Die Unsichtbaren (eBook)

Wie Geheimagentinnen die deutsche Geschichte geprägt haben - Ein SPIEGEL-Buch
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2022 | 1. Auflage
384 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-28838-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Unsichtbaren -  Maik Baumgärtner,  Ann-Katrin Müller
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Frauen undercover: Der Einfluss von Geheimagentinnen in Deutschland
James Bond und Jason Bourne prägen unser Bild über die Arbeit von Geheimdiensten. Aber in der Realität sind nicht nur Männer als Agenten tätig. Schon seit dem Kaiserreich arbeiten viele Frauen für deutsche und internationale Nachrichtendienste. Sie stehlen militärische Dokumente, überwachen und sabotieren ihre Gegner, rekrutieren Informantinnen und enttarnen feindliche Spione. Doch obwohl Agentinnen ihren männlichen Kollegen in nichts nachstehen, wird ihr Einfluss auf die Geschichte bis heute unterschätzt. Maik Baumga?rtner und Ann-Katrin Mu?ller haben ihre geheimen Fa?lle der vergangenen hundert Jahre recherchiert, zahlreiche Akten ausgewertet und mit ehemaligen und aktiven Geheimagentinnen gesprochen, die fu?r oder in Deutschland im Einsatz waren. In diesem Buch erzählen die beiden SPIEGEL-Journalisten ihre Geschichten und zeigen, wer die Frauen waren, die der heutigen Generation von Spioninnen den Weg ebneten.

Maik Baumgärtner, geboren 1982, schreibt seit 2011 für den SPIEGEL, meist zu politischen Sicherheitsthemen und Geheimdienstarbeit. Seine Recherchen veröffentlichte er auch beim ARD-Politikmagazin »Monitor« und bei Deutschlandradio. Er ist Mitautor verschiedener Bücher und Broschüren über Rechtsextremismus und Drogenkriminalität. Im Bereich Investigation hat er den Deutschen Reporterpreis und den Nannen Preis gewonnen.

1


Damenbinden, Geheimtinte, Tabakpfeifen

Spioninnen erobern das Kaiserreich


Sie war nicht schnell genug. Plötzlich steht ihr Nachbar wieder in seinem Zimmer in der Berliner Pension in der Nähe vom Kurfürstendamm, wo sie beide wohnen – und wo sie sich gerade über die militärischen Dokumente auf seinem Schreibtisch beugt. Die 25-jährige Russin Zinaida Smoljaninow rettet die Situation, indem sie den Nachbarn lachend rügt: Er sei aber unvorsichtig, sie hätte ihm ja die Pläne klauen können. Auf seine Frage, was sie denn damit anstellen wolle, kontert sie, ob er denn nicht wisse, was man mit solch wichtigen Dokumenten machen könne. Sie wisse es jedenfalls, sagt sie. Dann schlägt sie vor, dass sie die Pläne von einem Militärattaché der Russen abfotografieren lassen könnte, gegen Geld.

Doch ihr Nachbar weigert sich, schimpft, welcher ungeheuren Gefahr sie ihn und sich selbst aussetzen würde und welche Verbrechen sie ihm zutraue. Kein deutscher Offizier würde sich darauf einlassen. Sie erwidert, dass sie schon geheimere Missionen ausgeführt habe. Er müsse sein Gewissen nicht belasten und ihr nicht aktiv helfen, solle einfach nur die Pläne auf dem Tisch oder sonst wie unverschlossen liegen lassen, um den Rest kümmere sie sich dann. Er lehnt ihr Angebot ab.

Smoljaninow lässt nicht locker, spricht ihn immer wieder darauf an, fragt ihn, ob er Schulden hat. Er gibt an, dass er welche hat, etwa 5000 Mark. Auch sie benötigt Geld – und sagt, man könne mit dem Verkauf wertvoller Papiere bis zu 60 000 Mark verdienen. Ob er nicht welche beschaffen könne? Wieder und wieder wiegelt der Nachbar ab, sagt, das gehe gegen seine Ehre und sein Gewissen, droht ihr sogar mit einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft. Als er ihr wieder etwas später erzählt, dass er bald in der Eisenbahnabteilung des Großen Generalstabes arbeiten werde, bittet sie ihn erneut. Einer von den Russen, die sie kenne, würde ihr Nachrichten über die Mobilmachung an der Südostgrenze des deutschen Kaiserreichs aus den Händen reißen. Der Mann heißt Oberst von Schebekow und ist Militärattaché an der russischen Botschaft in Berlin, er kennt den Kaiser persönlich.

