserer Vorfahren. In dem dunklen, fremden Zimmer dachte er an dich.

Seitdem habe ich dir dieses und jenes Buch vorgelesen, aber keines war so, wie Opa es sich gewünscht hat. Du hast viel gelernt über den Propheten und das Land, in dem er geboren wurde, über Gebote und Verbote, über Schriften, Gebete, Feste und Sitten, über den Unterschied von Sunniten und Schiiten; sogar die vier Rechtsschulen kennst du jetzt und hast eine Vorstellung, vor welchen Problemen die heutige islamische Welt steht. Aber worum es dem Islam eigentlich geht, und nicht nur dem Islam, sondern im Grunde allen Religionen, also weshalb wir von uns sagen, dass wir an Gott glauben, darüber hast du kaum etwas erfahren. Es war, als würden die Bücher die Kleidung eines Menschen beschreiben, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wer dieser Mensch überhaupt ist — sein Gesicht, sein Charakter, nicht einmal, ob er Mann oder Frau ist, jung oder alt, wo er herkommt, wovon er träumt und warum er uns liebt. Wenn in diesen Büchern die Religion überhaupt einen tieferen Sinn hatte, dann den, uns zu anständigen Menschen zu erziehen, also dass wir gerecht sind, liebevoll, hilfsbereit und so weiter. Aber kann man darauf nicht auch ohne Gott kommen?, fragtest du.

Erst stammelte ich etwas von Nächstenliebe, Barmherzigkeit, den Zehn Geboten. Als ich jedoch im Bett lag, dachte ich: Klar kann man darauf auch ohne Gott kommen. Schließlich sind Atheisten, also Menschen, die nicht an Gott glauben, deswegen keine Mörder, Diebe oder Betrüger. Und umgekehrt gibt es so viele Menschen, die an Gott glauben und dennoch ungerecht sind, hartherzig und gemein. Also muss es den Religionen noch um etwas anderes gehen als darum, wie wir unser Leben gestalten und wie wir uns gegenüber den Mitmenschen verhalten. Vielleicht geht es ihnen auch und vor allem um das Leben selbst: also was dieses Leben ist, das wir haben, und ob es nur aus dem besteht, was wir sehen.

Manche sagen: Das Leben ist, was es ist, das Ergebnis von chemischen, atomaren und genetischen Prozessen, sozusagen ein Supercomputer, der sich durch Trial and Error von selbst immer weiterentwickelt, durch Versuch und Irrtum, Auslese und Anpassung, Ursache und Wirkung. Opa gab dann stets zu bedenken, dass irgendwer diesen Computer, der alles in Gang setzt, doch gebaut und programmiert haben müsse. Und wenn die anderen beharrten: Nein, es gebe niemanden, der das Leben baut und programmiert, das entstehe von selbst und verschwinde auch wieder wie ein Tropfen Wasser, der verdampft und sich in Luft auflöst — dann sagte Opa immer: Etwas, das ist, kann nicht einfach nichts werden, weder ein Tropfen Wasser noch der Mensch oder überhaupt unsere Existenz. Und er behauptete sogar, dass die Vorstellung, etwas könne zu nichts werden, für Kinder beinah denkunmöglich sei. Und weißt du was? Ich glaube, Opa hatte sogar recht.

Es ist doch interessant, dass Kinder, wenn ich mich nicht täusche, so gut wie nie am Sinn des Lebens zweifeln, auch gar nicht groß darüber grübeln, Erwachsene hingegen sehr wohl. Oh ja, und wie sie zweifeln und grübeln! Also muss zwischen dem Kindsein und dem Erwachsensein etwas unseren Glauben erschüttern, dass alles schon seine Ordnung habe. Versuch dich selbst zu erinnern: Hast du früher, als du noch klein warst, etwa viel über den Tod nachgedacht? Doch wohl eher nicht. Du wusstest zwar, dass wir alle sterben, aber es hat dich nicht beschäftigt; es kam dir vor, als würde das Leben schon irgendwie weitergehen. Angst hattest du schon mal gar nicht, im Gegenteil: Für dich war es das Natürlichste der Welt, wenn ich vom Jenseits sprach, vom Himmel, von Engeln und vom ewigen Leben. Du konntest dir einfach nicht vorstellen, dass etwas, was ist, plötzlich nicht mehr sein soll, von einem auf den anderen Atemzug.

