Beziehungsorientierte Beratung und Begleitung von Menschen, Teams & Organisationen (eBook)

Beziehungsorientierte Lebensberatung

Daniela Lau, Sandra Look-Haasler, Katharina Tast

Zusammenfassung

„Der Mensch wird am Du zum Ich.“ (Buber 2016, S. 28) Mit diesem Zitat drückt Martin Buber die Bedeutung der Beziehungserfahrungen im Gewordensein für unser heutiges Sein und Werden als Menschen im Miteinander aus. Gleichzeitig beschreibt er damit den Kern von Beziehungsorientierung, der diesem Artikel zugrunde liegt.

Dieser nachfolgende Artikel richtet sich an praktizierende und ausbildende Berater:innen, Coaches, sowie allen fachlich und persönlich am Thema Lebensberatung Interessierten und soll einen Beitrag dazu leisten, wie Beziehungsorientierung im Kontext von Lebensberatung gedacht und angewendet werden kann.

Dieser Artikel bezieht zunächst eine eigene theoretische Position, um im umfassenden Feld der Lebensberatung aus einer beziehungsorientierten Perspektive Orientierung zu geben. Er skizziert anschließend anhand praktischer Beispiele, wie in der beziehungsorientierten Lebensberatung neue Beziehungserfahrungen mit dem/der Berater:in gemacht werden können, die sich über als einschränkend erlebte dysfunktionale Beziehungserfahrungen des/der Klient:in legen oder zumindest danebenstehen können. Damit eröffnen sich ihm/ihr neue Möglichkeiten, anders als bisher Beziehung zu gestalten. Abschließend beleuchtet der Artikel die Bedeutung von Beziehungsorientierung für die Ausbildung von Lebensberater:innen.

1 Was beziehungsorientierte Lebensberatung ist

Lebensberatung im wörtlichen Sinne bedeutet nach unserem Verständnis „Beraten in Fragen und Anliegen des Lebens“. So vielfältig wie die Klient:innen und deren Leben sind, sind damit einhergehend auch die dazugehörigen individuellen Fragestellungen und Anliegen, mit denen sich Klient:innen an professionelle Beratung wenden. So deckt der Begriff der Lebensberatung verschiedene Bereiche des Lebens ab, wie Persönlichkeit, Partnerschaft, Familie und Beruf und reicht von präventiven Fragestellungen (z.B. Stress- und Burn-out-Prävention) bis hin zu Beratung in akuten Lebenskrisen (z.B. Krankheit, Trauerbewältigung, Scheidung, Jobverlust, Mobbing, Migration und Flucht, Sucht, Schulden). Ebenso vielfältig sind die Beratungsansätze, -formate und Ausbildungen, die zur Beratung in Lebensfragen befähigen sollen.

Da der Begriff der Lebensberatung weder in Bezug auf die Verwendung der Bezeichnung noch in Bezug auf den Inhalt eindeutig definiert ist, verstehen wir Lebensberatung als weitestgehend stigmafreien und leicht zugänglichen Weg zur freiwilligen Inanspruchnahme professioneller Unterstützung, die sich vorrangig auf die Bewältigung lebenspraktischer Fragen (wie oben beschrieben), bezieht. Dazu zählt in unserem Verständnis sowohl das gemeinsame Auseinandersetzen von Berater:in und Klient:in mit Existenz und Bedeutung dieser Fragen als auch das gemeinsame Erarbeiten möglicher Handlungs- und Lösungsansätze. Die Akzeptanz unveränderbarer Lebensumstände verstehen wir ebenfalls als mögliche hilfreiche Handlungs- und Lösungsoption.

Der Begriff der „Beziehungsorientierung“ bedeutet für uns im Kern, uns an der Beziehungshaftigkeit des Menschen als seinem Wesensmerkmal zu orientieren und den Menschen mit seiner Bezogenheit in den Mittelpunkt zu stellen. Nähe, Kontakt und Bindung verstehen wir dabei als notwendige Voraussetzung, um dem Menschen wahrhaft zu begegnen. Dieses beziehungsorientierte Verständnis leitet uns konsequent in unserem professionellen Denken und Handeln und ist Voraussetzung für eine effektive und nachhaltige Begleitung unserer Klient:innen. Was dies für die Arbeit in der Lebensberatung bedeutet, wird in den nachfolgenden Kapiteln näher beschrieben.

In unserem Beratungsalltag begegnen uns häufig Klient:innen, die sich bei der kognitiven, emotionalen und handlungsbezogenen Bewältigung ihrer lebenspraktischen Fragen Unterstützung wünschen. Die Anliegen und Fragestellungen haben dabei in aller Regel eine größere Gravitas, im Sinne einer höheren persönlichen Bedeutsamkeit, als dies in anderen Beratungsformen (z.B. Coaching) der Fall ist. Dies zeigt sich z.B. dadurch, dass die Anliegen deutlichere und umfassendere Bezüge zur Vergangenheit und zum Gewordensein des/der Klient:in haben können. Diese existentiellere Betroffenheit wird z.B. dadurch verursacht, dass ein größerer Teil der eigenen Persönlichkeit berührt ist und/oder Lebensbereiche bzw. Beziehungen tangiert werden, die als besonders bedeutsam empfunden werden. Die Bedeutsamkeit kann auch daraus resultieren, dass der/die Klient:in immer wieder an ähnlich gelagerte Probleme stößt und allein keinen Lösungsweg findet. Das liegt u.a. daran, dass bisherige Bewältigungsstrategien aus bisherigen Beziehungs- und Lebenserfahrungen gespeist sind und im Hier und Jetzt situativ nicht ausreichend funktionieren, Beziehungen bzw. das eigene Leben also nicht mehr gelingend gestaltet werden kann. Oft geht dies mit erhöhtem Leidensdruck einher, der sich z.B. in Form schmerzhafter Gefühle, Hilflosigkeit und Ohnmacht ausdrückt. Unsere Klient:innen fühlen sich oft nicht in der Lage, das, was im Fluss ihres Lebens durcheinandergeraten ist, aus eigener Kraft zu bewältigen. Alte Beziehungsmuster und Bewältigungsstrategien wirken hier selbstreferentiell und verstärkend.