Es ist der Frühsommer 1905 und die Russen sorgen sich, dass die Deutschen weiter aufrüsten. Im April hatte der Reichstag beschlossen, das deutsche Heer in den kommenden vier Jahren um 10 000 Mann aufzustocken. Fünf Jahre zuvor hatte der Reichstag bereits das neue Flottengesetz angenommen und massiv aufgerüstet. Die Jahre zu Beginn des 20. Jahrhunderts stehen im Zeichen von machtpolitischen Rivalitäten: 1902 hatte das Deutsche Reich seinen Dreibund mit Österreich-Ungarn und Italien erneuert. Die Annäherung der einstigen Rivalen England und Frankreich sorgt mehr für Nervosität als für ­Stabilität, zumindest aus deutscher Sicht. Denn Kaiser Wilhelm II. will einen »Platz an der Sonne« für sein Reich, das inzwischen ein Industriegigant ist. Es ist allerdings auch äußerst reaktionär und militaristisch eingestellt. Wegen des aggressiven deutschen Machtstrebens schließen sich Russland, Frankreich und Großbritannien nur wenig später, 1907, zur Triple Entente zusammen.

Smoljaninow ist also sicher: Für Dokumente zur deutschen Mobilmachung würden die Russen Tausende Mark zahlen. Plötzlich lenkt der Nachbar ein, sagt, er werde sich um ein solches Dokument kümmern. Smoljaninow informiert den Oberst. Der Nachbar organisiert kurz darauf drei Schriftstücke. Die ersten beiden sind als »Geheim« markiert und tragen den Stempel der »Eisenbahn-Abteilung des Großen Generalstabes«, dazu eine Journalnummer und Unterschriften von Eisenbahn- und Militärbevollmächtigten.[1] Es geht darin um die Maßnahmen, die im Falle einer Mobilisierung im Eisenbahndirektionsbezirk Kattowitz ergriffen werden sollen. Das dritte ist ein Lageplan des Bahnhofs Vossowka.

Kurz vor der Übergabe hat der Nachbar jedoch wieder Gewissensbisse und will die Dokumente nicht mehr weitergeben. Stattdessen verschließt er sie in seinem Militärkoffer. In einem passenden Augenblick nimmt sich Smoljaninow heimlich den Schlüssel vom Schreibtisch und die Dokumente aus dem Koffer. Sie zeigt sie dem Oberst, der ihr rät, Abschriften anzufertigen und diese zu dem Militärattaché der russischen Botschaft in Brüssel zu bringen. Sie schmuggelt die Schriftstücke zurück in den Koffer – und bittet den Nachbarn, sie abschreiben zu dürfen. Wieder lehnt er ab.

Als er abends sein Zimmer verlässt, stiehlt sie die Dokumente erneut und schreibt sie ab. Wenig später beichtet sie ihrem Nachbarn, was sie getan hat, und bittet dabei um einen bestimmten Lageplan sowie um weitere Schriftstücke. Als er diese dann tatsächlich besorgt, wiederholt sie die Abschreiberei. Den Plan schmuggelt sie gar ins Haus eines ihr bekannten russischen Propstes, um ihn dort abzufotografieren. Die Aktion misslingt, weswegen sie ihn am Ende abpausen muss. Oberst von Schebekow meldet Smoljaninow derweil in Brüssel an, schreibt seinem Kollegen, dass sie 2500 Mark für die Dokumente bekommen soll. Am 18. Juni 1905 reist die junge Frau los – und kehrt sechs Tage später mit dem Geld zurück. Der Nachbar bekommt 1500 Mark, sie quittiert ihm das und unterschreibt als Frau »Engelhard«. Dann reist sie nach Baden-Baden zu einer Freundin. Dort wird sie am 26. Juni verhaftet.

Was Smoljaninow nicht wusste: Der nette Nachbar, Karl Bader, ist nicht aus Zufall in das Zimmer neben ihr gezogen. Er ist ein verdeckter Ermittler, den die Polizei auf sie angesetzt hat. Die Dokumente, die er besorgte, waren extra für sie gefälscht. Manche Details fehlen, andere wurden verändert. Aber Smoljaninow hat Glück im Unglück: Die Behörden haben nun zwar etwas gegen sie in der Hand und können Anklage erheben. Doch da die Dokumente nicht echt waren, ist ihr Strafmaß gering, schließlich hat sie das Deutsche Reich nicht wirklich gefährdet. Am 18. November 1905 wird sie wegen des Verrats militärischer Geheimnisse zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten sowie zu einer Geldstrafe in Höhe von 1500 Mark verurteilt.

