Belastete Familien? (eBook)

Eine Alltagsgeschichte westdeutscher Haushalte mit behinderten Kindern (1945-1990)
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
512 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45193-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Belastete Familien? -  Raphael Rössel
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Wie lebte man in der Bundesrepublik Deutschland - von der direkten Nachkriegszeit bis zum Beginn der Inklusion in den Jahren der Wiedervereinigung um 1990 - in Haushalten mit behinderten Kindern? Raphael Rössel stellt anhand von Egodokumenten und Schriftwechseln innerhäusliche Abläufe und Aushandlungsprozesse sowie Konfliktlinien nach außen dar und lässt erstmals westdeutsche Heranwachsende und ihre Eltern selbst zu Wort kommen. Er dokumentiert eindrucksvoll das Streben dieser Haushalte, trotz vermeintlicher Makel als »Familien« anerkannt zu werden. Zudem verdeutlicht er anhand zahlreicher Beispiele die Herausforderung, Alltage zu organisieren und Kindern eine bestmögliche Förderung zu geben, ohne individuelle Ansprüche zu vergessen. Nominiert für die Shortlist des Hedwig Hintze Preises 2023

Raphael Rössel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FernUniversität in Hagen.

Raphael Rössel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FernUniversität in Hagen.

2. Jenseits der Normalfamilie: Haushalte mit behinderten Kindern in Nachkriegszeit und früher Bundesrepublik


2.1 Von Unsicherheiten zu Finanzierungsreformen für körperbehinderte Kinder


Die unterschiedlich langen Wege zur familiären Normalisierung

Die direkte Nachkriegszeit war eine Zeit familiären Pflegens. Als zu betreuende Erbschaften des Zweiten Weltkriegs lebten in den Westzonen nicht nur 1,5 Millionen Versehrte.103 Auch zivile Opfer, pflegebedürftige Waisen, ausgelaugte Vertriebene, Ausgebombte und andere Kriegsbetroffene wurden primär durch ihre Angehörigen versorgt. Vor allem die Sorgearbeit der Ehefrauen an ihren heimgekehrten Ehemännern gilt mit Vera Neumann als vom Staat offensiv »privatisierte Kriegsfolge«, deren Bewältigung eine Grundlage des wenige Jahre später einsetzenden Wirtschaftsaufschwungs bildete.104

Dabei waren familiäre Verhältnisse alles andere als beständig in der direkten Nachkriegszeit.105 Die Regelfamilie der Besatzungszeit bestand statistisch gesehen aus einer alleinerziehenden Mutter mit Kind(ern).106 Scheidungsraten schnellten in die Höhe,107 fast 16 Millionen Männer (11,7 Millionen Kriegsgefangene, 4 Millionen Gefallene) waren 1945 absent. Diejenigen, die zurückkehrten, konnten durch traumatisierende Erlebnisse und Verwundungen108 – denen anders gelagerte, aber nicht minder nachwirkende Gewalterfahrungen109 ihrer Ehefrauen gegenüberstanden – ihre angestammte Ernährerrolle nicht ohne weiteres wieder einnehmen. Der vermeintliche »Stabilitätsrest« der Kernfamilie, dessen angebliches Nichtzerbrechen Helmut Schelsky frappierte und seine Hoffnung auf gesellschaftlichen Halt aus dem Privaten anfachte,110 blieb in der gelebten Praxis fragil. Vielerorts, auch durch kriegsbedingte Behinderungen und dadurch entstandene Sorgebedarfe, waren familiäre Lebensrealitäten prekär, zukünftige Rollenverteilungsmuster ungewiss.

Doch wie reagierten die Politik und wie die Haushalte selbst auf diese ungewisse Zukunft?111 Wie versuchten sie die Kriegshypotheken, die auf ihnen lasteten, abzutragen? Beide erhoben mit der Kernfamilie ein Lebensmodell zum Ideal. Sowohl der Staat112 als auch viele Familienmitglieder selbst versuchten familiäre Lebens- und Geschlechterverhältnisse, so eine oft formulierte familienhistorische These, zu »normalisieren«, sprich zu einer als Norm empfundenen, wenngleich selten gelebten, monogamen Ehekonstellation mit männlichem Alleinernährer und kindererziehender Hausfrau zurückzukehren – oder meist erst einzurichten.113

Während ein endogenes wie exogenes Drängen auf Anpassung der Lebensverhältnisse an eine kernfamiliäre Norm belegt ist, erschien der Weg dahin für manche Familien länger als für andere. Viele Familien mit behinderten Kindern befanden sich am Ende des Zweiten Weltkriegs im toten Winkel der Maßnahmenpakete,114 die von politischer Seite eingerichtet wurden, um bei (kriegsbelasteten) Familien eine Normalisierung zu erreichen.115 Staatlicherseits sollten vor allem kriegsversehrte Männer und Jugendliche durch Rehabilitationsangebote erwerbsbefähigt werden, nicht zuletzt, damit sie prospektiv eine Ernährerrolle einnehmen konnten.116 Für behinderte Menschen deren Eingliederung in den Arbeitsmarkt fraglich schien, wurden hingegen kaum Mittel bereit gestellt. Dennoch lebten in Westdeutschland auch viele Familien, in denen pflegebedürftige Kinder aufwuchsen, deren Behinderung sich nicht direkt auf Kriegseinfluss zurückführen ließ und deren Behinderungsvariante ein späteres berufliches Fußfassen unmöglich erschienen ließ.

