Textarbeit im Philosophie- und Ethikunterricht (eBook)
317 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4087-3 (ISBN)
»Lesen Sie den Text!«
Hubertus Stelzer
Nichts erklärt Lesen und Studieren besser als Essen und Verdauen. Der philosophische eigentliche Leser häuft nicht bloß in seinem Gedächtnis an wie der Fresser im Magen, da hingegen der Gedächtniskopf mehr einen vollen Magen als einen starken und gesunden Körper bekömmt; bei jenem wird alles, was er liest und brauchbar findet, dem System und dem inneren Körper, wenn ich so sagen darf, zugeführt, dieses hierhin und das andere dorthin, und das Ganze bekommt Stärke.
Georg Christoph Lichtenberg1
Einen Diskussionsbeitrag zu leisten, der sich dem Lesen philosophischer Texte im Unterricht widmet, der also zum Widerspruch reizt und anspornt, Gegenpositionen zu formulieren, scheint zunächst und auf einen ersten Blick eine unergiebige, ja eher angestrengte Angelegenheit zu sein. Wer würde als Philosophielehrer2 das Lesen von Texten aus der Tradition schriftlich fixierter Philosophie grundsätzlich in Frage stellen? Wer könnte sich vorstellen, den Philosophieunterricht in einzelnen methodischen Schritten ohne Textarbeit zu gestalten? Hat sich doch gezeigt, dass auch die sogenannte Martens-Rehfus-Debatte nicht über die Tatsache hinwegsehen kann, dass beide das Lesen von Texten grundsätzlich als sinn- und bedeutungsvoll für die methodische Umsetzung ihres jeweiligen fachdidaktischen Ansatzes ansehen.3
Vermutet der erste Blick auf das Lesen im Philosophieunterricht also zunächst eine (durchaus beachtenswerte) Übereinstimmung in fachdidaktischer und unterrichtspraktischer Hinsicht, so erhält der zweite Blick, der ein wenig genauer auf das hinblickt, was als Lesen im Unterricht geschieht, eine überraschende Wendung und erschrickt über den Riss, der sich dem aufmerksamen und gegenüber einem allzu offensichtlichen Konsens skeptischen Beobachter bereits im Vorfeld andeutet und der mitten durch die ursprüngliche Einheit eines lese- und somit textorientierten Unterrichtsmodells klafft.
Die klaffende Wunde
Unter der klassisch dekorierten Tagesdecke des lesenden Bildungsideals an den weiterführenden Schulen brodelt es gewaltig. Klagen über Textmüdigkeit und Textverdrossenheit4, wie sie Martens in der eigenen Unterrichtspraxis bereits 1983 wahrnimmt, teilen viele Lehrer landauf, landab bis heute und nehmen sie resignierend zur Kenntnis. Was dabei in der Sekundarstufe II an der Oberfläche des Unterrichtsgeschehens mehr oder minder stark zum Ausdruck kommt (›Schülerinnen und Schüler lesen nicht(s) mehr, verstehen Texte nicht mehr, können schriftlich fixierte Argumentationen nicht mehr nachvollziehen, schon gleich gar nicht als solche erkennen, etc.‹), durchläuft einen jahrelangen Prozess persönlicher Lesebiographien, die zumindest zu Beginn der Lesegeschichte eine positive Entwicklung zu versprechen scheinen. Dieser Prozess vollzieht sich nicht dramatisch und damit nicht so, dass man ihn zu einem Zeitpunkt erkennt und ihn sich bewusstmacht, so dass er eine didaktisch fundierte Intervention zuließe, sondern schleichend, sich über die verschiedenen Unterrichtsfächer ausbreitend, in denen Schülerinnen und Schüler lesen und mit und an Texten arbeiten. Gerade dieser schleichende, in der Unterrichtspraxis selten gemeinsam von Lernenden und Lehrenden reflektierte und deshalb auch nicht expressis verbis artikulierte Prozess der Entfremdung vom Lesen bewirkt bei den Schülerinnen und Schülern im Lauf der schulischen Auseinandersetzung mit Texten nachhaltige Folgen, die sich in Form von Langeweile, Frustration, Desinteresse und schließlich Gleichgültigkeit äußern.
Natürlich unterliegt dieser Befund in seiner Pointierung durchaus der Gefahr der Pauschalierung, und mancher kann ihn vermutlich durch gegenteilige (Lese-)Erfahrungen von und mit Schülerinnen und Schülern entkräften, allerdings werden die meisten Kolleginnen und Kollegen, die aufmerksam und sensibel die Schülerreaktionen im Unterrichtsgeschehen beobachten, bestätigen, dass sich ein Energiesparmodus im Klassenzimmer ausbreitet, sobald sich eine Phase der Textarbeit andeutet. Zwar wird an weiterführenden Schulen viel gelesen und textorientiert gearbeitet, aber gleichzeitig scheint diese Arbeitsweise und Methode der textgebundenen Auseinandersetzung mit Welt und Mensch bei jungen Menschen – zumindest im Unterricht – zunehmend als spannungsarm und erfahrungsfern zu gelten. Wenn aber genau dies im Bildungsprozess passiert – dass Spannung nachlässt und Erfahrung in die Ferne rücken –, droht im Unterrichtsgeschehen ein Kollaps, der in Resignation auf allen Seiten umschlägt.
