Das Buch aller Bücher (eBook)

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2022 | 1. Auflage
600 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77388-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Buch aller Bücher -  Roberto Calasso
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Das Buch aller Bücher ist der zehnte Teil eines monumentalen »work in progress«, dessen erster Teil, Der Untergang von Kasch, 1983 (deutsch 1997) erschienen ist. Es geht um die Bibel, hauptsächlich das Alte Testament. Nicht christlich, nicht jüdisch, nicht fachtheologisch, sondern um »die Bibel nach Calasso«.

Weder kritisch zerpflückend noch theoretisch vereinnahmend, sondern nüchtern und unter Kenntnisnahme der Forschung widmet sich Calassos Großessay in einer strukturierten Nacherzählung ausgewählten Teilen und Strängen der biblischen Geschichte - unter besonderer Berücksichtigung von Themen, denen der Autor von Anfang an auf der Spur gewesen ist. Vor allem dem des Opfers, dem er hier bis hin zu Jesu Tod nachgeht.

Es ist eine späte Einbeziehung der Tora, der »Kinder Israels«, Jahwes, des Monotheismus in Calassos Kosmos. Entsprechend nachdrücklich würdigt der Autor - Advokat des Polytheismus, der Welt der Mythen, des irreduzibel Vielgestaltigen - die Rolle, welche die Götter, Götzen, Idole Ägyptens und der Nachbarstämme immer wieder und über lange Zeit für das Volk Israel gespielt haben. Gerade diese Einfügung in die verwirrend vielfältig changierende Kultur- und Religionsgeschichte des Nahen Ostens erlaubt ihm, das Besondere und Einmalige Jahwes und der Geschichte Jahwes mit Israel zu identifizieren und, ausgreifend bis hin zu Freuds Der Mann Moses und Kafka, hervorzuheben.



<p>Roberto Calasso, geboren 1941 in Florenz, war Essayist, Kulturphilosoph und Verleger des Mail&auml;nder Verlages Adelphi Edizioni. Zuletzt erschien von ihm <em>Der Himmlische J&auml;ger </em>&ndash; als neunter Teil eines &raquo;work in progress&laquo;, das 1983 mit dem <em>Untergang von Kasch</em> begann. Es folgten <em>Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia, Ka, K., Das Rosa Tiepolos, Der Traum Baudelaires,</em> <em>Die Glut </em>und <em>Das unnennbare Heute</em>. Calasso starb im Juli 2021 in Mailand.</p>

 
 
 
 
Saul erschien, während er auf die Suche nach einigen Eselinnen ging, die sich verirrt hatten. In Begleitung eines Knechts legte er einen langen Weg zurück. Aber die Eselinnen waren nicht zu finden. Als sie nach Zuf kamen, sagte Saul zu seinem Knecht: »Mein Vater wird jetzt nicht mehr an die Eselinnen denken, sondern sich fragen, was aus uns geworden ist.« Wegen jener Eselinnen waren sie schon drei Tage unterwegs. Sie hatten das Efraim-Gebirge hinter sich gelassen, hatten das Gebiet von Sahalischa und dann das Gebiet von Schalim durchstreift. Von den Eselinnen keine Spur. Allmählich kannten sie sich nicht mehr aus, wussten nicht, auf welchem Weg sie zurückkehren sollten. Da sagte der Knecht, er habe von einem Seher gehört, der in Zuf wohnte. Vielleicht würde ihnen der helfen können. Saul war es recht, aber in ihren Mantelsäcken hatten sie kein einziges Stück Brot mehr. Was hätten sie dem Seher mitbringen können? Der Knecht sagte: »Mir ist noch ein Silber-Schekel geblieben. Den könnten wir dem Seher geben und ihn nach dem Weg fragen.« Der Text der Bibel fügt erklärend hinzu: »Einst, wenn in Israel ein Mann Elohim um Rat fragen ging, drückte er sich so aus: ›Los, gehen wir zum Seher.‹ Wer heute ›Prophet‹ heißt, wurde damals ›Seher‹ genannt.«

