Überreichweiten (eBook)

Perspektiven einer globalen Ideengeschichte
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
718 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77422-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Überreichweiten -  Martin Mulsow
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Ein Hamburger Arzt macht sich auf die Suche nach türkischen Kampfdrogen; drei Ostindienfahrer mixen in einer Apotheke auf Java ein »unerhörtes« Elixier; der Philosoph Leibniz sucht nach frühesten chinesischen Schriftzeichen; Spanier im peruanischen Potosí müssen sehen, wie in den Minen der Teufel angebetet wird; ein jesuitischer Missionar stößt in Isfahan auf einen östlichen Hermetismus; ein heterodoxer Abenteurer übergibt dem marokkanischen Botschafter ein geheimes Manuskript und ein Vaterunser-Sammler verzweifelt an den Vokabeln der afrikanischen Khoikhoi.

Was zeichnet diese vormodernen Pioniere der Globalisierung des 17. und 18. Jahrhunderts aus? Wie gelingt oder misslingt ihnen die Bezugnahme auf die fremden und fernen Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigen? Wie sind die Ideen, die bei ihnen anlanden, durch Raum und Zeit gereist? In seinem neuen Buch deutet Martin Mulsow die Frühe Neuzeit als eine Zeit der Überreichweiten, als eine Epoche, in der Quellen und Nachrichten aus nah und fern sich überlagerten, ohne dass man mit dieser Verdoppelung zurechtkam oder sie manchmal auch nur bemerkte. Es war ein Zeitalter der riskanten Referenz, das Mulsow mitreißend und gelehrt vor unseren Augen entstehen lässt.



<p>Martin Mulsow, geboren 1959, studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte in T&uuml;bingen, Berlin und M&uuml;nchen. Er ist Professor f&uuml;r Wissenskulturen der Neuzeit an der Universit&auml;t Erfurt und Direktor des Forschungszentrums Gotha. Zuvor war er Professor f&uuml;r Geschichte an der Rutgers University, Mitglied des Institute for Advanced Study in Princeton und Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. F&uuml;r seine Arbeit wurde er mit dem Anna-Kr&uuml;ger-Preis und dem Th&uuml;ringer Forschungspreis ausgezeichnet. Mulsow ist Mitglied der S&auml;chsischen und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.</p>

17Einleitung:
Praktiken der Bezugnahme
im Prozeß der Globalisierung


Wir verfallen immer auf das Fernliegende.

Günter Eich

Überreichweiten


Überreichweiten kommen zustande, wenn durch eine bestimmte Wetterlage ein fern gelegener Sender sehr viel weiter reicht als gewöhnlich und einen näher gelegenen Sender derselben Frequenz überlagert: Dann bilden sich auf dem Fernsehbildschirm verschobene Bilder mit gleichem Inhalt. Die Konturen verdoppeln und überlagern sich, bei Radiosendern verschieben sich die Töne. Ein Bild aus Zeiten vor dem Kabelfernsehen.1

In diesem Buch wird die Frühe Neuzeit als ein Zeitalter der Überreichweiten interpretiert. Als eine Zeit, in der Quellen aus nah und fern sozusagen dasselbe funkten, ohne daß man mit dieser Verdoppelung zurechtkam oder sie manchmal auch nur bemerkte. Es war eine Epoche, in der sowohl zeitlich als auch räumlich die Weite des Ausgriffs nicht mit dem, was wir heute als die reale Reichweite erkennen, übereinstimmte. Diese Einsicht möchte ich dazu nutzen, die frühneuzeitliche Ideengeschichte in die Form von »Globalisierung« zu überführen, die ihr angemessen ist. Eine globalisierte Ideengeschichte, eine Intellektualgeschichte in Form einer weitgespannten Verflechtungsgeschichte, wird von vielen heute als dringend nötige Ergänzung der herkömmlichen, meist europazentrierten Sicht18weise auf die Dynamik von Geist und Wissen angesehen. Es scheint ein Punkt erreicht, an dem unterschiedlichste wissensgeschichtliche Disziplinen auf diesen Punkt zulaufen. Man redet von einer »Global History of Science«, von »World Antiquarianism«, »World Philology«, »Global Art History« und auch von einer »Global Intellectual History«.2 Zunächst sind das nur Titel, die den Anspruch markieren, den Fokus über Europa hinaus zu erweitern. Über eine Methode ist damit noch nichts gesagt. Das Spektrum reicht von einer vergleichenden Perspektive3 über punktuelle Konnektivitäten bis zu »entanglements«, dichten Formen von wechselseitigen Transfers.

