Volkstribun (eBook)
336 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12241-1 (ISBN)
Michael Sommer, geboren 1970, studierte Geschichte, Klassische Philologie, Wissenschaftliche Politik und Vorderasiatische Archäologie in Freiburg. Von 2002 bis 2012 forschte und lehrte er in Oxford und in Liverpool. Seit 2012 ist er Professor für Alte Geschichte an der Universität Oldenburg. Seine Bücher zur römischen Geschichte sind Standardwerke.
Michael Sommer, geboren 1970, studierte Geschichte, Klassische Philologie, Wissenschaftliche Politik und Vorderasiatische Archäologie in Freiburg. Von 2002 bis 2012 forschte und lehrte er in Oxford und in Liverpool. Seit 2012 ist er Professor für Alte Geschichte an der Universität Oldenburg. Seine Bücher zur römischen Geschichte sind Standardwerke.
Erster Akt: Der Patrizier
Am Fuß des Kapitols in Rom befindet sich die alte Familiengruft der gens Claudia. Zu diesem Grabmal machte sich Ende des Jahres 76 v. Chr. eine große Zahl von Menschen auf. Ein langer Zug wälzte sich quer durch die Stadt zum Forum, machte dort bei den Rostra halt und setzte dann seinen Weg bis zum Südwesthang des Kapitols fort. Die Spitze des Zuges bildeten Musiker, es folgten Klageweiber, Tänzer und Possenreißer. Daran schlossen sich Schauspieler an. Sie trugen lebensechte, aus eingelegten Glasaugen starrende Abbilder aus Ton oder Wachs: imagines. Die Masken oder Büsten – die genaue Ausführung ist in der Forschung umstritten – stellten die verblichenen Angehörigen des trauernden Hauses dar. Normalerweise wurden sie im Atrium aufbewahrt, wo die Klienten warteten, wenn sie ihrem Patron allmorgendlich ihre Aufwartung machten. Jedes Bild war in einem Schrein aufgestellt, auf dem säuberlich Name und Karriere des Dargestellten vermerkt waren. Jetzt, für den Leichenzug, waren sie aus ihren Schreinen hervorgeholt und symbolisch zu neuem Leben erweckt worden.
Pompa Funebris
Die Hauptperson war aber natürlich der Tote selbst: Normalerweise wurde der Verstorbene, aufrecht sitzend und von einem Leichenausstatter prächtig zurechtgemacht, zum Grab getragen und dort auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Appius Claudius Pulcher war als Prokonsul im fernen Makedonien gestorben. Dass sein Leichnam nach der Überführung in die Hauptstadt noch in präsentationsfähigem Zustand war, darf bezweifelt werden. Gut erhalten hingegen waren die Beutestücke, die der Tote in seinen Kämpfen errungen hatte. Sie und prachtvolle Weihegaben, mit denen er Roms Heiligtümer verschönert hatte, wurden im Zug mitgeführt.
Dass vornehme Römer das Zeitliche segneten, kam mehrmals im Jahr vor. Wenn ein großes Haus, eine domus, trauerte, gab es immer etwas zu sehen: den üppig inszenierten Leichenzug, pompa funebris, oft auch Gladiatorenspiele zu Ehren des Toten. Selten aber konnte ein Verstorbener mit einem Spektakel auftrumpfen wie im Jahr 76 der Prokonsul Appius Claudius. Als ehemaliger Konsul, die Forschung spricht von einem Konsular, hatte er in der ersten Reihe der römischen Politik gestanden. Die Pompa war ein Gradmesser für den gesellschaftlichen Rang, den der Tote zu Lebzeiten kraft seiner individuellen Taten und Tugenden, aber auch dank des von seinen Ahnen aufgehäuften symbolischen Kapitals erworben hatte. Emotionaler Höhepunkt der Veranstaltung war die Leichenrede an den Rostra. Hier, auf der Rednertribüne, zählte in der Regel ein naher Verwandter, oft der Sohn, manchmal auch ein enger Freund des Verblichenen, dessen Verdienste auf. War er ein guter Redner, dann steckte er mit seiner Trauer die versammelten Zuschauer an. Und gute Redner waren die meisten Nobiles, denn die Fähigkeit, eine Menge in den Bann zu ziehen, gehörte zu den Schlüsselqualifikationen für eine politische Karriere. Der Redner machte dem Publikum bewusst, dass nicht nur die Angehörigen, sondern die res publica in ihrer Gänze einen unersetzlichen Verlust erlitten hatte. Damit nützte er auch seiner eigenen politischen Laufbahn: Sprang der Funke über, dann mehrte die Rede sein individuelles Kapital und das seiner Ahnen. Sie beglaubigte den Anspruch des Trauerredners darauf, in die Fußstapfen des Toten treten und auch politisch seinen Platz einnehmen zu können.[1]