Erst jetzt, da dein eigener Opa gestorben ist und du auch älter geworden bist, immerhin schon zwölf, hast du den Tod von Angesicht zu Angesicht kennengelernt. Und du hast geweint am Grab. Du hast gemerkt, da stimmt etwas nicht, Opa ist jetzt weg, er wird dir nie mehr eine Geschichte erzählen, du wirst nie wieder im Sommer mit ihm ans Meer fahren. Vielleicht hast du zum ersten Mal darüber nachgedacht, dass du selbst einmal unter der Erde liegen wirst in so einem kalten, unwirtlichen Grab. Dass wir alle zu Staub werden, deine Mutter, dein Vater, deine Schwester. Und ich glaube, es ist unter anderem genau diese bewusste Begegnung mit dem Tod, die zwischen dem Kindsein und dem Erwachsensein geschieht. Es muss gar nicht unbedingt ein bestimmter Mensch sein, der stirbt; ich meine einfach die klare Einsicht, dass wir alle irgendwann nicht mehr da sein werden, niemand von uns. Und zwei, drei oder spätestens vier Generationen nach uns auch niemand mehr, der sich an uns erinnert.

Wisset, das irdische Leben ist nur ein Spiel

Und ein Scherz und ein Schmuck und ein Wettbewerb,

Wer am reichsten ist, wer die meisten Kinder hat.

Es ist wie Regen, der die Pflanzen sprießen lässt,

Und darüber freut sich das ganze Dorf.

Alsdann welken sie, und du siehst sie gelb werden und verdorren.

Und alles zerfällt.    

Sure 57,20

Sicher, unsere Ur- oder Urur- oder Urururenkel werden wissen, dass es uns mal gab — sonst gäbe es sie schließlich nicht. Aber wer wir sind, was wir denken, fühlen, träumen, was uns beschäftigt, ärgert, freut, ängstigt und begeistert, davon werden sie nicht einmal eine Ahnung haben. Wir werden einfach weg sein, wie ausgelöscht, nicht einmal unsere Namen werden noch bekannt sein, selbst der Schriftzug auf unserem Grabstein wird nach und nach verwittern, geschweige denn, dass jemand auf alten Fotos noch unsere Gesichter wiedererkennen würde. All die geliebten Menschen und ebenso wir selbst werden uns wie ein Tropfen Wasser auflösen, scheinbar zu nichts.

Diese Erkenntnis, dass nichts von uns bleibt, überläuft irgendwann einmal jeden von uns kalt. Dann fangen wir an zu zweifeln: Geht es wirklich weiter, wenn ein Mensch stirbt, wie die Eltern immer behauptet haben? Und wo war ich, als ich noch nicht auf der Welt war? Solche Fragen stellt sich früher oder später jeder Mensch, und die Antworten sind ganz verschieden. Aber vielleicht haben gar nicht die Erwachsenen recht mit ihren langen und kurzen Erklärungen, sondern die Kinder, die darauf vertrauen, dass es irgendwie schon weitergehen wird und alles seine Ordnung hat. Und der Koran und überhaupt alle Offenbarungen geben den Kindern darin recht. Sie sagen: Schaut euch doch nur mal um — glaubt ihr denn, dass das alles nur Zufall sein kann?

Schaut aufs Wasser, das ihr trinkt —

Habt ihr es aus den Wolken herabgesandt oder waren’s wir?

Wenn wir wollten, so machten wir es bitter.

Warum danket ihr denn nicht?

Schaut aufs Feuer, das ihr gezündet —

Habt ihr den Scheit erschaffen oder waren’s wir?

Wir schufen es zur Erinnerung

Und damit’s jenen dient, die durch die Wüste ziehen.

Also preise den Namen deines Herrn, der gewaltig ist.    

Sure 56,68ff.

Und als mein Blick aus dem Fenster schweifte, während wir gestern wieder ein Buch über den Islam lasen, dachte ich plötzlich, dass dort draußen mehr oder jedenfalls Wichtigeres über Gott zu lernen wäre, als dass der Koran 114 Suren enthält und welches die erste, zweite, dritte, vierte und fünfte Säule des Islams ist. Der Islam oder das Christentum oder das Judentum oder irgendeine andere Religion ist schließlich nicht in Büros entstanden, in Bibliotheken oder in Klassenzimmern. Die Religionen sind entstanden, wo Menschen sich in der Natur umgeschaut haben oder sich um ihre Liebsten sorgten, als sie selbst krank waren, hungerten oder sich verloren fühlten, bei der Geburt ihres Kindes oder beim Tod der Eltern, also mit den wichtigsten Ereignissen, die es im Leben eines Menschen gibt. Und warum? Weil sie merkten, dass sie von...

Erscheint lt. Verlag 24.1.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte Antolin • Buddhismus • Christentum • Exclusiv in DIE ZEIT • Extremismus • Familie • Friedenspreis • Glaube • Gott • Hinduismus • Islam • Islamismus • Judentum • Kirche • Konfirmation • Konflikte • Koran • Krieg • Liebe • Menschlichkeit • Miteinander • Monotheismus • Moschee • Nächstenliebe • Religion • Respekt • Schöpfung • Terrorismus • Tochter • Toleranz • Ungläubiges Staunen • Vater
ISBN-10 3-446-27354-9 / 3446273549
ISBN-13 978-3-446-27354-2 / 9783446273542
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