Revolusi (eBook)

Indonesien und die Entstehung der modernen Welt | Der lang erwartete Nachfolger des Weltbestsellers »Kongo«
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
751 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77402-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Revolusi -  David Van Reybrouck
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Die Welt hat in diese Revolution eingegriffen, und diese Revolution hat die Welt verändert.

Als Japan 1941 den Angriff auf Pearl Harbor startete, begann sich das historische Fenster für ein anderes Ereignis zu öffnen: Seit Jahrzehnten hatten Indonesier für die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Niederlande gekämpft, im August 1945 wurde sie endlich proklamiert. Doch es folgte ein mehrjähriger, brutaler Krieg. Diese Revolusi war in zweierlei Hinsicht Weltgeschichte: Sie ergab sich aus einem globalen Konflikt und hatte globale Signalwirkung. Denn Indonesien setzte sich an die Spitze der Dekolonisation, die bald auch Afrika erfasste und die politische Landkarte für immer veränderte. In Debatten um Kolonialverbrechen und die Rückgabe geraubter Kunstwerke beschäftigt sie uns bis heute. David Van Reybrouck hat jahrelang recherchiert und mit fast 200 Zeitzeugen gesprochen. Ihre Erinnerungen verknüpft er zu einer historischen Erzählung, deren Sog man sich kaum entziehen kann.



<p>David Van Reybrouck, geboren 1971 in Brügge, ist Schriftsteller, Dramatiker, Journalist, Archäologe und Historiker. 2011 gründete er die Initiative G1000, die sich in Belgien, den Niederlanden und in Spanien für demokratische Innovationen einsetzt. <em>Kongo. Eine Geschichte</em> wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis 2012, stand auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und verschaffte Van Reybrouck internationale Anerkennung. Sein Buch <em>Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist</em> (Wallstein Verlag, 2016) erhielt europaweit große Aufmerksamkeit. Für <em>Revolusi. Indonesien und die Entstehung der modernen Welt</em> wurde Van Reybrouck mit dem Geschwister-Scholl-Preis 2023 ausgezeichnet.</p>

1.»Etwa nicht?«


Warum Indonesien Weltgeschichte geschrieben hat

Eine solche Explosion hatte ich noch nie gehört. Ich arbeitete gerade in meinem Hotelzimmer in der Jalan Wahid Hasyim. Es war ein Knall wie ein gewaltiger Donnerschlag in nächster Nähe, doch der Himmel war stahlblau, genau wie am Vortag und am Tag davor. War vielleicht ein Lastwagen explodiert? Ein Gastank? Von meinem Fenster aus war nirgends Rauch zu sehen, aber von dem bescheidenen Hotel konnte man ohnehin nur einen kleinen Teil der Stadt überblicken. Mit seinen zehn Millionen Einwohnern ist Jakarta eine Megalopolis mit einer Fläche von fast siebenhundert Quadratkilometern; zählt man die Satellitenstädte mit, kommt man sogar auf dreißig Millionen Menschen. Fünf Minuten später rief Jeanne an, in blanker Panik. So kannte ich sie nicht. Ich hatte sie vor einem halben Jahr bei einem Sprachkurs in Yogyakarta kennengelernt: eine junge freie Journalistin aus Frankreich und so entspannt wie kaum jemand sonst. Sie hatte sich Jakarta als Standort ausgesucht, und an diesem Vormittag war sie auf dem Weg zu meinem Hotel. Wie schon mehrmals wollten wir den ganzen Tag Altenheime in abgelegenen Stadtbezirken besuchen, wo ich Zeitzeugen zu finden hoffte, und sie sollte wieder für mich dolmetschen. Doch nun weinte sie. »Jemand hat einen Anschlag verübt! Ich bin vor den Schüssen weggerannt und verstecke mich jetzt in der Mall bei dir um die Ecke!«

