Föhrenwald, das vergessene Schtetl (eBook)

Ein verdrängtes Kapitel deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
240 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60344-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Föhrenwald, das vergessene Schtetl -  Alois Berger
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Von 1945 bis 1957 lebten imbayerischen Wolfratshausen im Ortsteil Föhrenwald zeitweise mehr als 5000 Juden - mit Synagogen, einer jiddischen Zeitung und einer jüdischen Polizei. 1957 wurde Föhrenwald aufgelöst, die Bewohner auf deutsche Großstädte verteilt. Föhrenwald wurde umbenannt und aus dem Gedächtnis gelöscht. Der Ort steht exemplarisch für einen weitgehend unbekannten Teil der deutschen Geschichte. Der Autor ist dort aufgewachsen, er hat das Schweigen erlebt. Er verwebt die Spurensuche in seiner Heimat mit den Geschichten der Überlebenden, die aus dem Land der Täter nicht wegkonnten.

Alois Berger, Jahrgang 1957, studierte Philosophie und Politik. Er war viele Jahre  EU-Korrespondent der taz in Brüssel sowie Radio- und Fernsehreporter für DLF, WDR und Dokumentarfilmer für ARTE. Er lebt als freier Journalist in Berlin.

Alois Berger, Jahrgang 1957, studierte Philosophie und Politik. Er war viele Jahre EU-Korrespondent der taz in Brüssel sowie Radio- und Fernsehreporter für DLF, WDR und Dokumentarfilmer für ARTE. Er lebt als freier Journalist in Berlin.

Einleitung: Wir waren mittendrin und ahnungslos


Über das lange Vergessen und das späte Erinnern

»Die jüdische Welt kennt Föhrenwald als Ort der jüdischen Regeneration. Wir haben die besten Erinnerungen. Da muss man sich nicht schämen in Wolfratshausen.«

Abraham Ben, aufgewachsen in Föhrenwald

 

Der Einfachheit halber haben wir Priesterseminar gesagt zu unserer Schule. Aber es war kein Priesterseminar, wir hatten ja auch Mädchen in der Klasse und sogar einen evangelischen Mitschüler. Doch für sie war die Schule nicht gemacht. Sie war gemacht für junge katholische Männer wie mich, die schon einen Beruf hatten und das Abitur nachmachen wollten, um danach in ein richtiges Priesterseminar einzutreten und Theologie zu studieren. Aber mit den paar Priesteramtskandidaten, die es noch gab, konnte man schon damals keine ganze Schule mehr machen. Deshalb wurden auch andere Schüler aufgenommen. Zur Einschreibung mussten wir ein Glaubensattest des Heimatpfarrers mitbringen, dass wir es ernst meinten mit Gott. Jeden Morgen beteten wir das Vaterunser, im ersten Jahr auf Lateinisch, danach in Alt-Griechisch.

Ob ich damals wirklich Priester werden wollte, weiß ich nicht mehr. Selbst so etwas vergisst man. Ich sage das deshalb, weil es in diesem Buch ums Vergessen geht, ums Vergessen und Verdrängen und um den schmalen Grat dazwischen. Aber es wäre nicht ungewöhnlich gewesen, wenn ich mich damals noch als künftigen Priester gesehen hätte. Dreißig Jahre nach dem Krieg spielte die Religion in einem Ort wie Wolfratshausen noch eine wichtige Rolle, der Katholizismus hatte sich tief eingebrannt. Meine Eltern jedenfalls waren sehr religiös, ich bin streng katholisch aufgewachsen, alle Männer in meiner Familie waren irgendwann Messdiener. Auch alle meine Freunde waren Ministranten, wie man in Bayern sagt. Mit Ausnahme natürlich aller Frauen und Mädchen. Der Altarraum war Männern vorbehalten, ausschließlich. Frauen durften dort putzen, vor der Zeremonie Kerzen anzünden und nach der Zeremonie die Kerzen wieder löschen. Aber während der Messe war die Anwesenheit von Frauen im Altarraum unvorstellbar.