Um diese zu durchbrechen, braucht es, unseres Erachtens nach, Angebote für Begegnungen, die es den Klient:innen ermöglichen, neue Beziehungserfahrungen zu machen. Dies ermöglichen wir in der gemeinsamen Beratungsbeziehung. Diese Erfahrung eröffnet dem/der Klient:in die Chance, sich selbst in Beziehung zu anderen, zu sich selbst und/oder der Welt, neu zu erfahren (zu sehen, zu fühlen und zu denken) und dadurch neue Möglichkeiten, bewusster oder auch anders zu handeln. Die neuen positiven Beziehungserfahrungen wirken wiederum auf den/die Klient:in zurück, werden sukzessive integriert und können im Hier und Jetzt selbstreferentiell wirksam werden.

Unser Verständnis von Lebensberatung grenzt sich von anderen Formen der Beratung ab. So beispielsweise vom Coaching, wo es in der Regel um professionelle berufliche Anliegen im Hier und Jetzt geht. Dies wird im Artikel „Beziehungsorientiertes Coaching“ des vorliegenden Bandes umfassend erläutert. Deutlicher abgrenzen wollen wir unser Verständnis von Lebensberatung von der therapeutischen Arbeit, da diese die Auseinandersetzung und Behandlung signifikanter, mitunter pathologischer Einschränkungen zum Gegenstand hat und je nach Therapieform nicht nur im Hier und Jetzt (z.B. Verhaltenstherapie), sondern mitunter tiefergehend mit der Vergangenheit des/der Klient:in arbeitet (z.B. Psychoanalyse). In diesem Kontext geht es um Heilung. Bei der Lebensberatung hingegen geht es im Kern um die Aktivierung eigener Ressourcen zur Problembewältigung beim/bei der Klient:in. Dabei richtet sich der Fokus auf dessen Lebenswirklichkeit im Hier & Jetzt.

Da das gegenwärtige und als problematisch empfundene Erleben häufig im Zusammenhang mit dem eigenen Gewordensein und früher gemachten Beziehungserfahrungen steht, ist es in manchen Beratungsprozessen sinnvoll, zur Lösung der aktuellen Situation dem Gewordensein Beachtung zu schenken, ohne den Anspruch zu erheben, einen Heilungsprozess in einem regredierten (auf Früheres zurückgehenden) Zustand anzustoßen. Das bedeutet konkret, dass im Unterschied zur Therapie der/die Klient:in im Rahmen der Lebensberatung zwar nach zurückliegenden Ereignissen und früheren Beziehungserfahrungen (z.B. aus der Kindheit) befragt werden kann, er aber nicht dazu eingeladen wird, aus diesem früheren Zustand (z.B. seines eigenen Erlebens als Kind) zur Situation zu sprechen oder aus diesem heraus zu fühlen und zu denken.

2 Die Bedeutung der Beziehungsorientierung in der Lebensberatung

Unser Identitätsverständnis als beziehungsorientierte Berater:innen hat einen signifikanten Einfluss auf die Art unserer Beziehungsgestaltung zu Menschen und ist damit von entscheidender Bedeutung für unseren Beratungsalltag und demzufolge der Art, wie wir Lebensberatung verstehen und praktizieren: Getragen von einer Ethik und Grundhaltung gegenseitigen Respekts und Wertschätzung, sind wir der Überzeugung, dass alle Menschen gleichermaßen wertvoll und willkommen in dieser Welt sind. Die Ebenbürtigkeit und Gleichwertigkeit in der Beziehung bezeichnen wir als Augenhöhe. Diese fordert uns als Menschen immer wieder heraus, denn es gilt, das Verbindende zu sehen und gleichzeitig die Einzigartigkeit eines jeden zu respektieren. So erfordern gelingende Beziehungen Begegnungen auf Augenhöhe (vgl. Korpiun 2022). Da wir als Menschen auch immer wieder daran scheitern, erfordert dies gleichzeitig Demut und einen verzeihlichen Umgang mit uns selbst und anderen.

Überdies sind wir der Überzeugung, dass in jedem Menschen, aufgrund seiner wesenhaften Bezogenheit, die grundsätzliche Fähigkeit zu Gestaltung gelingender Beziehungen angelegt ist. Das Potential und die Ressourcen, Beziehungen bewusst und selbstverantwortlich gestalten zu können sind folglich vorhanden. Entwicklung bedeutet für uns...