Fannys Rache (eBook)

die Vergeltung der Mende Speisman durch die Hand ihrer Schwester. Roman
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2024
608 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31158-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fannys Rache -  Yaniv Iczkovits
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Fanny Kajsman hat genug. Ihr nutzloser Schwager ist nach Minsk abgehauen und hat ihre Schwester im Schtetl zurückgelassen. Kurzerhand trifft Fanny eine skandalöse Entscheidung: Sie wird ihren Schwager eigenhändig zurückholen.

Bewaffnet mit einem Schlachtermesser und einer gehörigen Portion Starrsinn bricht sie auf, aber die Straßen des Russischen Kaiserreichs sind gefährlich. Als sich ihr der stumme Fährmann Cicek Berschow anschließt, ist sie dankbar um die Begleitung. Doch ein Schlamassel jagt das nächste, Fannys schlichter Plan wächst sich zu einer mittelgroßen Katastrophe aus und bringt bald die Grundfesten des Russischen Reiches ins Wanken.

Ein rasanter Roadtrip durch das 19. Jahrhundert, eine Ode an Mut und Freundschaft und die Suche einer unvergesslichen Heldin nach Gerechtigkeit.

Yaniv Iczkovits, geboren 1975 in Be’er Scheva, Israel, studierte in Oxford und in Tel Aviv. Er lehrte anschließend am Philosophischen Institut der Universität von Tel Aviv und forschte an der Columbia University. Für seinen Roman Fannys Rache wurde er mit dem Wingate Literary Prize, dem Ramat-Gan-Preis und dem Agnon-Preis ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Sapir-Preises. Iczkovits lebt in Tel Aviv.

Markus Lemke, geboren 1965 in Münster/Westfalen, ist Übersetzer und Dolmetscher aus dem Hebräischen und Arabischen. Er studierte Orientalistische Philologie und Islamwissenschaften in Bochum, Kairo und Tel Aviv und übersetzt seit 1995, darunter Werke von Yoram Kaniuk, Eshkol Nevo, Noa Yedlin und Yitzhak Laor. Lemke erhielt drei Mal den Hamburger Literaturpreis für literarische Übersetzungen sowie 2019 den Deutsch-Hebräischen Übersetzerpreis.

»Iczkovits’ brillanter, mitreißender Roman spielt im späten 19. Jahrhundert im Russischen Kaiserreich, ist aber von großer Aktualität und Relevanz. Er ist bevölkert von hervorragend gezeichneten Figuren auf der Suche nach einer wie auch immer gearteten Erlösung, die aber unerreichbar bleibt.« Elaine Margolin The Times

»Mit Witz, Esprit und grenzenloser Fantasie entwirft Yaniv Iczkovits ein schillerndes Familiendrama. Eine außergewöhnliche, bildstarke Lektüre.« David Grossman

»Frisch, eigen und originell ist dieser Roman, ebenso witzig wie weise, und ein zutiefst bewegender Streifzug durch das Russische Kaiserreich. Iczkovits ist ein großartiger Erzähler, ein herausragendes Talent. Dieses Buch ist ein ganz großer Wurf.« Kirkus Reviews

1


Ein bemitleidenswertes Frauenzimmer, diese Esther Hirsch, denkt sich Mende Speisman, während sie, auf dem Rücken liegend, die zerknitterte Nachricht, die sie herausgeschnitten hat aus einer alten Ausgabe von »HaMagid«, zurück unter die Matratze stopft. Wie gern würde sie sich mit der armen Esther Hirsch über Belange des Herzens austauschen. Sie weiß, sie könnte ihre Finsternis mit ein paar Kerzen erhellen: Drei gesunde Küken hat sie? Sagt sie selbst. Und einhundertfünfzig Rubel in der Tasche? Mindestens! Unberufen, gewiss. Nur eine Verrückte würde ihr ganzes Geld hergeben, ohne ein bisschen was beiseitegelegt zu haben. Also wozu in aller Eile eine Nachricht in die Zeitung setzen? Warum vor aller Welt den eigenen Namen und den ihrer Familie zu Markte tragen? Möglich wär’s doch, sich mit dem Geld unter den Gojim einen Spürhund zu suchen, einen Rohling ohne Fehl und Tadel, der ihrem Meïr-Jankel nachsetzen würd und ihm nicht mal in seinen Träumen Ruhe gönnt, der ihm alle Zähne einschlägt und nur einen stehen lässt, für Zahnschmerzen.

