Die Königin (eBook)
384 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3163-8 (ISBN)
Sebastian Conrad, geboren 1966 in Heidelberg, ist Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte von Kolonialismus und Postkolonialismus sowie die Geschichte?Ostasiens und des historischen Denkens. Er hat in New York und Paris, Florenz und Tokio gelehrt und ist heute einer der international renommiertesten Vertreter der Globalgeschichte sowie Autor zahlreicher Bücher, darunter Deutsche Kolonialgeschichte und Globalgeschichte. Eine Einführung.
Sebastian Conrad, geboren 1966 in Heidelberg, ist Professor für moderne Geschichte an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte von Kolonialismus und Postkolonialismus, die Geschichte Ostasiens und des historischen Denkens. Er hat in New York und Paris, Florenz und Tokyo gelehrt und ist heute einer der international renommiertesten Vertreter der Globalgeschichte sowie Autor zahlreicher Bücher, darunter Deutsche Kolonialgeschichte und Globalgeschichte: Eine Einführung.
Einleitung
Als die Popsängerin Beyoncé im April 2018 beim Coachella Valley Music and Arts Festival in Kalifornien auftrat, stilisierte sie sich als Wiedergängerin von Nofretete, der berühmten Königin aus dem antiken Ägypten, die längst zu einer globalen Ikone geworden war. Mit Beyoncé, einer der erfolgreichsten Popkünstlerinnen der Gegenwart, war zum ersten Mal eine afroamerikanische Frau als »Headline Act« des weltweit bekannten Festivals ausgewählt worden. Ihre Kostümierung passte gut zu diesem symbolischen Ereignis: Mit ihrem Bodysuit, einem langen Umhang und vor allem dem ikonischen Kopfschmuck stellte sie sich für alle sichtbar in die Tradition der antiken Königin. Sie evozierte damit das Bild einer mit großer Machtfülle ausgestatteten afrikanischen Frau, zugleich ein Symbol von »Black is beautiful«.1
Die Resonanz war überwältigend. Ein Millionenpublikum verfolgte Beyoncés Darbietung, die zur meistgesehenen Live-Performance in der Geschichte des YouTube-Kanals wurde; eine Netflix-Dokumentation folgte kurz danach. Die Sängerin begleitete ihren Auftritt mit der Veröffentlichung einer Kleiderkollektion, die ebenfalls von Nofretete inspiriert war. Noch im selben Jahr reiste sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Rapper Jay-Z, nach Berlin, um das Neue Museum zu besuchen und die Ikone im Original zu sehen. Der Raum wurde für normale Besucher geschlossen, während Beyoncé sich vor Nofretetes berühmter Büste fotografieren ließ. Auf Instagram postete sie ein Foto, auf dem ihr eigenes Gesicht in das von Nofretete einmontiert war. Angelehnt an die englische Bezeichnung der ägyptischen Königin (Nefertiti) gab sie dem Bild den Titel »NefertiBey«: die symbolische Verschmelzung zweier Celebrities.
Dass Beyoncé als Reinkarnation von Nofretete posierte, war keineswegs Zufall. Bereits im Jahr zuvor hatte der Künstler Awol Erizku sie als schwangere Venus fotografiert, mit einer Nofretete-Statue an ihrer Seite. Darüber hinaus hatte Beyoncé schon viele Jahre lang ihre Bühnenpersönlichkeit sowohl mit Symbolen des alten Ägyptens als auch mit ihrem Eintreten für Black Power verbunden. In ihrer berühmt gewordenen Halbzeitshow am Super-Bowl-Sonntag 2016 rief sie afroamerikanische Frauen zur Rebellion auf, nahm Bezug auf die Black-Lives-Matter-Bewegung und huldigte in ihrer Choreografie den Black Panthers, der legendären sozialistisch-revolutionären Bewegung der späten 1960er-Jahre.2 Im Jahr 2020 veröffentlichte sie den Musikfilm und das Visual Album Black Is King – mit dem erklärten Ziel, »die globale Wahrnehmung des Wortes ›Black‹ zu verändern«, indem sie es ausdrücklich mit »Schönheit« in Verbindung brachte.3 Für ihre Fans wurde Beyoncé durch ihr aktives Eintreten für Schwarze Kultur und Schwarze Schönheitsideale zu einer Vorkämpferin für die Ermächtigung Schwarzer Frauen.
