Vernachlässigung (eBook)
296 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11877-3 (ISBN)
Kai von Klitzing, Prof. Dr. med., ist Direktor der Universitätsklinik und -poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters in Leipzig, Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse/IPV; Gewählter Präsident der World Association for Infant Mental Health (WAIMH). Forschungsschwerpunkte: Entwicklungspsychopathologie, frühe Kindheit, Familienbeziehungen, Kinder-Narrative, Psychoanalyse und Neurobiologie. Letzte Buchpublikation als Herausgeber: Psychoanalysis in Childhood and Adolescence (mit Phyllis Tyson und Dieter Bürgin). Mitherausgeber der Zeitschrift Kinderanalyse (www.kinderanalyse.de)
Kai von Klitzing, Prof. Dr. med., ist Direktor der Universitätsklinik und -poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters in Leipzig, Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse/IPV; Gewählter Präsident der World Association for Infant Mental Health (WAIMH). Forschungsschwerpunkte: Entwicklungspsychopathologie, frühe Kindheit, Familienbeziehungen, Kinder-Narrative, Psychoanalyse und Neurobiologie. Letzte Buchpublikation als Herausgeber: Psychoanalysis in Childhood and Adolescence (mit Phyllis Tyson und Dieter Bürgin). Mitherausgeber der Zeitschrift Kinderanalyse (www.kinderanalyse.de)
Vorwort
Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Vorwortes und am Ende des zweiten Corona-Winters 2021/22 wurde die Welt vom völkerrechtswidrigen Überfall der Ukraine durch russische Streitkräfte erschüttert. Wenn man sich die humanitären Folgen eines solchen unbegreiflichen Krieges vor Augen führt, kommen Zweifel auf, ob die in diesem Buch behandelten Probleme von Kindern in unserer seit Jahrzehnten im Frieden lebenden Gesellschaft angesichts des Leides vom Krieg betroffener Bevölkerungen überhaupt der Rede wert sind. Kriegerische Auseinandersetzungen führen vor allem bei Kindern zu erheblicher körperlicher, psychologischer und sozialer Not. Kriege hinterlassen traumatisierte Menschen. Kinder können das Geschehen noch schlechter verarbeiten als Erwachsene. Sie können sich nicht schützen oder wehren. Sie sind in besonderem Maße auf die Hilfe Erwachsener angewiesen, die im Krieg häufig aber selber hilflos sind. In der großen Not, die der Krieg mit sich bringt, und angesichts der von der kriegerischen Bedrohung ausgehenden Ängste sind Kinder noch mehr als in Friedenszeiten auf schützende und fürsorgliche Elternfiguren angewiesen. Anna Freud und Dorothy Burlingham haben eindrucksvoll die psychischen Folgen, die die Bombardierungen Londons durch die deutsche Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg für Kinder hatten, beschrieben und auf die psychische Schutzwirkung einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung gerade angesichts der Bedrohung hingewiesen (Freud & Burlingham, 1980). Kürzlich wiesen Keren et al. (2019) auf die erheblichen psychischen Folgen bedrohlicher kriegerischer Handlungen für Kinder im Nahostkonflikt hin. Vor allem der Zusammenhalt schützender familialer Bindungen wird durch den Krieg bedroht. Wir sehen die vielen fliehenden Familien, die Familienangehörige, v. a. die Väter, in den umkämpften Gebieten zurücklassen müssen. Ich hoffe zutiefst, dass wir in Europa, aber auch in anderen Regionen der Welt, wieder zu einem friedlichen Umgang mit politischen Konflikten zurückfinden und dass die von einem russischen Autokraten ausgelöste kriegerische Aggression eingedämmt werden kann, gerade in Hinblick auf das körperliche und seelische Wohl der Kinder.
Dieses Buch wäre auch ohne die SARS-CoV-2-Pandemie geschrieben worden, welche uns seit 2020 so stark beschäftigt. In meinen fast 40 Jahre währenden ärztlichen und psychotherapeutischenTätigkeiten als Kinder- und Jugendpsychiater in verschiedenen pädiatrischen und kinderpsychiatrischen Kliniken ist mir kein Phänomen derart anhaltend unter die Haut gegangen wie die Begegnungen mit Tausenden von Kindern, die in unseren wohlhabenden Gesellschaften nicht das Beziehungsumfeld vorfinden, welches für ein gesundes Gedeihen notwendig wäre. Von Chancengleichheit kann unabhängig von der Herkunft von Kindern keine Rede sein. So viele Entwicklungspfade sind schon von Geburt an erheblichen Risiken ausgesetzt. Neben anlagebedingten oder erworbenen biologischen Beeinträchtigungen sind es v. a. ungünstige Beziehungserfahrungen, die manchmal unausweichlich den Pfad der Entwicklung hin zu Lebensgeschichten legen, die von körperlichen und/oder psychischen Krankheiten, immer wiederkehrenden Beziehungskrisen (z. B. erheblich Konflikte mit Gleichaltrigen) und gesellschaftlichen Ausschlusstendenzen (z.B. Schulverweise) geprägt sind.
Die Pandemie hat diese Probleme wie unter einem Brennglas sichtbarer gemacht. Zunächst war ich erleichtert, dass das neue Virus anders als bei vorangegangenen Infektionskrankheiten verhältnismäßig ungefährlich für Kinder und Jugendliche ist. Covid-19 ist keine Kinderkrankheit. Und doch waren Kinder bald die Hauptbetroffenen unserer gesellschaftlichen Reaktionen auf die neue Bedrohung. Im ersten Lockdown 2020 gehörte es zu den ersten Maßnahmen, die Kinderspielplätze abzusperren, bald folgte die Schließung der Schulen. Infizierte Kinder erkranken in der Regel nur milde, können aber den Erreger übertragen. Zwar wurden und werden immer noch mehr Kinder von Erwachsenen angesteckt als umgekehrt, aber bald machte sich das von Wissenschaftlern kreierte Bild von Kindern als »trojanische Pferde« breit: Sie sehen harmlos aus, sind aber gefährlich für uns Erwachsenen, weil wir uns bei ihnen anstecken können.