Wieder zieht Mende den Zeitungsausschnitt hervor, vorsichtig darauf bedacht, die Schulter nicht zu bewegen, auf der ihr Sohn Jankele schläft. Sie reckt nur ein bisschen den Kopf, um den steif gewordenen Hals zu befreien, den ihre Tochter Mirel mit den Ellbogen malträtiert hat. Aus dem Zimmer nebenan kommen die schweren Atemzüge ihrer Schwiegereltern, ein langes Leben sei ihnen beschieden. Ihr Schnarchen lässt den Mann vorzeitig erwachen, wie von Sinnen räuspert er sich, als wollte er sein widerspenstiges Weib drängen, endlich aufzustehen. Schon bald, weiß Mende, wird auch sie aufstehen müssen, den Ofen versorgen, ihre noch schlaftrunkenen Kinder anziehen und ihnen im Blechnapf ein wenig Milch mit Dinkelgraupen verrühren. Wie immer werden sie sich über den schimmeligen Geschmack beschweren, und sie wird ihre Schwiegermutter Rochale um einen Teelöffel Zucker bitten, einen für beide. Und Rochale wird sie mit steilen Stirnfalten anstarren und fauchen: »Kein Zucker! Nit! Dos Fest is aus!« Doch nach ein paar Augenblicken wird sie seufzen und ihre Arme unter großer Anstrengung in die Höhe recken, bis das Einmachglas mit dem Zucker vom obersten Bord in ihre Hände rutscht, von der Herrscherin Gnade. Denn jeden Morgen wird murrend ein Teelöffel Zucker unter die Graupen gemischt.

Doch was ist an dieser Meldung über den Verlust der armen Esther Hirsch, dass Mende sie nun schon zwei Wochen dreht und wendet?

Auch wenn es ihr schwerfällt, dies einzugestehen, aber die Nachricht behagt ihr, wie auch die beiden Inserate, in einer früheren Ausgabe von »HaMagid« – »Ein Schrei!« stand über der einen, »Eine große Bitte!« über der anderen –, und Dutzende ähnliche Meldungen, die Tag für Tag aus allen Ecken und Enden des Ansiedlungsrayons kommen. Verlassene Frauen, »verankerte« Frauen, Agunot, die keinen Scheidebrief von ihrem Mann bekommen, unglückliche Frauen, vom Pech verfolgte Frauen, Frauen, deren Männer sie unter falschen Versprechungen und faulem Zauber zurückgelassen haben: Der eine fährt nach Amerika, in die Goldene Medine, um die Familie nach New York nachkommen zu lassen, der andere sticht Richtung Palästina in See, um dort von einer erbarmungslosen Sonne Schläge zu beziehen, jemand verspricht seiner Frau, er fahre in die große Stadt, um ein Handwerk zu erlernen, und verfällt dann den aufgeklärten Kreisen in Odessa, ein Vater schwört seinen Töchtern, mit einer fetten Aussteuer zurückzukehren, und plötzlich hört man, dass er in den Bordellen von Kiew »Mesusen küsst«. Mende weiß, geteiltes Leid ist der Einfältigen Trost, und dennoch macht sich eine Art Zufriedenheit in ihr breit, die jedem Gefühl weiblicher Schicksalsverbundenheit trotzt. Sie ist nicht wie die, wird nie so sein. Sie läuft nicht Hals über Kopf los, um Anzeigen zu veröffentlichen, schickt keine Telegramme an Zeitungen und klagt nicht vor dem Gemeindevorstand, geht nicht mit Zwi-Meïr Speismans Beschreibung hausieren, der Mann, der ihre Welt zerstört hat. Nein und nochmals nein. Sie wird nicht dem »Geteiltes-Leid-Trost« auch nur einer einzigen Einfältigen aufsitzen. Das ist mal sicher.

Mendes Glieder schmerzen sogar im Liegen, als wäre ihr Schlaf mit großer Anstrengung verbunden gewesen. Aus dem Zimmer der Alten nebenan, sollen sie gesund sein, stiehlt sich säuerlicher Schweißgeruch zu ihr herüber. Mit dem Morgen herrscht im Haus das Odeur eines Bethauses voller Fastender. Selbst für die Ausdünstungen der Eltern ihres Mannes muss sie dem Heiligen, gepriesen sei ER, danken, denn wer weiß, was sie jetzt riechen tät, hätten die nicht sie und ihre Kinder unter ihrem Dach aufgenommen. Wohl ist ihre Herberge eine kärgliche: eine alte schwarze und windschiefe Hütte, aus vor sich hin faulendem Holz gezimmert, darin zwei kleine Räume und eine Küche. Aber dichte Wände hat es und Lehmfußboden, hölzerne Dachschindeln und Fenster mit dickem Glas. Und manchmal ist ein beengter Lebensraum auch von Vorteil, ganz sicher sogar, wenn dem Ofen in der Küche das Heizen des ganzen Hauses obliegt. Huhn wird hier gewiss nicht gereicht, und die Fischklopse am Freitagabend bestehen aus wenig Fisch und reichlich Zwiebeln. Doch Borschtsch mit Schwarzbrot gibt es jeden Mittag, und Tscholent am Schabbes ohne ein Stück Fleisch ist kein gar so schreckliches Unglück.