Bereits neun Jahre vor Coachella hatte Beyoncé die antiken Stätten in Ägypten selbst besucht. Sie wurde von Zahi Hawass herumgeführt, dem damaligen Direktor der ägyptischen Altertümerverwaltung und somit Verantwortlichen für die antiken Sammlungen und Ausgrabungsstätten. Der charismatische, wenn auch umstrittene Archäologe hatte sich jahrzehntelang für die Rückgabe der Büste der Nofretete an Kairo eingesetzt. Er war der bekannteste Vertreter der Bemühungen des ägyptischen Staates, die Kontrolle über ein antikes Erbe wiederzugewinnen, das sich europäische und amerikanische Museen angeeignet hatten. Hawass und Beyoncé teilten die Faszination für die altägyptische Königin, und ihre jeweilige Agenda wies durchaus Gemeinsamkeiten auf: Beide distanzierten sich grundsätzlich von einer europäischen Tradition, die das alte Ägypten und auch Nofretete als Teil der Vorgeschichte des modernen Westens für sich vereinnahmt hatte. Für den Archäologen wie für die Sängerin versprach Nofretete überdies, westliche Schönheitsstandards und damit auch die Hierarchien der Kunstwelt infrage zu stellen. Und schließlich stellten sie die Ansprüche auf Eigentum an Kunstwerken in Zweifel, die noch auf das imperialistische Zeitalter zurückgehen.
Trotz dieser gemeinsamen Zielsetzungen verlief die Begegnung der beiden Prominenten alles andere als harmonisch. Hawass war rasch verärgert über das, was er Beyoncés »unhöfliches Verhalten« nannte, und untersagte der Sängerin die weitere Erkundung der antiken Stätten; er warf sie mehr oder weniger aus Ägypten heraus. Bei dem Konflikt handelte es sich jedoch um mehr als lediglich die Zerrüttung ihrer persönlichen Beziehung. Vielmehr spiegelte er die Tatsache wider, dass ihre Ansichten über das alte Ägypten, und über Nofretete im Besonderen, trotz ihrer gemeinsamen Kritik an eurozentrischen Standards letztlich auseinandergingen. Beyoncé berief sich explizit auf Nofretete als Schwarze Königin und Quelle der Inspiration für Afroamerikanerinnen. Für Hawass hingegen war Nofretete ein Produkt der pharaonischen Zivilisation und ein einzigartiges Symbol der ägyptischen Nation.
Es ist interessant, dass sowohl Beyoncé als auch Hawass sich das Image von Nofretete als globaler Ikone zunutze machten, das auf der ganzen Welt einen hohen Wiedererkennungswert hat. Seit ihrer Entdeckung im Jahr 1912 wurde Nofretete von den Europäern regelmäßig als zeitlose Schönheit dargestellt, deren Anziehungskraft mühelos die Jahrtausende überbrückte und auch ein zeitgenössisches Publikum ansprach. Im Zeitalter des Imperialismus wurde diese Vorstellung, die eng mit dem Diskurs der Zivilisation verbunden war, über die Grenzen Europas hinaus verbreitet und ist bis heute einflussreich geblieben. Vom bengalischen Dichter Rabindranath Tagore im Jahr 1913 (»O Schönheit, in Stein gemeißelt […] O unverrückbare Schönheit!«4) bis zum deutschen Kulturstaatsminister Bernd Neumann ein volles Jahrhundert später (»Wir sollten die Büste als Teil eines universellen Welterbes anerkennen«5) haben die unterschiedlichsten Kommentatoren Nofretete immer wieder als Sinnbild für die kulturellen Errungenschaften der gesamten Menschheit in Anspruch genommen.