Auf die Straße. Hunderte und Aberhunderte von Menschen, wo sich normalerweise endlose Blechlawinen hupend vorbeischieben. Hunderte von Armen, die Smartphones hochhielten, um die Ereignisse zu filmen. Vierhundert Meter vom Hotel entfernt, an der Kreuzung meiner Straße mit der Jalan Thamrin, der Verkehrsader im Zentrum Jakartas, lag eine Leiche. Ein Mann, auf dem Rücken, vermutlich gerade erst ums Leben gekommen. Seine Füße zeigten unnatürlich gerade aufwärts. Polizeibeamte und Soldaten trieben die Menschenmasse zurück, die Lage war noch nicht unter Kontrolle. Auf dem linken Gehweg sah ich Jeanne kommen. Fassungslos beobachteten wir, was geschah, umarmten uns und gingen schnell in mein Hotel. Heute würden wir uns nicht mit den dreißiger und vierziger Jahren beschäftigen.

Die Anschläge vom 14. Januar 2016 waren die ersten in Jakarta nach sieben Jahren. Mitglieder einer extremistischen Muslimorganisation waren auf Mopeds und Motorrollern zu einem Einkaufszentrum gefahren und hatten den dortigen Polizeiposten mit Schusswaffen und Handgranaten angegriffen. Vor einem Starbucks-Café und einer Burger-King-Filiale war eine Bombe gezündet worden – das war die Explosion, die ich gehört hatte –, anschließend hatten sich zwei der Terroristen auf dem Parkplatz der Mall in die Luft gesprengt; die Bilder davon sind immer noch online. In der Nähe liegen einige Botschaften, Luxushotels und eine wichtige UN-Niederlassung, doch sie scheinen keine unmittelbaren Ziele gewesen zu sein. Es gab acht Tote, darunter vier der Angreifer, und vierundzwanzig Verletzte.

Kaum von dem Schreck erholt, stürzte sich Jeanne in die Arbeit, schrieb Berichte für etliche französische Zeitungen und Websites, verfolgte die Nachrichten über den Fernseher in meinem Zimmer und leitete die neuesten Meldungen nach Paris weiter. Wir durchforsteten das Internet in sämtlichen uns bekannten Sprachen. Ich veröffentlichte ein paar Berichte in den sozialen Medien, und bald fragten die ersten Zeitungen und Rundfunksender telefonisch wegen Informationen und Interviews an. Für den Rest des Tages wurde das Hotelzimmer zu einem Nervenzentrum, das französische, belgische, schweizerische und in geringerem Maße auch niederländische Medien mit Informationen versorgte (noch heute haben niederländische Sender und Zeitungen einige Korrespondenten in Jakarta). Ich erinnere mich, das Jeanne sich irgendwann für ein Radiointerview mit France Inter im Hotelflur auf den Teppichboden setzte, während ich über Skype ein Livegespräch mit einem flämischen Fernsehsender führte. Stundenlang waren wir ununterbrochen beschäftigt, bis wir am späten Nachmittag bohrende Kopfschmerzen bekamen und endlich etwas essen gingen.

Am nächsten Tag war alles vorbei.

Sobald feststand, dass es sich nicht um einen weiteren Anschlag wie 2002 auf Bali handelte (mehr als zweihundert Tote vor allem aus westlichen Ländern), ganz zu schweigen von einer Erdbeben- und Tsunamikatastrophe, wie sie 2004 das westliche Indonesien und Thailand heimgesucht hatte (allein in Indonesien über 131000 Tote, und das war nur die offiziell bestätigte Zahl), erlahmte das internationale Interesse. Indonesien wurde wieder zu dem stillen Riesen, von dem man außerhalb Südostasiens selten bis niemals hört. Eigentlich ist das höchst seltsam: Von der Einwohnerzahl her ist Indonesien das viertgrößte Land der Erde, nach China, Indien und den Vereinigten Staaten, die sich kontinuierlicher Aufmerksamkeit erfreuen. Es ist das Land mit der zahlenmäßig größten muslimischen Bevölkerung der Welt. Seine Wirtschaft ist die wichtigste Südostasiens und versorgt große Teile der Welt mit Palmöl, Kautschuk und Zinn. Doch das internationale Interesse bleibt gering, schon seit vielen Jahren. Wer in Paris, Beijing oder New York in einer guten Buchhandlung das Regal mit Büchern über Asien durchstöbert, findet eher etwas über Myanmar, Afghanistan oder Südkorea, ja, sogar Armenien (Länder mit nur wenigen oder um die fünfzig Millionen Einwohnern) als über Indonesien mit seinen 286 Millionen. Einer von siebenundzwanzig Menschen auf dem Planeten ist Staatsbürger Indonesiens, aber im Rest der Welt hat man große Mühe, auch nur einen einzigen Einwohner des Landes zu nennen. Oder um es mit dem klassischen Witz von westlichen Expats in Indonesien zu sagen: »Hast du eine Ahnung, wo Indonesien liegt?« »Öhm … nicht genau. Irgendwo in der Gegend von Bali?«