Einige Mädchen waren aus dem Stadttor von Zuf gekommen, um aus dem Brunnen Wasser zu schöpfen. So geschehen die schicksalhaften Begegnungen, an einem Brunnen. So war es mit Rebekka, mit Rahel, so mit Demeter in Eleusis. Auch diesmal war eine Schar Mädchen dabei. Sie sahen die zwei Fremden, die zum Stadttor hinaufgingen. »Ist der Seher hier in der Nähe?«, fragten die zwei Unbekannten. Die Mädchen erwiderten zuvorkommend: Sie würden ihm gleich begegnen, müssten sich aber beeilen, denn er sei dabei, die Stadt zu verlassen. Ihr müsst ihn treffen – sagten sie – »bevor er zum Mahl auf die Höhe steigt, solange er noch nicht da ist, wird das Volk nicht essen. Denn er ist es, der das Opfer segnet, danach essen die geladenen Gäste«. Kurz darauf sah Saul aus dem Stadttor von Zuf einen Mann kommen, und den bat er: »Zeig mir doch, wo das Haus des Sehers ist.« Samuel antwortete: »Ich bin der Seher.« Und sogleich lud er Saul ein, ihm auf die Höhe zu folgen: »Heute werdet ihr mit mir essen.« Dann fügte er hinzu: »Was die Eselinnen angeht, die vor drei Tagen verloren gegangen sind, sie sind gefunden worden.« Für einen Priester wie Samuel besteht das erste Bedürfnis darin, zu opfern und das Opferfleisch, das gegessen wird, zu verteilen. Saul bekam die beste Portion, und Samuel sagte: »Hier der Rest, der übrig ist, sie haben ihn vor dich hingestellt: Jetzt iss! Er wurde eigens für dich aufbewahrt, als ich das Volk zum Fest einlud.« Die Portion ist moîra, »Schicksal«. Das Schicksal Sauls stand schon bereit, es war für ihn aufbewahrt worden. Man hatte ihn erwartet.

Für die, die nicht wissen – und alle wissen nicht –, sind die verirrten Eselinnen das, was die Begegnung zwischen Saul und Samuel möglich machte. Wenn Sauls Vater seinem Sohn nicht befohlen hätte, sie wiederzufinden, wäre Saul in seiner Familie im kleinsten Stamm Israels geblieben. Er war ein schöner junger Mann, überragte seine Altersgenossen um Haupteslänge und hatte kein Zeichen irgendeiner besonderen Berufung gezeigt. Dank der verirrten Eselinnen befand er sich eines Tages weit weg von zu Hause und wusste den Rückweg nicht. Er war bereit, den, der ihm den Weg zeigte, mit einer Silbermünze zu bezahlen.

Und in dieser Lage ließ ihn Jahwe auf Samuel treffen. Die verirrten Eselinnen waren das Mittel, das diese Begegnung ermöglichte. Denn die Eselinnen wurden wiedergefunden. Nicht von Saul, sondern – man weiß nicht wie – von Samuel selbst, dem Seher, der Saul zum ersten König Israels machen würde. Doch liebte Jahwe auch die Allegorien. Die verirrten und wiedergefundenen Eselinnen waren auch das Volk, das sich nach einem König sehnte, aber nicht imstande gewesen wäre, ihn auszuwählen, wenn der Seher nicht einen mit dem Öl gesalbt hätte, das er in einem Fläschchen bei sich hatte.

Nach dem Opferfest kehrten sie in die Stadt zurück. Samuel ließ auf dem Dach seines Hauses ein Bett für Saul aufstellen. Dann weckte er ihn früh am Morgen und sagte zu ihm: »Steh auf, ich will dir das Geleit geben.« Miteinander gingen sie hinaus aus der Stadt. Samuel sagte zu Saul, er solle den Knecht vorausschicken. Er aber musste stehen bleiben. Er sollte das Wort Gottes hören. Samuel zog ein Fläschchen mit Öl hervor, das er Saul über den Kopf schüttete. Er sagte, Jahwe habe ihn »zum Haupt seines Volkes gesalbt«. Sie waren allein, kurz nach dem Morgenrot. Dann sagte Samuel zu Saul, er solle nun aufbrechen. Er deutete drei Geschichten an, die ihm widerfahren würden. Die erste betraf die verirrten Eselinnen. In Zelzach würden in der Nähe von Rebekkas Grab zwei Unbekannte zu ihm sagen, die Eselinnen seien wiedergefunden worden. Und so geschah es. Der Vater, sagten sie, denke nicht mehr an sie, sondern sorge sich um seinen Sohn, der nicht zurückgekehrt sei.