Die meisten dieser »Globalifizierungen« – um mit Jürgen Osterhammel zu reden4 –, also dieser Ausweitungen von Disziplinen unter dem Eindruck der gegenwärtigen Globalisierung, beziehen sich auf das 19. und 20. Jahrhundert (allenfalls noch das späte 18. Jahrhundert mitgerechnet), denn seit dieser Zeit setzt mit aufkommender Weltpolitik, mit Imperialismus, Kolonialismus, Industrialisierung und Fernhandel, zudem mit immer besserer Kommunikation und funktionierendem Verkehrswesen die akute Phase des Lebens im »Weltinnenraum« des Kapitals – und auch der Ideen – ein.5 Im vorliegenden Buch aber wird der Blick weiter zurück gelenkt. Es geht mir hier um die Vormoderne und spezifisch um die Frühe Neuzeit zwischen (europäisch gesprochen) Renaissance und Aufklärung.

Was ist spezifisch für die globalen Ausgriffe der Vormoderne? Und was ist spezifisch für die globalen, transkulturellen Verflechtungen, wenn nicht ökonomische, soziale oder militärische Beziehungen, sondern Theorietransfers und die Adaption von Ideen im Fokus des Interesses stehen? Diese beiden Fragen müssen beantwortet werden, bevor man sinnvoll von einer globalen Ideengeschichte sprechen kann. Meine Antwort: Die globalen Ausgriffe sind noch risikobehaftet, unsicher, gehen in ihrer Reichweite und in ihrer Erfassung oft fehl. Und: Diese Ausgriffe sind als mentale, intentionale Ausgriffe zu verstehen, 19als referentielle Bezugnahmen auf zeitlich, räumlich und/oder kulturell fernstehende Autoren, Aussagen, Semantiken und Theoriekomplexe.

Daher der Begriff der »Überreichweiten«. Er steht für ein ganzes Bündel von Fehlausgriffen, die zu weit, zu nah, zu unpräzise oder völlig verfehlt sind. Kolumbus glaubte, (Hinter-)Indien erreicht zu haben, als er auf Honduras anlandete. Die Renaissance glaubte, daß sie in Hermes Trismegistos die älteste philosophische Autorität vor sich habe, einen Denker aus der Zeit Abrahams, obwohl es sich in Wirklichkeit bei seinen Schriften um Pseudepigraphen aus dem 2./3. nachchristlichen Jahrhundert handelt. Als die Jesuiten 1549 in Japan anlangten, hatten sie sich von einem aus Japan nach Indien geflohenen Mörder namens Anjirō den (Zen-)Buddhismus erklären lassen, und aufgrund dieser Erklärungen schien es ihnen so, als seien die Japaner Christen, denn sie hätten in wesentlichen Punkten die gleiche Lehre. Umgekehrt hielten die Japaner die Jesuiten für Tenjikujin, Männer aus dem Mutterland des Buddhismus, also Indien. So entstand für kurze Zeit eine völlig unerwartete Nähe zwischen Japanern und Europäern, die einander mit größtem Interesse zuhörten, weil beide Seiten einer Fehlwahrnehmung aufsaßen.6

