Langeweile
Langeweile wird in dieser Anthologie als Signatur der Moderne lesbar: Sie durchdringt die gegenwärtige Kultur, wird aber nach wie vor weggeschoben, ja tabuisiert. Der Band bietet eine Textauswahl von klassischen Denkern sowie von Autorinnen und Autoren des modernen Diskurses bis heute und stellt den Zusammenhang mit verwandten Phänomenen der Sinnleere und Erschöpfung her. Als zunehmendes Massenphänomen in saturierten Gesellschaften entwickelt die Langeweile eine pathologische Dynamik, wenn ihr nicht ein eigener Raum gelassen wird. Ein Plädoyer für die Anerkennung dieses unvermeidlichen Gefühls.
Mit Texten von Blaise Pascal, Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Søren Kierkegaard, Charles Baudelaire, Friedrich Nietzsche, Georg Simmel, Walter Benjamin, Bertrand Russell, Iwan Gontscharow, Siegfried Kracauer, Emil Cioran, Giacomo Leopardi, Wolf Lepenies, Elizabeth S. Goodstein, Peter Toohey, Martin Doehlemann, Françoise Wemelsfelder und anderen.
Renate Breuninger ist Geschäftsführerin des Humboldt-Studienzentrums für Philosophie und Geisteswissenschaften der Universität Ulm sowie apl. Professorin für Philosophie an der Universität Stuttgart. Gregor Schiemann, gelernter Werkzeugmacher, Diplom-Physiker und Philosoph, ist Professor für Philosophie an der Universität Wuppertal.
Inhalt
Einleitung 9
I. Unerträgliche Langeweile
Blaise Pascal
Völlige Untätigkeit 31
Immanuel Kant
Anekelung der eigenen Existenz aus Leerheit des Gemüts 41
Arthur Schopenhauer
Das Leben zwischen Schmerz und Langeweile 53
Ludwig Tieck
Trübe Lebens-Saumseligkeit 59
Sören Kierkegaard
Alle Menschen sind langweilig 61
Philipp Mainländer
Das schrecklichste Übel von allen 73
II. Unerlässliche Langweile
Johann Wolfgang von Goethe
Mutter der Musen 81
Charles Baudelaire
Wo dumpfe Trübsal Langeweile spinnt 89
Friedrich Nietzsche
Tauwind für den eingefrorenen Willen 93
Georg Simmel
Wider das blasierte Großstadtleben 103
Walter Benjamin
Die Schwelle zu großen Taten 109
Bertrand Russell
Ein unerlässliches Verlangen 115
III. Die Leere der Zeit
Giacomo Leopardi
Die Leere in den Zwischenräumen 123
Iwan A. Gontscharow
Entgleitendes Leben 127
Siegfried Kracauer
Das Einzige, was sich ziemt 133
Emil M. Cioran
Sonntage des Lebens 137
Bernard Williams
Wie lange leben ohne Langeweile? 147
IV. Entzauberte Langeweile
Wolf Lepenies
Räume der Langeweile und Melancholie 157
Elizabeth S. Goodstein
Signum der Moderne 175
Martin Doehlemann
Das Elend der modernen Konsum- und Entertainmentgesellschaft 183
V. Lebensfunktionen der Langeweile
Peter Toohey
Die Evolution der Langeweile 195
John D. Eastwood, Alexandra Frischen, Mark J. Fenske, Daniel Smilek
Von der richtigen Lenkung der Aufmerksamkeit 201
Françoise Wemelsfelder
Gelangweilte Tiere 213
Autoren- und Quellenverzeichnis 219
Literaturhinweise 225
Einleitung
Ob sich die Menschen immer schon gelangweilt haben oder nicht, ist ungewiss. Gewiss aber ist, dass Langeweile in der abendländischen Kultur erst zu Beginn der Neuzeit zu einem Gegenstand des Nachdenkens geworden ist. Bedeutende Philosophen haben sie als Ausdruck einer wesentlichen Bestimmung des Menschen und seiner Welt verstanden: Der erste herausragende Beitrag stammt im 17. Jahrhundert von Blaise Pascal, der alle rastlose Tätigkeit des Menschen als Flucht vor der Langeweile erklärt; im 19. Jahrhundert behauptet Arthur Schopenhauer, dass das menschliche Leben zwischen Leid und Langeweile hin und her pendele; im 20. Jahrhundert schließlich erhebt Martin Heidegger die Langeweile zur Grundstimmung des Menschen, in der sich die Verfasstheit des Daseins erschließe.
