Holger Hof, Berlin; Stephan Kraft, Universität Würzburg.
Gottfried Benn und Carl Einstein. Freundschaft, Netzwerke, Themen. Eine Einführung
So möchte man einmal rezensiert werden: „Vor Leistung ist Lob töricht; ich stelle meine Bewunderung fest.“1 Mit diesen Worten schließt Carl Einstein seine Besprechung von Gottfried Benns „Gesammelten Gedichten“ in der „Neuen Rundschau“ im Oktober 1927. Einstein ist der Öffentlichkeit zu dieser Zeit vor allem als scharfer Kunstkritiker und Verfasser des 1926 erschienenen Bandes „Die Kunst des 20. Jahrhunderts“ in der Propyläen-Kunstgeschichte bekannt. Literarische Texte seiner Zeitgenossen lobt er hingegen nur selten.
Die Freundschaft von Gottfried Benn und Carl Einstein reicht damals schon viele Jahre zurück in die Hochphase des Expressionismus im Kontext des „Aktions“-Kreises um Franz Pfemfert; sie vertiefte sich in der gemeinsamen Brüsseler Zeit im Ersten Weltkrieg. Bislang noch wenig präsent ist die intensive Fortführung der Beziehung im Berlin der 1920er Jahre. Obwohl keine direkten Briefe zwischen den beiden überliefert sind, bietet die jüngst publizierte Korrespondenz Carl Einsteins der Jahre 1904 – 1940 mit ihren zahlreichen Erwähnungen Benns und gemeinsamer Bekannter vielfältige Einblicke in das Verhältnis der beiden Autoren, ihre sich überschneidenden Netzwerke sowie Hinweise auf Themen, die sie gemeinsam oder auch je einzeln beschäftigten. So schreibt Einstein 1923 einmal an Tony Simon Wolfskehl:
Zu komisch – dass Benn und ich vom Litteraturbetrieb keinen blassen Schimmer haben; er nannte mir eine grosse Zeitschrift – ich hatte keine Ahnung von ihrer Existenz. Solche Dinge verbinden ungemein. Jeder von uns schreibt blind drauf los – wenn man mal Zeit hat und man lässt die Sachen liegen. Ich habe noch nie 2 solche Käuze gesehen. ohne jedes Ausnutzen von Ruf oder Beziehung. Eigentlich habe ich grosse Achtung vor uns beiden und jede vor dem andern; während wir das meiste drum rum garnicht schätzen. Sehr wenig und Erfolg für ein Pech halten. Komische Leute, was?2
Was haben die beiden im jeweils Anderen gesehen? Einsteins Rezension vereinnahmt Benn, so kann man wohl sagen, für das eigene Programm einer Avantgardeästhetik, die dieser so kaum vertreten haben dürfte. Die „zerebralen Halluzinazionen“ Benns, mit den Mitteln eines „sprachlichen Autismus“ zu artistischer Lyrik geformt, bergen, so meint Einstein, „zunächst das vorregional Geahnte oder Mögliche, das – noch nicht analysierbar – Entwurf zu heutigem Mythus ist.“3 Umgekehrt gilt Einstein dem Freund noch nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem als Vertreter einer ‚absoluten Prosa‘, auf die Benn mit eigenen Texten wie dem „Roman des Phänotyp“ zielt.4 Dabei handelt Einsteins Prosa seit dem „Bebuquin“ gerade davon, dass die avantgardistischen Versuche das angestrebte Absolute immer wieder verfehlen – seine Protagonisten bleiben, wie er selbst als Autor, „Dilettanten des Wunders“. Auf diese Weise ist die gegenseitige Hochschätzung, so zweifelhaft ihre jeweiligen Prämissen auch sein mögen, untrennbar mit der Frage nach dem Wesen der literarischen Avantgarden verbunden. Verfahren, Programme und Wertungen beider Autoren bleiben in ihren wechselseitigen Bezugnahmen komplex und lohnen eine fortgesetzte Beschäftigung, auch und gerade was das Gattungsspektrum emphatisch moderner Prosa betrifft.
Überdies ist beider Werk, wie Kunst und Theorie des Expressionismus überhaupt, vielfältig mit der europäischen und damit auch der deutschen kolonialen Vergangenheit verflochten. Während sich Carl Einstein bekanntermaßen intensiv mit afrikanischer Plastik auseinandergesetzt hat und in seiner Zeit in Brüssel im Museum für Belgisch-Kongo in Tervuren (heute: Königliches Museum für Zentral-Afrika) tätig ist, gewinnt dieses Thema in der Lyrik Benns vor allem in den 1920er Jahren an Bedeutung (u. a. in „Osterinsel“, „Banane“, „Ostafrika“), ist aber auch schon zuvor in Gestalt eines breiter zu fassenden Exotismus und Primitivismus vielfach im Werk präsent. Aus den jüngsten kulturellen und kulturpolitischen Debatten, unter anderem über die Frage nach dem Umgang mit kolonialer Raubkunst, ergeben sich neue Diskussionsansätze zur Beleuchtung des jeweiligen Eingebundenseins der beiden Autoren in diesen Kontext.