Auch die anderen vorausgesagten Geschichten wurden schnell wahr. Es waren die »Zeichen«, hatte Samuel gesagt. Und hinzugefügt: Von jetzt an »wirst du nach dem handeln, was sich dir bieten wird«. Das war eine mächtige Regel. Die Zeichen erschienen, und Saul begriff, was Samuel zu ihm gesagt hatte: »Du wirst in einen anderen Mann verwandelt werden.«

Wer ihn vorher gekannt hatte, wollte nicht daran glauben. Wie sollte Saul, der Sohn von Kisch, der schöne, große Saul sich jetzt wie ein nabi, ein »Prophet« aufführen? Sollte tanzen und zum Klang von Harfe und Tamburin reden? Sie sagten: »Was ist denn mit dem Sohn von Kisch passiert? Gehört jetzt auch Saul zu den Propheten?« So entstand ein leicht spöttisches Sprichwort, das immer noch verwendet wird: »Gehört auch Saul zu den Propheten?«

Als Saul aufgehört hatte, Prophezeiungen zu äußern, begegnete er seinem Onkel. Er schien wieder derselbe geworden zu sein, der er vorher war. In nichts unterschied er sich mehr von dem, der er vor seinem Aufbruch gewesen war. Der Onkel wollte nur wissen, wo Saul mit seinem Knecht abgeblieben war. »Die Eselinnen suchen«, sagte Saul. »Aber sie waren nicht zu finden«, fügte er hinzu. »Da sind wir zu Samuel gegangen.« »Und was hat Samuel zu dir gesagt?«, bohrte der Onkel weiter. »Dass die Eselinnen gefunden worden seien«, sagte Saul. »Die Rede vom Königtum verriet er ihm aber nicht«, heißt es im Text der Bibel genau.

Nur Samuel wusste, dass Saul der König von Israel war. Jetzt musste es auch das Volk erfahren. Samuel rief es in Mizpa zusammen. Er erinnerte alle daran, dass sie einen König verlangt und damit Jahwe zurückgewiesen hätten, Jahwe, »der euch vor allen Übeln und allen Ängsten rettet«. Sie hatten zu sagen gewagt: »Du musst einen König über uns einsetzen.« Dann tretet vor Jahwe hin, hatte Samuel schroff angefügt.

Alle Stämme waren anwesend. Sie warfen das Los, denn so erging Jahwes Urteil. Das Los fiel auf den Stamm Benjamin. Jetzt musste die Sippe ausgelost werden. Die Sippe Matri wurde gezogen. Jetzt musste ein Mitglied der Sippe ausgelost werden. Alle waren versammelt. Aber Saul war nicht da. Sie fragten Jahwe, ob jemand fehle. Jahwe sagte: »Er hat sich beim Gepäck versteckt.« Da trat Saul hervor. Er überragte alle, die um ihn herumstanden. Samuel sagte: »Es gibt im ganzen Volk keinen wie ihn.« Da jubelte das Volk Saul zu. Er wurde der erste König Israels.

Saul versteckte sich beim Gepäck, darin Harpo Marx ähnlich, weil ihn der Schrecken der Wahl gepackt hatte. Ein Schrecken, den sein Volk mehr als alle anderen Völker im Lauf der Geschichte zu spüren bekommen würde. Es war der Schrecken angesichts des Zufalls, des Schicksals, das ihn im nächsten Augenblick würde auswählen können. Saul aber wusste, dass die Wahl in dem Augenblick, als Samuel ihn salbte, schon getroffen war. Doch da waren sie allein gewesen. Niemand hatte sie gesehen. Niemand wusste davon. Der Zufall und das Schicksal fielen in ihm zusammen. Eine bedrückende Verbindung. Nie mehr würde er atmen, ohne an etwas zu denken, wie damals, als er auf der Suche nach den Eselinnen seines Vaters gelangweilt und zerstreut auf unbekannten Wegen dahinging. Und manchmal ein paar Worte mit seinem Knecht wechselte. Sonst nichts. Nichts Vergleichbares mehr würde in seinem Leben geschehen.

Die Wahl Sauls...

Erscheint lt. Verlag 12.12.2022
Übersetzer Marianne Schneider
Sprache deutsch
Original-Titel Il libro di tutti i libri
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte aktuelles Buch • Altes Testament • Antike • Bibel • bücher neuerscheinungen • Christentum • Gott • Heilige Schrift • Judentum • Mythen • Mythos • Naher Osten • Neuerscheinungen • neues Buch • Theologie • Tora
ISBN-10 3-518-77388-7 / 3518773887
ISBN-13 978-3-518-77388-8 / 9783518773888
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