Schlagen wir einfach mal einen Schulatlas auf. So marginal wie die Rolle, die Indonesien in unserem Bewusstsein spielt, ist auch seine Lage auf der Weltkarte: Diese Kleckse rechts außen, wie ausgespuckt vom Festland zwischen Pazifik und Indischem Ozean, das also ist es. Weit entfernt vom kompakten Westeuropa und dem massiven Nordamerika, die oben liegen, was natürlich eine historische Konvention ist, denn die Erdoberfläche hat keine Mitte und der Kosmos kein Oben und Unten. Verändert man aber die Perspektive und verschiebt Indonesien in die Mitte, erkennt man, dass es sich nicht um irgendein peripheres Gebiet handelt, sondern um einen Archipel in strategisch bedeutsamer Lage, in einer ausgedehnten maritimen Region zwischen Indien und China. Für Seefahrer früherer Zeiten waren die Inseln eine wunderbare Reihe von Trittsteinen zwischen West und Ost, eine Doppelreihe von Inseln sogar, deren Größe nach Osten hin tendenziell abnimmt. Das riesige Sumatra scheint sich an die Malaiische Halbinsel schmiegen zu wollen, es folgen Java, Bali, Lombok, Sumbawa, Flores und so weiter. Nördlich davon liegen Borneo, Sulawesi und die Molukken, massiv die erste dieser Inseln, bizarr die zweite, zersplittert die zuletzt genannte Gruppe. Die beiden Perlenketten treffen bei Neuguinea zusammen.

Karte 1: Das heutige Indonesien (2020)

Indonesien ist der größte Inselstaat der Welt. Offiziell zählt es 13466 Inseln, es können aber auch 16056 sein. Oder 18203. Niemand weiß es genau. Vulkanismus, Erdbeben und Gezeiten verändern unaufhörlich die Küstenlinien, und bei Flut steigt die Anzahl der Inseln. Einmal habe ich das mit eigenen Augen beobachtet: Der Mittelteil einer kleinen tropischen Insel verschwand für sechs Stunden unter Wasser. Waren das nun zwei Inseln oder eine? Nach der Definition der Vereinten Nationen zwei, aber die Bewohner hatten nur einen Namen dafür. Von diesen unzähligen Inseln sind ein paar tausend bewohnt. Wenn auch die meisten sehr klein sind, liegen fünf der dreizehn größten Inseln der Erde ganz oder teilweise auf dem Territorium Indonesiens: Neuguinea, Borneo, Sumatra, Sulawesi und Java. Die erste teilt es sich mit Papua-Neuguinea, die zweite mit Malaysia und dem Sultanat Brunei. Die letzte ist die bevölkerungsreichste Insel der Welt: Java ist ungefähr tausend Kilometer lang und hundert bis zweihundert Kilometer breit, seine Fläche macht nur sieben Prozent des gesamten indonesischen Staatsgebietes aus, aber mit 141 Millionen...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2022
Übersetzer Andreas Ecke
Sprache deutsch
Original-Titel Revolusi. Indonesië en het ontstaan van de moderne wereld
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
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ISBN-10 3-518-77402-6 / 3518774026
ISBN-13 978-3-518-77402-1 / 9783518774021
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