Der Rhythmus meiner ersten Jahre war bestimmt von Morgenmessen und katholischen Feiertagen, von täglichen Gebeten morgens, mittags, abends und zweimal wöchentlich Gesangsübungen im Kirchenchor. Ich erinnere mich an regelmäßige Bittgänge über taunasse Felder im frühen Morgennebel, meist vorneweg als Kreuzträger im violett-weißen Talar. Hinter mir zwei weitere Ministranten sowie der Pfarrer und dahinter vierzig oder fünfzig ältere Frauen und ein paar Männer, die immer und immer wieder den Rosenkranz beteten und das »Vaterunser« vor sich hin brummten. Und an die prächtigen Prozessionen in rotem Rock und weißem Chorhemd durch die Marktstraße, an gelegentliche Feldmessen in den Bergen und an genau festgelegte Fasttage: Kein Fleisch am Freitag, keine Süßigkeiten in den 40 Tagen vor Ostern, am Karfreitag wie am Aschermittwoch nur Erbsensuppe, und am 2. November hat mein Vater in der Bäckerei salzlose Allerseelen-Zöpfe geflochten. Jeden Samstagnachmittag gingen wir zur Beichte in die Kirche, knieten in der düsteren Holzkabine des Beichtstuhls und erzählten dem Kaplan durch ein Holzgitter hindurch, dass wir die Eltern nicht ausreichend geehrt hätten, dass wir beim Nachbarn Johannisbeeren gestohlen hätten und dass wir in Gedanken, in Worten und in Taten unkeusch gewesen seien. Das meiste war erfunden, wir hatten in der Woche einfach nicht genug angestellt, und was unkeusch war, das wussten wir, so katholisch wie wir erzogen waren, sowieso nicht. Wir haben uns einfach an die Sünden-Vorschläge des Beichtspiegels aus dem Religionsunterricht gehalten. Irgendwas muss man doch beichten, wenn man schon mal da ist. Vor Gott sind wir schließlich alle Sünder. Die innerlich gebeugte Haltung war Kern unserer religiösen Erziehung, sie hat mich bis weit in mein Erwachsenenleben geprägt.

Als Kinder haben wir alte Vorhänge zu Messgewändern zurechtgeschneidert und im Garten des Nachbarn Prozessionen und Feldmessen nachgespielt, weil das eben die Welt war, in der wir lebten, und vielleicht auch, weil wir den Eltern gefallen wollten. Mein Bruder war immer der Priester. Er ist später im richtigen Leben tatsächlich Pater geworden, also Priester und Mönch.

Am 5. Januar jeden Jahres, dem Tag vor Heiligdreikönig, schleppten wir Dutzende von leeren Wasserflaschen in die Kirche, um sie mit frisch geweihtem Wasser zu füllen. Das Weihwasser wurde dann das ganze Jahr über in die kleinen Schälchen gefüllt, die auf Schulterhöhe neben jeder Tür hingen. Wer durch eine Tür ging, der tippte mit dem Finger ins Weihwasser und zeichnete sich damit ein Kreuz auf die Stirn. Wenn ein Gewitter aufzog, stellte meine Mutter geweihte Gewitterkerzen aus schwarzem Wachs aufs Fensterbrett, zündete den Docht an und betete mit uns Kindern, dass Gott nicht versehentlich einen Blitz in unser Haus schicke. Gott spielte in unserer Familie die Hauptrolle, seit Generationen, zwei Tanten waren im Kloster, zwei meiner Geschwister gingen ins Kloster. Gott war auch der einzig denkbare Grund für ein Studium. Ansonsten war Gott nicht so für Bildung. Meine Mutter fürchtete, dass Bildung arrogant machen und uns von Gott entfernen könnte. Mein Vater stimmte ihr zu, schon weil er für die Bäckerei einen Nachfolger brauchte, der sich nicht zu schade war, früh aufzustehen und mit beiden Händen anzupacken. Schon die Mittelschule wäre zu viel Ablenkung und eine unnütze Zeitverschwendung gewesen. Ich habe damals nur die Volksschule absolviert. Die einzige Schulnote, die wirklich zählte, war die aus dem Religionsunterricht.