Mit Leichtigkeit hätten die Speismans sie loswerden können, konnten sie doch ihren Sohn Zwi-Meïr ohnehin nicht leiden. In jungen Jahren hatten sie ihn, im Vertrauen darauf, dass er ihrem Namen Ehre mache, in die prachtvolle Waloschyner Jeschiwe geschickt, damit er ein Wunder an Gelehrsamkeit werde. Aber nach einem Jahr mussten sie hören, ihr Sohn verkünde in aller Öffentlichkeit, dass alle Rabbiner dort Heuchler seien und der Gaon von Wilna höchstpersönlich sich ihrer schämen würde. Eine »Bande von Tagedieben« nannte er sie, »nichts weiter als Intriganten, die sich als Gelehrte ausgeben, und nur Sätze aus der Gemara zu memorieren und zu deklamieren wissen«. Folglich hatte Zwi-Meïr sich aus Waloschyn verabschiedet und beschlossen, lieber ein armer Hausierer als ein Weiser und Thoragelehrter zu sein, wenn denn Gelehrsamkeit Tücke, Begehrlichkeit und Blindheit bedeutete.

Und so wurde ein fliegender Händler aus ihm, doch auch jetzt fand er Gründe zu klagen und zu lamentieren. Seine Gepflogenheiten waren sonderbar: Zwar stellte er seinen Karren auf den Markt, drängte die Kundschaft jedoch nicht, seine Ware zu kaufen. Doch wie will der Mensch sein Brot essen? Säen und düngen und dreschen und schwitzen muss er, muss seine Tränen und seinen Schweiß in den Teig kneten. Aber Zwi-Meïr Speisman stand auf dem Markt wie der Rebbe der Gemeinde und glaubte wohl, die Leute würde es zu seinem Karren ziehen wie die Frommen, die in der Schabbesnacht in die Synagoge strömen. Die Leute dachten jedoch anders. Die einen behaupteten, er sei schlicht ein Faulenzer, die anderen meinten, Stolz verneble ihm den Verstand, und die Mittler kamen zu dem Schluss, Stolz und Faulheit wohnten stets einträchtig beieinander. Wie auch immer, die wenigen Rubel, die durch Zwi-Meïrs Hände gingen, wanderten bloß von der Rechten in die Linke und wieder zurück, und das Haus der Speismans gehörte zu den ärmsten in ganz Motele. Noch vor seinem Weggang waren sie am Boden. Anstatt Kerzen entzündeten sie Öl, und Schwarzbrot aßen sie mit ungeschälten Kartoffeln. Als Mende versuchte, ihm gut zuzureden und ihm Ratschläge für seine Geschäfte zu geben, beschied er sie: »Hennen, die krähn, gehören beizeiten unters Messer des Schächters.« Will sagen: Unerheblich, Gott behüte, der Verständige versteht.

Ein Druck auf der Brust nimmt Mende den Atem, so sehr drängen ihre Kinder sich auf dem schmalen Lager an sie. Ihr Körper ist wie versteinert, damit nur die Kleinen nicht aufwachen, ihre Seele aber empört sich: Was hab ich mit diesen Kindern zu schaffen? Und sogleich befällt sie Scham – Gott bewahre! Ihre Küken! Unberufen! –, und sie betet zum Herrn aller Welten, er möge ihr nur den Körper erhalten, damit sie sie ernähren und ihnen im Schlaf ein Halt sein kann, und dass er ihr die Gedanken nimmt, die sich mit ketzerischen Ideen füllen wie der Fluss Jasselda, der in jedem Frühjahr über die Ufer tritt und das Tiefland von Polesje mit schwarzen Sümpfen überzieht.

Ein weiterer kärglicher Morgen lauert auf sie und ihre Kinder, scharwenzelt um des Tages Pforten. Jankele wird in den cheder gehen und Mirel ihr helfen, den Haushalt der Familie Goldschmidt in der Marktstraße zu führen, wo die Begüterten von Motele wohnen. Gemeinsam werden sie die Fliesen des Juweliers in dem feudalen Steinhaus schrubben und wieder einmal verstohlen nach der Korallenkette von Frau Goldschmidt schauen, dreitausend Rubel ist sie wert, so viel wie ein ganzes Leben kümmerlichen Auskommens. Von dort werden sie weiterziehen, um bei Familie Tabaksman »hauszuhalten«, und unterwegs an der Schenke vorbeikommen, denn vielleicht braucht man auch dort helfende Hände, wo Israel Teit, der Baaleboss der Schenke, ihr vielleicht gestattet, sich an einer weiteren alten Ausgabe von »HaMagid« zu erfreuen, die schon keiner mehr lesen will.

Putzlappen und Lumpen, Stahlwolle und Eimer, Fliesen und Öfen, Blechschüsseln und Spülen. So kratzen ihre Nägel die Zeit, Haus um Haus, und der Geruch der Putzmittel klebt den beiden an Haut und Seele. Der Tag endet bei Sonnenuntergang, damit sie für den nächsten wieder zu...

Erscheint lt. Verlag 12.2.2024
Übersetzer Markus Lemke
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Religion / Theologie Judentum
Schlagworte Antisemitismus • Ehe • Familie • Frau • Geschichte • Israel • Judentum • Minsk • Polen • Religion • Russisches Zarenreich • Russland • Schtetl
ISBN-10 3-293-31158-X / 329331158X
ISBN-13 978-3-293-31158-9 / 9783293311589
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