Als die Welt innehielt, um zuzuhören

Van Cliburns Triumph im Kalten Krieg und die Folgen

(Autor)

Buch | Softcover
332 Seiten
2023 | 1. Erste deutsche Ausgabe
STACCATO (Verlag)
978-3-932976-89-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Als die Welt innehielt, um zuzuhören - Stuart Isacoff
25,00 inkl. MwSt

Stuart Isacoff ist Pianist, Schriftsteller und Begründer des Magazins Piano Today, dessen Herausgeber er fast 30 Jahre lang war. Er gewann den ASCAP Deems Taylor Award für herausragenden Musikjournalismus, und er schreibt regelmäßig für das Wall Street Journal und viele weitere Zeitschriften. Außerdem ist er der Autor von A Natural History of the Piano und Temperament: How Music Became a Battleground for the Great Minds of Western Civilisation. Er lebt in Closter, New Jersey.

Die Menschenmassen wuchsen täglich an vor dem Moskauer Konservatorium: Arbeiter mit ihren Pelzmützen, Matronen in schwarzen Mänteln und Schals, Teenager, die Blumensträuße umklammerten und in der knackig-kalten Luft zitterten. Ein Dunst von gefrorenem Atem umhüllte die Versammelten wie feiner Staub. Über den Köpfen schwebten Wolken und verliehen der Szene eine gewisse Trostlosigkeit. Es war April, eine Zeit, in der die Eisflächen auf Moskaus Straßen normalerweise der Frühlingssonne Platz machen und zarte Blätter von unten durch die Fläche des gefrorenen Bodens sprießen. Allein 1958 wollte der Winter nicht weichen. Und die Versammlung der Leute wuchs weiter an. Sie drängten sich um das Tschaikowsky-Denkmal in der Nähe der Schule, einem umgebauten Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert, das einst von der Zarenfamilie beschlagnahmt worden war, und strömten in den schneebedeckten Innenhof. Als sie die Mauer der Milizsoldaten erreichten, die den Eingang versperrten, verdichtete sich deren ungeordneter Aufmarsch zu einem kompakten Haufen, bevor er in einem Durcheinander endete. In einer Stadt, in der die Leute oft anstanden, ohne so recht zu wissen, was zu finden war (Fisch? Bananen? Konzertkarten?), gehörten Menschenschlangen zum Lebensgefühl. Der Schriftsteller Igor Efimov schuf eine Figur, die solche Ansammlungen heimlich liebte: „Sie fühlte sich gut aufgehoben in ihnen wie in einer sicheren Kapsel, bestehend aus den Menschen vor und hinter sich.“ Die meisten Moskowiter fanden sich einfach mit dieser Situation ab. In der aktuellen Menge jedoch befanden sich die Leute in zunehmender Aufregung. Sie machten sich nämlich Hoffnungen, das Stadtgespräch zu sehen: einen langbeinigen, jungen Texaner, dessen Klavierspiel, kometengleich am Konzerthimmel erschienen, schon seit Tagen das Publikum des allerersten Internationalen Tschaikowsky-Klavierwettbewerbes in seinen Bann zog, eine kulturell besonders hochwertige Form von Weltmeisterschaft, bei der Musiktalente aus der ganzen Welt gegeneinander antraten. Der Contest war konzipiert, um den sowjetischen Nationalstolz durch einen Gewinner aus dem eigenen Lager zu stärken. Leider aber war nun die ganze Aufmerksamkeit auf diesen unheimlichen Amerikaner gerichtet, dessen musikalisches Talent die Preisrichter in Staunen und die ganz normalen Bürger massenweise schier in Wahnsinn versetzte. Der Hype um ihn begann während der ersten Runde des Wettbewerbs in der Großen Halle des Konservatoriums und verbreitete sich in der Stadt wie eine Dampfwolke. Als die Herausgeber von Zeitschriften und die Rundfunkleute diese Aufregung noch anheizten, wurden die Eintrittskarten so rar wie die Kronjuwelen der Romanows. Van Cliburn aus Kilgore, Texas, war einfach der letzte Schrei. Arbeiter mit wenig Bildung begannen in bestimmten Straßen herumzustreichen in der Hoffnung, einen Blick auf ihn werfen zu können. Als der Pianist Lev Vlassenko, der vom Kreml vorgesehene Gewinner, ein Taxi zum Konservatorium nahm, fragte ihn der Fahrer: „Und was macht der Lange?