Oft wird unterschätzt, wie sehr solche Fehlwahrnehmungen die Vormoderne geprägt haben. In mühevollen Lernprozessen, in der Entwicklung kritischer Philologie, Historiographie und Empirie mußten viele von ihnen im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts beiseite geräumt werden.7 Nimmt man den Begriff der »Überreichweiten« in diesem umfassenden Sinne als Leitkonzept einer globalisierten Ideengeschichte, wird schnell deutlich, daß – methodologisch gesehen – eine Theorie der Referenz nötig ist, um die spezifische Art transkultureller Ausgriffe, longue-durée-Bezugnahmen und Fehlbewertungen adäquat beschreiben zu können. Erst dann können oft unscharf gebrauchte Begriffe wie Transfer, Transmission oder Adaption präzisiert 20werden. Denn es ist die ständige Einbeziehung einer Differenz nötig, bei der zwischen der intentionalen Bezugnahme auf ein Objekt (z. ‌B. Hermes als Weiser zur Zeit Abrahams) und der realen Beziehung (ausgehend vom Autor aus dem 2./3. Jh.) zu unterscheiden ist. Ich werde das eine »Doppelhelix« nennen, einen Doppelstrang aus gedächtnisgeschichtlichem Bezug und realem Transmissionsgeschehen, und in dieser konzeptionell orientierten Einleitung genauer entwickeln.

Diese methodische Besinnung sollte freilich nicht zu einer philosophischen Sterilität führen. Daher werde ich den Akzent auf das Referenzverhalten setzen, um die verschiedenartigen Bezugnahmen auf transkulturelle Objekte in ihrer Einbettung in Praktiken zu verstehen. Denn intellektuelle Verflechtungen sind ja eingebettet in Reisen und Eroberungen, Handel und Migration – selbst wenn es nur deren schriftliche Niederschläge sind, die einen Lehnstuhl-Wissenschaftler erreichen. Indem die vormodernen Überreichweiten praxeologisch rückgebunden werden, eröffnet sich ein ganzes Feld von neuen Möglichkeiten für die historische Forschung.

Globalisierung als Herausforderung der Kulturgeschichte


Die amerikanische Historikerin Lynn Hunt hat kürzlich in ihrem Buch Writing History in the Global Era eine bestimmte Sorge formuliert, was die Globalgeschichtsschreibung angeht.8 Ursprünglich war das Buch in einer italienischen Version erschienen, als La storia culturale nell'età globale,9 und dieser Titel weist etwas genauer auf die Kernaussage des Werkes hin: Globalgeschichte laufe Gefahr, die kulturgeschichtlichen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte zu verspielen. Kulturtheoretisch geprägte Geschichtsschreibung war in den 1970er Jahren aus den Krisen von Modernisierungstheorie, marxisti21scher Sozialgeschichte, serieller Geschichte im Sinne der Annales-Schule und identitätspolitischer Geschichte hervorgegangen – so zumindest das Szenario in den USA, das Hunt beschreibt. Die neuen Kulturtheorien unterminierten hingegen die Grundannahme, die diesen vier Richtungen zugrunde lag, nämlich daß die ökonomischen und sozialen Verhältnisse die darüberliegenden kulturellen und politischen Ausdrucksweisen bestimmten.10 In ihren verschiedenen Ausprägungen als Poststrukturalismus, Postkolonialismus, Postmodernismus, Linguistic Turn und Cultural Studies stellten die Kulturtheorien, vereinfacht gesagt, die alte Hierarchie auf den Kopf: Der kulturelle Code sei entscheidend und durchdringe sogar die »harten« Bereiche des Sozialen und Ökonomischen. Allerdings brachten die ...

Erscheint lt. Verlag 21.11.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte aktuelles Buch • Bestseller bücher • buch bestseller • bücher neuerscheinungen • Frühe Neuzeit • Globalisierung • Neuerscheinungen • neues Buch • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • Wissenskulturen
ISBN-10 3-518-77422-0 / 3518774220
ISBN-13 978-3-518-77422-9 / 9783518774229
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