Das identifikatorische Defizit
Auch die literaturwissenschaftliche Leseforschung der Germanistik, die sich mit empirischen Methoden dem angesprochenen Problem annähert, erkennt dieselbe Tendenz. Namentlich der textbezogene Deutschunterricht in der Sekundarstufe II muss sich in diesem Zusammenhang mit harscher Kritik von Seiten der lesenden Schülerinnen und Schüler auseinandersetzen. »Ständiger Tenor in der Abwehr der schulischen ›Pflicht‹-Lektüre ist die Klage über die geforderte Art der Behandlung, das Analysieren und kontrollierte Interpretieren, das identifikatorisches Lesen unmöglich macht[e].«5 Mit diesem Beitrag aus der Perspektive des Deutschunterrichts lässt sich die Fragestellung nach der Bedeutung des Lesens im Philosophieunterricht um eine wesentliche Dimension anreichern, die die Frage nach dem Lesen zum Kern führt: Die Pflicht zum Lesen und zur Textarbeit beschreiben Jugendliche – wohl nicht nur im Deutschunterricht – als Ursache eines defizitären Lesens, das nicht mehr in unmittelbarer Beziehung zur Persönlichkeit des Lesers steht. Dieses Defizit als Entzug der Relevanz und Bedeutung des Gelesenen für den Leser verursacht der schulische Lesemodus. Solches Lesen heißt im Gegensatz zum freiwilligen Lesen Pflichtlesen. Nun will ich nicht den Eindruck erwecken, als würden Schülerinnen und Schüler jede Verpflichtung zum Lesen als fremdbestimmten Zwang erfahren, gleichwohl zeigt sich, dass sie ein verpflichtendes Lesen, das die Relevanz des Gelesenen für den Leser zu thematisieren, zu bedenken und zu würdigen vergisst oder in den Hintergrund rücken lässt, als defizitär erfahren, das damit auf Ablehnung oder auf Gleichgültigkeit stößt. Beide Formen – Ablehnung in ihrer kritischen Dimension für den Unterricht als Anstoß zu einem gemeinsamen Dialog, Gleichgültigkeit hingegen als kaum zu bewältigende Endphase der Auseinandersetzung, in der Argumente nicht mehr greifen und das Engagement der Lehrkraft ins Leere läuft – wirken sich nachhaltig auf das Unterrichtsgeschehen aus und verfestigen sich als Vorurteil gegenüber jeglicher Art des Lesens oder gegenüber den (Nicht-)Lesern.
Somit also ist dort anzusetzen, wo die Kritik am Lesen ihren Anfang nimmt: am Modus des Pflichtlesens. Der Begriff des Pflichtlesens selbst ist dabei nicht unproblematisch. Haben wir doch bereits gesehen, dass nicht die Pflicht als Verpflichtung der Schülerin bzw. des Schülers auf das Lesen eines Textes, sondern das identifikatorische Defizit, insofern und immer dann, wenn die Pflicht zu lesen im Vordergrund zu erhellen vergisst, wohin sie zielt und mit welcher Absicht sie diese Verpflichtung erteilt, als wesentliches Problem dieses Lesemodus zu gelten hat. Da fehlt dann eben noch etwas: das, was die Bedeutung des Lesens für den Leser ausmacht und ohne die das Lesen von Texten in den Dienst der funktionalen Informationsbeschaffung überwechselt. Christian Gefert formuliert dies so:
»Sollten […] abstrakte Aussagen in philosophischen Texten einen Rezipienten zum Philosophieren animieren, müssen sie seine konkreten Deutungen der ›Wirklichkeit‹ berühren und ihm Impulse zur Weiterentwicklung seines eigenen Deutungsvermögens vermitteln. […] Nur wenn der Rezipient in der Auseinandersetzung mit einem philosophischen Text feststellt, dass sich seine gewohnte und verhärtete Deutungsperspektive auf die ›Wirklichkeit‹ […] durch die Begriffe, Thesen und Argumente in einem philosophischen Text ›verflüssigt‹, d. h. dass er die Möglichkeit entdeckt, »begrifflichen Prägungen« in der Deutungsperspektive des Textes weiter nachzugehen, als er es bisher getan hat […], gewinnt der philosophische Text für ihn eine Bedeutung als Impuls zum eigenständigen Philosophieren, d. h. zum Weiterdenken.«6
Im extremen Fall – und man darf vermuten, dass dieser in der Unterrichtspraxis nicht eintritt, ich unterstelle ihn also und wähle ihn bewusst als Folie, um das aufleuchten zu lassen, was als Lesen im Philosophieunterricht geschehen kann –, im extremen Fall also wählt man einen philosophischen Text für die Unterrichtsgestaltung, weil er zu diesem Thema im entsprechenden Absatz des Lehrplans oder im Inhaltsverzeichnis des entsprechenden Kapitels des Lehrbuchs aufgeführt ist. Die Arbeitsanweisung für die Schülerinnen und...
Erscheint lt. Verlag | 6.9.2023 |
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Reihe/Serie | Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht | Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | Didaktik der Philosophie • Originaltexte • Pädagogik • Schulunterricht • Textanalyse • Textarbeit |
ISBN-10 | 3-7873-4087-4 / 3787340874 |
ISBN-13 | 978-3-7873-4087-3 / 9783787340873 |
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