“ Es war eine erstaunliche Wende der Ereignisse. Die Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion waren seit dem Start des ersten Weltraumsatelliten Sputnik 1957 gewachsen. Zur Zeit des Tschaikowsky-Wettbewerbes hielt die gesamte westliche Welt den Atem an, aus Furcht, dass bald Bomben vom Himmel fallen würden; amerikanische Kinder übten in der Schule regelmäßig, unter ihr Pult zu kriechen, um sich auf die kommende Katastrophe vorzubereiten. Bei einer so breiten Antipathie zwischen den beiden Nationen hätte niemand damit rechnen können, dass am Ende der ersten beiden Durchgänge ein Amerikaner drauf und dran war, den Spitzenplatz in diesem sowjetischen Wettbewerb zu erringen. In einer Kultur, in der fast alles von politischer Taktik bestimmt wurde, war Vans Weiterkommen bis zu einem möglichen Sieg eine sensationelle Nachricht. Und für fast jeden, der ihn gehört hatte, schien er nicht mehr vermeidbar. Er maß stolze 1,95 Meter, den Kopf bedeckt mit buschigen, blonden Haaren (die Frau des amerikanischen Botschafters nannte ihn scherzhaft „Brillo Top“). Sein Gesicht mit einem dezent hervortretenden Kiefer und ebensolchen Backenknochen hatte einen irischen Einschlag, vervollständigt durch dünne, sinnliche Lippen und kornblumenblaue Augen. Und er war ach so schlank! Wenn er am Piano saß, sah er aus wie „eine Erbsenschote mit riesigen Händen“, so Schuyler Chapin, einer seiner Manager. Der Kritiker Winthrop Sargeant beschrieb die Finger des Pianisten als ein „Spargelbund“. Wenn auch diese Vergleiche nicht besonders schmeichelhaft waren, so trugen beide dazu bei, Van Cliburn zu einem Naturereignis zu machen. Nichtsdestotrotz, so erinnert sich Max Frankel, damals in Moskau als Korrespondent der New York Times tätig, bekamen die russischen Mädchen Ohnmachtsanfälle. Frauen in einem bestimmten Alter wollten in adoptieren. Ihre Töchter hatten da andere Pläne. Seine Bewunderer im Konzertsaal und die, die ihn im Radio hörten oder im Fernsehen sahen, waren sofort Feuer und Flamme, wenn der 23-Jährige auf die Bühne trat. Aber daran war nicht allein die Musik schuld. Sein Südstaatencharme war so dick wie Sauce auf frischen Biskuits, wenn er seine neuen Fans mit der ausgesuchten Wohlerzogenheit eines echten East-Texas-Gentleman begrüßte, mit unfehlbarer Anmut bei jeder Verbeugung. Das russische Publikum hatte sich schon immer von Virtuosen begeistern lassen, aber Van war da ein ganz anderer Typ. Er zeigte nichts von der grüblerischen Gefühlstiefe eines Svjatoslav Richter oder vom dämonischen Funkeln eines Vladimir Horowitz; das Gebäude erbebte nicht in seinen Grundfesten, wenn er spielte, ein Eindruck, den man hatte, wenn Anton Rubinstein am Klavier saß. Er spielte einfach wie ein Engel – und die Moskowiter legten ihm ihr Herz zu Füßen. Sogar seine seltsamen Angewohnheiten waren unerklärlicherweise liebenswert, z. B. wie er gelegentlich seine Augenbraue in Falten legte und dabei an Clark Gable als Hinterwäldler erinnerte. Oder wie er beim Spielen jedes Mal, wenn die Musik emotionaler wurde, nach oben blickte, als ob er mit dem Himmel Zwiesprache halte, während seine Lippen fast ständig Drops lutschten, die er routinemäßig im Mund hatte. Zwei der berühmtesten Jury-Mitglieder, die Pianisten Lev Oborin und Heinrich Neuhaus, sprachen über diese Kopfbewegungen: „Warum macht er das?“, fragte Oborin etwas missbilligend. „Er unterhält sich mit Gott“, antwortete Neuhaus. „Diese Gabe ist uns leider nicht gegeben.“ Radioübertragungen vom Wettbewerb waren so beliebt, dass die Straßen oft leer waren, wenn die Pianisten spielten. Das Zuhören wurde so zu einem kollektiven Zeremoniell, das die Enthusiasten zu etwas zusammenschweißte, was ein prominenter russischer Musikkritiker eine nationale Veche bezeichnete, vergleichbar mit einer mittelalterlichen Volksversammlung. Diese Bewunderer bildeten ein so starkes Gegengewicht gegen mögliche Manipulationen des Kreml am Votum der Jury, dass die Kritikerin Tamara Grum-Grzhimailo später behaupten konnte, die Saat der Perestroika sei zum ersten Mal in diesem Moment gesät worden, nämlich während des Tschaikowsky-Wettbewerbes 1958. Natürlich stemmten sich im Kreml einige aus Furcht vor einer Niederlage im Kalten Krieg gegen die Krönung des Amerikaners. Vans Ausstrahlung war aber kaum politisch, sie beruhte auf seiner Person. Er hatte die frappierende Fähigkeit, fast jeden aus seiner Reserve zu locken. Immer hatte er sein Herz auf der Zunge; und auch wenn kaltschnäuzigere Freunde sich in New York oft über seine etwas überzogene