Die bisherige Forschung zur Versorgung behinderter Menschen in der Nachkriegszeit hat zwar immer wieder die Besserbehandlung Kriegsversehrter hervorgehoben,117 aber nur selten auf die behinderten Menschen geblickt, denen keine Bevorzugung zuteilwurde. Wie unterschied sich der Zugang der Familien zu staatlichen Finanzressourcen je nach Art und Ursache der kindlichen Behinderung? Und vor allem: Welche Möglichkeiten hatten (welche) Familien, ihre Lage zu beeinflussen, Unterstützungsgelder zu erwirken? Mit welchen Versorgungszielen traten sie an staatliche Stellen heran?

In diesem Kapitel stehen die Auseinandersetzungen von Familien mit behinderten Kindern mit staatlichen und auch kirchlichen (Fürsorge-)Stellen im Mittelpunkt, in denen Wege der Finanzierung häuslicher Pflege zur Disposition standen. Unterschieden wird im Folgenden sowohl nach Familienformen, als auch regional sowie nach Art der kindlichen Behinderung.

Nicht in den Fokus werden die politischen Entstehungskontexte staatlicher Finanzierungspakete, Gesetzeseinführungen und -novellierungen gerückt. Ebenso wenig wird aus Kommunal-, Landes- oder Bundesperspektive auf die Lebenslagen von Familien mit behinderten Kindern geblickt. Nicht nur ist der sozialpolitische Umgang mit Behinderungen in der Nachkriegszeit an anderer Stelle bereits ausführlich historisiert worden.118 Die Perspektive »von oben« verstellt den Blick darauf, wie Familienmitglieder mit den staatlichen Leistungen ihre Leben gestalteten. Gesetzespakete werden im Folgenden nicht in ihrer sozialpolitischen Intention analysiert, sondern in ihrem lebensweltlichen Effekt. Der entstehende sozialpolitische Apparat war zwar verschachtelt, gab aber doch klare Zuständigkeiten darüber vor, ob kommunale Fürsorgestellen, überregionale Landeswohlfahrtsverbände, Landesversorgungämter oder aber Bundesstellen für die jeweiligen finanziellen Herausforderungen zuständig waren. Die Betroffenen agierten aber nicht immer nur auf einer Ebene. Sie beschwerten sich an anderer, oft höherer Stelle, was nicht selten zu inneramtlichen Auseinandersetzungen führte. Aufgrund dieses Vorgehens changiert auch dieses Kapitel zwischen Kommunal-, Landes- und Bundesebenen.

Es wird dabei einerseits die bereits eingeführte These aufgegriffen und differenziert, dass staatliche Leistungen an den Lebensrealitäten zahlreicher behinderter Menschen vorbeiliefen, da sie primär auf Kriegsopfer zugeschrieben waren. Für viele Familien gab es in der Tat keine festen Regelungen, die ihnen Zugriff auf bedarfsgerechte Pflegeleistungen erlaubt hätten. Nicht nur waren vielen Familien Rechtslagen unbekannt und ein Nachfragen schambesetzt, oft überstiegen tägliche Kosten mögliche Leistungen deutlich. Während exponierte Familien körperbehinderter Kinder im Gleichklang mit Versehrtenverbänden erfolgreich verbesserte Bezüge erhielten, blieben andere Haushalte – vor allem mit psychisch und geistig behinderten Nachkommen – trotz Gesetzesnovellen weiterhin in prekären Lagen.

Andererseits argumentiere ich, dass Familien, die nichtkernfamiliär aufgestellt waren oder soziale Ausgrenzung aufgrund fortwirkender eugenischer Vorstellungen fürchteten, staatliche Mittel tendenziell mieden oder sie zumindest nur punktuell wahrnahmen. Einige von ihnen konnten finanzielle Entlastung von anderer Seite erwirken. Familien taten dies, indem sie lokale oder kirchliche Netzwerke aktivierten und so zusätzliche Unterstützung nutzten, um Engpässe auszugleichen. Beide Gruppen suchten die Nähe zu oder aber den Abstand von staatlichen Stellen, so die übergreifende These, mit dem Ziel der Wahrung oder Errichtung eines als schützenswert wahrgenommenen Normalzustandes ihrer familiären Lebensweise. Dieser durch Behinderung herausgeforderte Normalzustand wurde aber durch die jeweilige Familie selbstbezüglich definiert und lag mitnichten immer in einer Kernfamilie.

Die Versorgungswürdigen: Kriegsversehrte Jungsoldaten

Im Mai 1947 berichtete die Familienfürsorgerin Löhr einem örtlichen Wohlfahrtsbeamten von der anhaltenden Notlage Mönchengladbacher Haushalte. Sie beschrieb besonders förderungswürdige Einzelfälle. Für Löhr waren das diejenigen Fälle, in denen eine ohnehin als belastend gewertete häusliche Situation durch Krankheit oder Behinderung weiter verschärft worden war. »Abseits von der Straße lebt in einem alten Fachwerkhäuschen die 50 Jahre alte, alleinstehende […]. [Sie ist] [i]n laufender fachärztlicher...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2022
Reihe/Serie Disability History
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Zeitgeschichte
Schlagworte Alltagsgeschichte • Behinderte • Behinderte Kinder • Behinderung • Behinderungen • Betreuung • Bundesrepublik Deutschland • Contergan • Conterganskandal • Disability History • Egodokumente • Erziehung • Familien • Familienalltag • Familiengeschichte • Familienpolitik • Gesellschaft • Häusliche Pflege • Kinder • Nachkriegszeit • Pädagogik • Paternalismus • Tagesschule • Therapie • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-593-45193-X / 359345193X
ISBN-13 978-3-593-45193-0 / 9783593451930
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