Der Langeweile ein solches Gewicht beizumessen, mag befremdlich erscheinen, bedenkt man den gemeinhin banalen Charakter dieses Gefühls. Als typisch langweilig gelten öde Orte, Tageszeiten (wie die Sonntagnachmittage), monotone Tätigkeiten oder seichte Unterhaltungen. Das unangenehme Gefühl wächst, wenn sich die lästige Situation nicht umgehen oder beseitigen lässt. Langeweile ist oft bloß Ausdruck eines Unmutes, der sich so wenig allgemein beschreiben lässt, wie er von persönlichen Vorgaben und inneren Einstellungen abhängt.
Wäre Langeweile nur die Kundgebung eines konkreten Missfallens, hätte sie kaum das Interesse der Philosophie gefunden. Bereits Pascal stellt aber fest, dass Langeweile - in Französisch spricht er von "ennui" - auch aufzutreten vermag, wenn kein Gegenstand oder keine Situation für öde gehalten wird. Sie signalisiert nicht nur die Abneigung gegen etwas Vorhandenes, sondern tritt auch angesichts der Abwesenheit von Objekten sowie der eigenen inneren Leere auf (siehe in diesem Band). Nach Pascal bringt das Individuum in Situationen, in denen nichts Äußeres geschieht, aus sich selbst nur wenig hervor, so dass es ein Gefühl der Ruhe, aber auch der Leere überkommt. Und häufig ist die Langeweile mit einem unbestimmten Gefühl der Angst verbunden. Als Ausdruck eines horror vacui kann sie so universell verbreitet sein, dass sie zum Kennzeichen einer ganzen Kultur, wenn nicht sogar zum Kandidaten für eine Wesensbestimmung des Menschen aufsteigt. Sie zeigt den einzelnen Menschen in einer Verfassung, in der er nicht in der Lage ist, die wohltuende Wirkung der Ruhe für sich zu nutzen. Ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen, steckt die Langeweile hinter einer ubiquitären Suche nach Beschäftigung und Zeitvertreib. Dabei steht nicht der Inhalt der Tätigkeiten, sondern ihr bloßer Vollzug im Vordergrund. Während im folgenden Langeweile als konkrete Unmutsäußerung "einfache" Langeweile heißt, wird Langeweile, in der sich die innere Leere zeigt, als "existenzielle" Langeweile bezeichnet.
Das philosophische Interesse an der existenziellen Langeweile gilt unter anderem ihrer anthropologischen Dimension, an die sich verschiedene Fragen knüpfen. Handelt es sich um ein spezifisches menschliches Merkmal (z.B. Johann Wolfgang von Goethe in diesem Band) oder tritt existenzielle Langeweile im Ansatz schon bei Tieren auf (z.B. Françoise Wemelsfelder in diesem Band)? Muss für den Menschen von einer kaum wandelbaren Bestimmung ausgegangen werden, so dass es wenig Erfolg verspricht, der existenziellen Langeweile entgehen zu wollen, es vielmehr darauf ankommt, sich mit ihr ins Verhältnis zu setzen? Oder ist Langeweile ein Phänomen der Moderne, dessen Auftreten aktuell zunimmt? Hängt sie von den Lebensumständen ab, mit denen sie sich verändert und auch wieder zum Verschwinden gebracht werden kann? Welches sind die Beziehungen zwischen existenzieller und einfacher Langeweile? Steckt in der einfachen immer schon etwas von existenzieller Langeweile?
Mit der existenziellen Langeweile verbinden sich erkenntnistheoretische Interessen. Wo sie vorkommt, erlaubt sie eine einzigartig paradoxe Erfahrung - eine Erfahrung ohne Inhalt. Da die äußeren Ob
Erscheinungsdatum | 03.10.2022 |
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Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 142 x 214 mm |
Gewicht | 287 g |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Allgemeines / Lexika |
Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Ethik | |
Schlagworte | Aufmerksamkeit • Depression • Emotion • Leere • Melancholie • Moderne • Muße • Müßiggang • Philosophie • Stimmung • Untätigkeit |
ISBN-10 | 3-593-51736-1 / 3593517361 |
ISBN-13 | 978-3-593-51736-0 / 9783593517360 |
Zustand | Neuware |
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