Glücklicherweise hat sich im Laufe der Zeit ein differenzierteres gesellschaftliches Bild entwickelt. Wir haben gemerkt, dass die Schließungen von Schulen, Kindergärten und Kitas zwar dazu beitragen können, die Verbreitung des Corona-Virus abzuschwächen, dass sie aber viele unerwünschte Folgen und manchmal große Not für viele Kinder mit sich bringen. Wir neigen aber dazu, all diese Angelegenheiten aus der Erwachsenensicht zu betrachten. Wie können wir ältere vulnerable Bevölkerungsgruppen schützen? Wie selbstverständlich fordern wir von der jungen Generation eine Solidaritätsleistung. Die meisten Kinder und Jugendlichen waren und sind bereit, solidarisch zu sein. Sie trugen Masken, akzeptierten, dass sie sich untereinander nicht mehr unbeschwert treffen konnten, Geburtstagsfeiern fielen aus und der Schulbesuch wurde auf das Nötigste beschränkt. Manche Kinder haben in ihren ersten Schuljahren nie einen funktionierenden Klassenverband erlebt. Glücklicherweise haben im zweiten Corona-Winter Erkenntnisse über die Folgeschäden von Schul- und Kindergartenschließungen dazu geführt, dass solche Schließungen nicht mehr flächendeckend durchgeführt wurden. Zudem wurden Kinder regelmäßig Antigen-Schnelltests unterzogen. Bei positiven Befunden wurden sie und ihre Kontaktpersonen, manchmal ganze Klassenverbände, in Quarantäne geschickt.
Mit Recht wird auf die Beeinträchtigung von Bildungschancen für die betroffenen Kinder hingewiesen. Für mich sind aber die Auswirkungen der Pandemie auf die vielen Kinder besorgniserregender, welche sie in ihrem direkten Umfeld, ihren Familien, ihrem Wohnumfeld oder anderen Betreuungsverhältnissen unter derart prekären Bedingungen erleiden. Nur ein regelmäßiger Kindergarten- und Schulbesuch und die damit verbundenen sozialen Erfahrungen können für einen gewissen Ausgleich sorgen. Fallen diese Erfahrungen über längere Zeit weg, droht die häusliche Vernachlässigung zu einer Falle zu werden, aus der es kein Entrinnen gibt. Plötzlich wird eine Kindeswohlgefährdung gar nicht mehr sichtbar, weil das Kind auf niemanden mehr trifft, der eine solche Gefährdung bemerken könnte. In unseren Ambulanzen wurden während des ersten Lockdowns kaum noch Kinder angemeldet, viele Jugendämter hatten sämtliche Hausbesuche, Helferkonferenzen und Familiengespräche wegen der Infektionsgefahr eingestellt. Das ganze Elend wurde erst nach der Wiederöffnung in Frühjahr und Sommer 2021 sichtbar. Ambulanzen und Kliniken wurden überschwemmt mit Anmeldungen von Kindern in größter Not. Nicht eine breite Zunahme von psychischen Störungen war und ist das Hauptproblem, sondern vielmehr der Umstand, dass die Kinder, die sowieso schon in prekären Verhältnissen lebten, nunmehr immer schwerer beeinträchtigt waren. Ich erinnere mich an ein 13jähriges Mädchen, das völlig vereinsamt im Haushalt überforderter Eltern lebte und im ersten Lockdown nun plötzlich ihrer wichtigen Kontakte in der Schule und mit Lehrer:innen und Gleichaltrigen beraubt war. Sie begann sich in der Einsamkeit um sich selbst zu drehen, machte täglich über Stunden Turnübungen und zählte Kalorien, um ihren Körper mehr dem anzugleichen, was sie als gesellschaftliches Ideal erlebte. Als sie nach der Wiedereröffnung wieder in die Schule ging, war sie lebensbedrohlich abgemagert, ohne dass ihre Eltern irgendetwas bemerkt hatten. Ihre Lehrerin veranlasste sofort ihre Klinikeinweisung. Erschrocken mussten wir feststellen, wie viele Kinder in unseren Gesellschaften vereinsamt, ohne Liebe und menschliche Zuwendung und emotional misshandelt aufwachsen und wie schlimm es für diese ist, wenn sie nicht wenigstens in ihrem Kindergarten- oder Schulalltag altersgerechte und anerkennende soziale Erfahrungen machen können.
Im Rahmen meiner intensiven psychoanalytischen Ausbildung konnte ich mir einen Denk- und Gefühlsrahmen erarbeiten, der mir immer geholfen hat, mit den in diesem Buch geschilderten schwierigen Beziehungssituationen in Familien und im institutionellen Rahmen sowie mit dem Leid der betroffenen Kindern umgehen zu können. Psychoanalytisches Denken und psychoanalytische Modelle haben mir immer geholfen, das Zusammenwirken zwischen dem Individuum mit seinen individuellen Anlagen und den sozialen Beziehungsbedingungen, in welchen es aufwächst und...
Erscheint lt. Verlag | 20.8.2022 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Kinder- und Jugendhilfe • Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie • Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie • Kindesmissbrauch • Kindesmisshandlung • Kindesvernachlässigung • Kindeswohl • Psychoanalytische Therapie |
ISBN-10 | 3-608-11877-2 / 3608118772 |
ISBN-13 | 978-3-608-11877-3 / 9783608118773 |
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Größe: 3,6 MB
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