Wie kann man diese weltweite Resonanz erklären? Meist reicht schon ihre Silhouette aus, und alle wissen, wer gemeint ist und wofür sie steht. Was ist der Grund dafür, dass Nofretete heute an ganz unterschiedlichen Orten – nicht nur in Kairo oder Berlin, sondern auch in Rio de Janeiro, in Houston oder in Kalkutta – als Paradebeispiel für weibliche Schönheit verstanden wird? Wie wurde aus einer antiken Königin eine globale Ikone der Gegenwart? Und damit verbunden: Wie kommt es, dass Nofretetes Zauber mehr als drei Jahrtausende offenbar unbeschadet überstanden hat? Das ist erklärungsbedürftig. Es ist schließlich mittlerweile ein Gemeinplatz, dass Schönheit nicht objektiv gegeben ist und dass sich ästhetische Vorstellungen über die Jahrhunderte hinweg immer wieder verändert haben. Schönheit, heißt es nicht zufällig, liegt im Auge des Betrachters.6
Immanuel Kant hat diese moderne Einsicht philosophisch ausgedrückt. Lange Zeit gingen viele Kulturen davon aus, dass Schönheit eine Eigenschaft von Menschen oder Dingen sei und auf dahinterliegende Werte verweise: auf Wahrheit, Tugend, Liebe oder auf göttliche Inspiration. Viele traditionelle Gesellschaften, sei es im pharaonischen Ägypten, im konfuzianischen China oder im antiken Griechenland, betrachteten Schönheit als Ausdruck einer moralischen Persönlichkeit, eines ethischen Lebens. In der christlichen Tradition wurde Schönheit als eine Kreation Gottes verstanden.7 Alle diese Vorstellungen stellte Kant auf den Kopf. Aufbauend auf Arbeiten von Edmund Burke und David Hume vertrat er die Auffassung, dass Dinge und Menschen nicht von sich aus schön sind, sondern vielmehr als angenehm empfunden und erlebt werden. Schönheit sei ein subjektives Empfinden, nicht eine objektive Gegebenheit. Das bedeutete jedoch nicht, dass das, was als schön angesehen wurde, völlig willkürlich war. Stattdessen sprach Kant von »subjektiver Universalität«. Damit meinte er, dass individuelle Urteile auch andere ansprechen müssten und möglicherweise von einer größeren Gemeinschaft geteilt werden könnten.8
Vor diesem Hintergrund stellt sich also die Frage mit besonderer Dringlichkeit: Wie konnte Nofretete über Raum und Zeit hinweg als Verkörperung eines ästhetischen Standards wahrgenommen werden? Sie stellt sich umso mehr, als unterschiedliche Betrachter und Betrachterinnen – wie wir am Beispiel von Beyoncé und Hawass gesehen haben – ganz verschiedene ästhetische Vorstellungen im Kopf haben konnten, wenn sie Nofretetes Schönheit priesen. Und selbst wenn es zunächst wie ein Widerspruch klingen mag: Diese beiden gegenläufigen Aspekte hängen eng zusammen. Denn je weiter Nofretetes Bild Verbreitung fand, desto mehr wurde sie mit ganz unterschiedlichen Interessen verbunden; und je diverser die Anliegen waren, für die sie eingespannt wurde, desto mehr verfestigte sich der Eindruck, dass sie tatsächlich weltweit...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Altertum / Antike | |
Schlagworte | Afrozentrismus • Amarna • Archäologie • Beyoncé • Black is beautiful • Borchardt • Büste • Echnaton • Feminismus • Globalgeschichte • Imperialismus • James Simon • Kolonialismus • Kulturelle Aneignung • Neues Museum • Pharaonen • Pyramiden • Restitution • Sklaverei |
ISBN-10 | 3-8437-3163-2 / 3843731632 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3163-8 / 9783843731638 |
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Größe: 77,2 MB
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