Tatsächlich hatte die Polizei Smoljaninow schon länger im Visier. Im Frühjahr 1904 war sie erkrankt, soll dann einem Arzt »alsbald von ihren Beziehungen zum auswärtigen Amte und zu Offizieren des Generalstabs«[2] berichtet haben. Der habe sie deswegen als verdächtig gemeldet. So steht es im Urteil, das im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde liegt, in schwarzer Tinte schnörkelig auf schon leicht gelbem Papier, die Blätter längs mittig geknickt. Auch ihrer Vermieterin soll sie angeblich »oft und mit Vorliebe« erzählt haben, dass »sie viel mit Offizieren verkehre und dass sie alles erfahren könne, was sie zu wissen wünsche«.[3] Außerdem war der Vermieterin aufgefallen, dass Smoljaninow »größere Geldsummen aus Rußland erhielt und ihre Briefe stets eigenhändig der Post zur Beförderung übergab«.[4]

Die Polizei ermittelt also, findet jedoch nur heraus, dass Smoljaninow gute Kontakte in die russische Botschaft hat. Mehr können sie ihr nicht nachweisen. Ein Kriminalkommissar greift daraufhin zu einem drastischeren Mittel: er rekrutiert den Fabrikanten Karl Bader, einen Offizier im »Beurlaubtenstand«, wie es damals hieß. Er soll Smoljaninow bespitzeln und herausfinden, ob sie spioniere. Einzige Einschränkung: Bader darf sie nicht provozieren. Das erklärt, warum er ihr die Dokumente nie freiwillig gibt, immer wieder einen Rückzieher macht. Die Polizei braucht einen Beweis dafür, dass Smoljaninow aktiv wird, ohne angestiftet worden zu sein.

Im April 1905 zieht Bader in der Pension ein und legt militärwissenschaftliche Bücher, Karten und Pläne in seinem Zimmer aus. Smoljaninow wohnt direkt nebenan, kann sogar durch eine Glastür zwischen den beiden Räumen zu ihm hineingucken. Die beiden kommen ins Gespräch, sie denkt, er sei Offizier in »verantwortungsvoller Stellung«, der sich mit geheimen Dingen beschäftigt. Die Falle ist zugeschnappt.

Ein gutes halbes Jahr später, am 28. November 1905, schreibt selbst die New York Times über »die schöne Autorin« Smoljaninow und ihren Gerichtsprozess. Und das, obwohl sowohl das Auswärtige Amt als auch der Reichskanzler das Reichsjustizamt mehrfach darum gebeten hatten, das Verfahren möglichst geheim und unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen. Das sei »im Interesse der inneren wie der äußeren Politik«[5]. Die Times weiß trotzdem zu berichten, dass Smoljaninow schnell in »offizielle, aristokratische und Finanzkreise« vorgedrungen ist, nachdem sie aus St. Petersburg nach Berlin gezogen war. Auffällig sei aber gewesen, dass ihr Jahresgehalt niemals ihre Ausgaben hätte decken können, dafür habe sie zu prunkvoll gelebt. Außerdem hätte sie verschiedene Namen für Korrespondenz benutzt. »Der Fall weckt große Neugierde wegen des Geheimnisses um ihre Persönlichkeit und der gegen sie erhobenen Vorwürfe«, so die Zeitung.

Zinaida Smoljaninow, die am 29. August 1880 bei Moskau geboren wurde, kam 1900 nach Berlin. Sie unterrichtete Russisch, meist Mitglieder deutscher Offiziersfamilien. Und sie übersetzte aus dem Deutschen, vor allem für eine in Moskau erscheinende Zeitung. Mit ihrem Ausweis als Zeitungskorrespondentin hatte sie Zutritt zur russischen Botschaft, lernte so etwa Oberst von Schebekow kennen. Die Richter attestieren ihr, dass sie »eine gewisse Bildung und Gewandtheit besitzt«[6]. Auch meinen sie, bei ihr »weibliche Eitelkeit« sowie eine »Neigung zur Ruhmredigkeit« zu...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2022
Zusatzinfo mit Abbildungen
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2022 • Black Widow • Doppelagentin • eBooks • Ethan Hunt • Feminismus • Frauenporträts • Frauenpower • Frauen undercover • Geheimagentinnen • Geheimdienste • Geschichte • James Bond • Jason Bourne • Kalter Krieg • Mata Hari • Nachrichtendienste • Neuerscheinung • Spioninnen • Starke Frauen • Weimarer Republik
ISBN-10 3-641-28838-X / 364128838X
ISBN-13 978-3-641-28838-9 / 9783641288389
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