Sentimentalität lustig machten, kam er bei den Russen damit gut an. Vans tiefsitzende Bescheidenheit war ein wichtiger Teil seiner Anziehungskraft, so dass seine übertriebenen Emotionen durchaus glaubwürdig wirkten. Unter der Oberfläche aber war ein komplexerer dynamischer Prozess im Gange. Aufgewachsen im vornehmen Treibhausklima ost-texanischer Lebensart, wo man den Leuten beibrachte, ihre inneren Dämonen tief im Verborgenen zu lassen, war Cliburn komplizierter, als er zunächst wirkte, wenn er auch eine Art von geistiger Unbescholtenheit ausstrahlte: nicht in dem Sinn, irdischen Versuchungen abhold zu sein, nein, weit davon entfernt, durch eine Aura ehrlicher, sauberer Anständigkeit. In seinem Klavierspiel kann man eine Menge dieser Eigenschaften finden. Er saß majestätisch gerade am Instrument, wie ein König auf seinem Thron (nicht unähnlich dem großen Pianisten Sigismond Thalberg aus dem 19. Jahrhundert, der angeblich seine Körperhaltung lernte, indem er während des Übens eine türkische Pfeife rauchte); aber sein Ton war wie sein Charakter warm und bezaubernd, ein „magnoliengleicher Klang“, wie ein Gönner aus Texas ihn beschrieb. Seine Hände konnten mit einem einzigen Zugriff große Teile der Tastatur erfassen, und durch sie floss die Musik so natürlich wie ein Frühlingshauch, das Auf und Ab kunstvoll bemessen und sanft wehend und mit einem Rhythmus, der sowohl strikt als auch elastisch war. Und das alles klang irgendwie immer bekennerhaft. Ob er Bach spielte oder Rachmaninow: das Klavier schien immer intime Geheimnisse preiszugeben. Sein unverwechselbarer Klavierklang – der glühende Ton und die noble Ernsthaftigkeit, die Art, wie die Dynamik der Musik unter seinen Fingerspitzen auf- und abschwoll wie Seufzer, wenn er eine Melodie modellierte – ließ den Abstand zwischen ihm und den Zuhörern verschwinden, so dass, während er spielte, Chopins Herz in ihrer eigenen Brust zu schlagen schien. Obwohl seine Konkurrenten beim Wettbewerb bestens vorbereitet waren, unterschied sich Vans Kunst doch irgendwie von der seiner Mitbewerber. Für viele im Publikum stand er für das Gesicht der Freiheit. Indem er unter der Schirmherrschaft eines repressiven Systems und vor der einschüchternden Jury einiger der bedeutendsten Musiker der Welt spielte, schien er sich keiner anderen Autorität zu unterwerfen als den wechselnden Gezeiten seiner eigenen Seele. So wirkte allein schon die Tatsache, ihn zu hören, als ein Akt der Befreiung. Als der Amerikaner den Sieg nach Hause brachte, setzte er ein Beben rund um die Welt in Gang, öffnete diplomatische Türen und startete eine der bemerkenswertesten Karrieren der Musikgeschichte. Van Cliburns Geschichte hat die Züge eines homerischen Epos mit großen Heerscharen, die sich gegenüber stehen wie Gottheiten auf einem Schlachtfeld, Herausforderungen, die die psychische Kraft der einzelnen Seelen auf die Probe stellten, und einem Helden, der in einem außerordentlichen, aber kurzlebigen Sieg zu mythischen Höhen empor wuchs, bevor die Schicksalsgötter ihren Preis forderten. Vieles, was geschehen ist, ist ungesagt geblieben: Es ist eine dramatische Mischung aus politischer Intrige und privaten Kämpfen, aus blühendem Künstlertum und den Fußangeln der Berühmtheit und von Hoffnungsfunken in der Mitte eines erschreckenden Aufeinanderprallens globaler Mächte. Vor allem jedoch ist es eine Geschichte von der Fähigkeit eines Künstlers, andere zu berühren und zu verwandeln, aber auch ein warnender Hinweis auf die Grenzen der Kunst. Für Van Cliburn wie auch für die anderen Mitgewinner des 1. Tschaikowsky-Wettbewerbes waren Triumph und Niedergang unauflöslich miteinander verbunden.

Erscheinungsdatum
Zusatzinfo Fotos aus Van Cliburns Leben vor, während und nach seinem Gewinn des ersten Tschaikowsky-Wettbewerbs 1958 aus Archiven aus aller Welt.
Verlagsort Niederkrüchten
Sprache deutsch
Original-Titel When the World Stopped to Listen
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte cliburn • Klater Krieg • Klavier • Tschaikowsky • UdSSR • USA • Wettbewerb
ISBN-10 3-932976-89-4 / 3932976894
ISBN-13 978-3-932976-89-6 / 9783932976896
Zustand Neuware
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