Appius Claudius wurde auf seinem Trauerzug von den imagines seines Vaters, Großvaters, Urgroßvaters, Ururgroßvaters, Urururgroßvaters, Ururururgroßvaters und noch unzähliger weiterer Ahnen begleitet: mehr als zehn Generationen von Claudii, deren Stammbaum bis in die Frühzeit der Republik zurückreichte. Familien der Nobilität gestatteten das Mitmarschieren im Zug nur den Vorfahren, die ein höheres Amt, in der Regel mindestens die kurulische Ädilität, erreicht hatten. Bei den Claudii Pulchri spielte diese Einschränkung keine Rolle. Denn ausnahmslos alle Vorfahren waren Konsuln gewesen, so dass kein Mangel an vorzeigbaren Repräsentanten des Geschlechts herrschte. »Im Laufe der Zeit wurde sie mit achtundzwanzig Konsulaten, fünf Diktaturen, sieben Zensuren, sechs Triumphen und zwei Ovationen geehrt«, schreibt der Kaiserbiograph Sueton in seiner Tiberius-Vita über die gens Claudia. So viel akkumuliertes Ahnenkapital konnten außer den Claudiern allenfalls noch die Cornelii Scipiones vorweisen, deren Vorfahren die bedeutendsten Feldherren in den Punischen Kriegen gestellt hatten. Wer die Leichenrede für Appius Claudius hielt, wissen wir nicht. Er hatte drei Söhne, den knapp 25-jährigen Gaius, den etwas jüngeren Appius und den etwa 15-jährigen Publius. Gaius und Appius hatten zu diesem Zeitpunkt bereits die ersten Stufen ihrer politischen Karriere absolviert und als Militärtribunen Soldaten kommandiert. Gaius war außerdem Mitglied eines Priesterkollegiums, der Salier. In wenigen Jahren würde er 30 Jahre alt sein und dann für die Bewerbung um das erste Amt der senatorischen Ämterlaufbahn qualifiziert, die Quästur. Gaius wäre deshalb der ideale Kandidat auch für die Trauerrede auf seinen Vater gewesen. Einen besseren Einstand in die eigene Karriere hätte er sich jedenfalls nicht wünschen können.[2]
Welche Stationen im Leben seines Vaters wird Gaius Claudius, wenn er denn die Leichenrede hielt, hervorgehoben haben? Selbstverständlich listete er die Ämter auf, die sein Erzeuger bekleidet hatte: Appius Claudius Pulcher war um oder kurz nach 100 v. Chr. Quästor geworden und versah in diesem Amt richterliche und finanzhoheitliche Funktionen. Ein paar Jahre später bekleidete er die kurulische Ädilität, zu deren Aufgaben es gehörte, die Aufsicht über öffentliche Gebäude, Tempel, Märkte und die Getreideversorgung zu führen. Ädilen hatten außerdem öffentliche Gladiatorenspiele sowie Wagenrennen auszurichten und dafür aus eigener Tasche aufzukommen. Um dieses Amt hatte sich Appius Claudius einmal vergeblich beworben, was der Trauerredner selbstverständlich verschwieg. Auch ein Claudius konnte bei Wahlen durchfallen. 89 v. Chr. amtierte er als Prätor, ein Amt, dessen Inhaber vor allem richterliche Funktionen ausübten.[3]
Wenige Jahre später erlitt seine Karriere abermals einen Knick. Lucius Cornelius Sulla wurde für das Jahr 88 v. Chr. zum Konsul gewählt und mit dem Oberbefehl im Krieg gegen den König Mithradates VI. von Pontos beauftragt. Mithradates hatte die römische Provinz Asia im westlichen Anatolien angegriffen und dort in der »Vesper von Ephesos« an einem Tag angeblich Zehntausende Römer und Italiker abschlachten lassen. Das Kommando war attraktiv, denn auf den Schlachtfeldern des Orients gab es reiche Beute und viel Ehre zu gewinnen. Doch Sulla hatte mächtige Feinde, die dafür sorgten, dass ihm per Volksbeschluss das Kommando gegen Mithradates wieder entzogen wurde. Der Konsul war kein Mann, der sich eine Brüskierung dieses Formats ohne Weiteres bieten ließ. An der Spitze seiner bereits ausgehobenen Soldaten marschierte er nach Rom und nahm sich mit Gewalt den Oberbefehl, den man ihm hatte vorenthalten wollen. Indem er mit seinem Heer die Stadtgrenze überquerte, beging Sulla einen ungeheuerlichen Tabubruch, denn heiliges Recht machte Rom zur entmilitarisierten Zone, in der Soldaten nichts zu suchen hatten.
Der Proprätor – Promagistrate waren Prätoren und Konsuln, deren Kommando über ihre Amtszeit hinaus verlängert worden war – Appius Claudius Pulcher erhielt von Sulla den Auftrag, in Kampanien Aushebungen für den Krieg durchzuführen. Damit war er noch beschäftigt, als politisch erneut der Wind drehte. Sulla war nach Ablauf seines Konsulatsjahres 87 v. Chr. in den Orient aufgebrochen. In Rom waren mit Gnaeus Octavius ein Anhänger Sullas und mit Lucius Cornelius Cinna ein eingefleischter Popular Konsuln geworden. Beide mobilisierten ihre Anhänger, die sich heftige Straßenschlachten lieferten. Daraus ging Octavius zunächst als Sieger hervor, doch Cinna entkam nach Kampanien, wo er die von Claudius ausgehobenen Truppen zum Abfall bewegte und seinem Kommando unterstellte. Mit diesem Heer nahmen Cinna und sein Verbündeter Marius Rom ein. Die Popularen errichteten dort ein Schreckensregiment, das bis zu Sullas Rückkehr aus dem Orient Bestand hatte. Claudius wurde seines Oberbefehls – der...
Erscheint lt. Verlag | 14.10.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Vor- und Frühgeschichte / Antike |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Vor- und Frühgeschichte | |
Schlagworte | amicitia • Antikes Rom • Black Rome • Caesar • Cicero • dark rome • Gewalt • Gewaltankündigung • Gnaeus Pompeius Magnus • inimicitia • Julius Caesar • Klientelwesen • Licinius Crassus • Lucullus • Marcus Tullius • mos maiorum • Neues Sachbuch 2023 • Neues Sachbuch Rom 2023 • Niedergang • Optimaten • Popularen • Populismus • Publius Clodius • Römische Republik • Schlägerbanden • Senat • Senatoren • Spiegel Bestseller Autor • Verfall • volkstribunat |
ISBN-10 | 3-608-12241-9 / 3608122419 |
ISBN-13 | 978-3-608-12241-1 / 9783608122411 |
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