An Einstein denke ich oft und lese in seinen Büchern, der hatte was los, der war weit an der Spitze. Überhaupt die Jahre von 1912 – 1933 waren ja wohl die grossen Geniejahre, die letzten die Deutschland hatte.5
So schreibt Benn noch im März 1951 an den gemeinsamen Bekannten aus alten Tagen Ewald Wasmuth. Da ist Einstein schon über zehn Jahre tot, während Benn gerade dabei ist, seine literarische Reputation nachhaltig zurückzugewinnen. So kann auch der Verlauf beider Biografien exemplarisch für das Schicksal der Avantgarden im 20. Jahrhundert stehen. Einstein scheitert als Exilant, Jude und Spanienkämpfer auf der Flucht vor den Nationalsozialisten und nimmt sich an der spanischen Grenze das Leben. Nach dem Krieg wird es lange dauern, bis er vom Poète à l’Écart zu einem Klassiker der emphatischen Moderne aufsteigt. Benn dagegen übersteht sowohl seinen kurzen Flirt mit dem NS-Regime als auch seine anschließende Anfeindung durch ebendieses im Schutze der Wehrmacht, um nach 1945 mit einigem Anlauf noch einmal zu einer einflussreichen Figur der Gegenwartsliteratur zu werden.
Die Bezugspunkte der beiden sind also höchst vielfältig, und auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich schwerpunktmäßig dem einen oder dem anderen widmen, haben das jeweilige Gegenüber in unterschiedlicher Intensität entsprechend häufig mit im Blick. Dies bot eine solide Basis dafür, den Schnittmengen und Differenzen der Werke von Benn und Einstein eine internationale wissenschaftliche Tagung zu widmen. Veranstaltet wurde sie im Herbst 2022 an der Universität Münster in einer Kooperation der Carl-Einstein-Gesellschaft/Société Carl Einstein und der Gottfried-Benn-Gesellschaft mit großzügiger Unterstützung der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten (ALG). Eine weitere Förderung durch die Gottfried-Benn-Gesellschaft machte zudem einen öffentlichen Vortragsabend mit Texten von Einstein und Benn mit dem Schauspieler und Sprecher Charles Brauer möglich. Die wissenschaftlichen Erträge der Veranstaltung werden nun hier im „Benn Forum. Beiträge zur literarischen Moderne“ präsentiert. Für die Hilfe bei der Bearbeitung der Druckfassungen sei dem Würzburger Redaktionsteam mit Jule Beck, Samuel Müller und Valentina Sontag gedankt.
Die Münsteraner Tagung war in drei Sektionen eingeteilt, die sich auch im vorliegenden Band wiederfinden und die jeweils Beiträge umfassen, die entweder auf einen der Autoren konzentriert sind oder eine dezidiert vergleichende Perspektive einnehmen:
-
Avantgardepoetik und die Idee der ‚absoluten Prosa‘
- II.
Kolonialismus und Exotismus
- III.
Expressionistische und postexpressionistische Netzwerke
Dass nicht jede Zuordnung eines Beitrags vollkommen eindeutig ist, versteht sich dabei ebenso wie der notwendig aus den gegenläufigen Interessen resultierende eingeschränkte Selbstanspruch einer solchen Tagung. Einerseits soll mit einem repräsentativen Querschnitt von Themen eine gewisse Breite erzielt werden, andererseits will man nicht im Allgemeinen stehenbleiben, sondern in diesem schon so vielfältig bearbeiteten Themenfeld durch punktuelle Tiefenbohrungen neue Schichten erreichen. Kurz: Auch wenn im Folgenden nicht alles in gleicher Intensität bearbeitet wird, so wird doch hoffentlich viel Anregendes geboten, das wiederum weiteres Nachdenken und Forschen in Gang setzen mag.
Zuvor wurde bereits angedeutet, dass leider keine direkten Briefe von Einstein an Benn oder umgekehrt überliefert sind und überhaupt nur sehr wenige noch heute konkret fassbare Dinge von der Beziehung Zeugnis ablegen, wie etwa ein Exemplar von Einsteins „Anmerkungen“ aus dem Jahr 1916, das im Berliner Teil von Benns Nachlassbibliothek im Archiv der dortigen Akademie der Künste aufbewahrt wird. Umso schöner ist es, dass sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach ein ganz besonderes Freundschaftszeichen erhalten hat, das in den gemeinsamen Tagen in Münster geradezu einen Emblemcharakter gewonnen hat. Es handelt sich um ein Geschenk Einsteins an Benn – ein ursprünglich zu kultischen Zwecken hergestelltes tibetanisches Räuchergefäß, das in den Jahren um 1900 entstanden ist. Es stellt die Gottheit Mahakala dar, die aus dem Hinduismus übernommen worden ist, wo sie eine zornige Variante Shivas darstellt. Dass Einstein sich nicht nur mit afrikanischer, sondern auch mit asiatischer Plastik beschäftigt hat, ist ja gut bekannt.
Zeitpunkt und Anlass des Geschenks sind hingegen unbekannt – es kann spekuliert werden, dass Einstein es Benn irgendwann in den 1920er Jahren zugedacht hat, als dieser wieder einmal – freilich vergeblich – versucht hat, sich das Rauchen abzugewöhnen....
Erscheint lt. Verlag | 18.9.2023 |
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Zusatzinfo | 13 b/w and 20 col. ill. |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Germanistik |
Schlagworte | Benn, Gottfried |
ISBN-10 | 3-11-110279-3 / 3111102793 |
ISBN-13 | 978-3-11-110279-5 / 9783111102795 |
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