Alle meine Freunde von damals sind ähnlich aufgewachsen. Manche nicht so katholisch wie bei uns, aber ganz ohne katholischen Gott war keiner. Der Kirchenkalender gab den Rhythmus vor: Advent, Weihnachten, Lichtmess, vierzig Tage vor Ostern karge Mahlzeiten, und ab St. Georg durfte man nicht mehr über die Wiesen und Weiden gehen, weil sonst das Gras nicht mehr ordentlich wächst. Der ganze Ort lebte katholisch, der Pfarrer war wichtiger als der Bürgermeister, was in dieser Geschichte später noch einiges erklären wird. Dabei war Gott zu dieser Zeit auch in Wolfratshausen längst auf dem absteigenden Ast. Noch nicht im freien Fall, wie ein paar Jahre danach, aber es ging eindeutig nach unten. Bei den vier Messen am Sonntag war die barocke Pfarrkirche noch voll, aber während der Woche waren die Bänke von Jahr zu Jahr spärlicher besetzt. Auch unsere kleine Welt wurde immer weltlicher.

Juden kamen in diesem Leben nur am Rande vor, genauer: um Ostern herum. Da erinnerten die Pfarrer daran, dass es Juden waren, die vor knapp 2000 Jahren unseren Herrn Jesus ans Kreuz schlagen ließen. Und dann gab es noch Moritz, den Herrenausstatter, den jeder kannte und der immer vor seinem kleinen Laden darauf wartete, jeden in ein lustiges Gespräch zu verwickeln, auch uns Kinder. Ob er Moritz mit Vor- oder mit Nachnamen hieß, weiß ich nicht, alle sagten nur Moritz zu ihm. Er hatte einen eigenartigen Akzent und trug zu allen Jahreszeiten eine graue Pelzmütze. Manchmal raunten die Leute, dass Moritz Jude sei, aber, fügten sie entschuldigend hinzu, er sei ein gutmütiger Kerl. Der lustige Moritz war beliebt, niemand unterstellte ihm, dass er mit der Sache mit Jesus etwas zu tun gehabt hätte.

Als ich mit 19 Jahren meinen Beruf als Elektroniker bei Siemens aufgab, um das Abitur nachzumachen, nickten meine Eltern. Sie waren nicht glücklich darüber, aber sie nahmen es hin. Ein Jahr vorher hatte die Regierung beschlossen, dass Jugendliche nicht mehr erst mit einundzwanzig, sondern schon mit achtzehn volljährig wurden. Ich durfte also von Rechts wegen über mich selbst bestimmen. Dass ich mich am Spätberufenen-Kolleg einschrieb, machte meine Eltern endgültig wehrlos. Sie ahnten zwar, dass ich nie Priester werden würde, aber sie konnten es nicht mit Sicherheit sagen. Mein älterer Bruder war bereits seit einem Jahr im Spätberufenen-Kolleg, er hatte die Backstube verlassen, was für meinen Vater die Katastrophe war. Bei meinem Bruder waren die Eltern sicher, dass er Priester werden würde. Gegen die göttliche Berufung konnte mein Vater nichts ausrichten, er konnte sich nicht einmal seine Wut und seine Verzweiflung über den Verlust eines Bäckernachfolgers eingestehen.

Im fünften und letzten Jahr vor dem Abitur bekamen wir im Seminar eine junge Aushilfslehrerin in Geschichte. Eva Greif war in...

Erscheint lt. Verlag 30.3.2023
Zusatzinfo Mit Bildteil
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Schlagworte Drittes Reich • erzählte Geschichte • Föhrenwald • Holocaust • Juden • Judenverfolgung • Konzentrationslager • KZ • München • Nationalsozialismus • Nazis • NS Geschichte • Vernichtungslager • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-492-60344-0 / 3492603440
ISBN-13 978-3-492-60344-7 / 9783492603447
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