Glanz und Größe (eBook)
928 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-26042-2 (ISBN)
Tim Blannings Geschichte Europas erstreckt sich vom Ende des Dreißigjährigen Kriegs bis zum Wiener Kongress und zeichnet detailliert, höchst unterhaltsam und mit großer erzählerischer Kraft das Bild eines Zeitalters in tiefgreifendem Wandel - wirtschaftshistorisch, machtpolitisch, kulturell, militärisch. Neben großen Persönlichkeiten wie Louis XIV., Friedrich II., Napoleon, Voltaire oder Newton und den Eliten an Europas Höfen kommen immer wieder auch die Alltagssorgen und Nöte der niederen Stände in den Blick, die sich schließlich in der Französischen Revolution Bahn brechen sollten. Die Leichtigkeit, mit der Blanning die Perspektive zwischen den Kulturen wechselt, und die Fülle der verarbeiteten Fakten weisen den Autor als Meister seines Fachs und einen der bedeutendsten Historiker unserer Zeit aus. »Eine Sternstunde der Geschichtsschreibung« Literary Review
Mit 30 zum Teil farbigen Abbildungen
Tim Blanning war bis zu seiner Emeritierung 2009 Professor für Neuere europäische Geschichte an der Universität Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Politik- und Kulturgeschichte Europas im 18. und 19. Jahrhundert (u.a. »Das Alte Europa 1660 - 1789«, 2006). Dabei widmet er sich auch immer wieder deutschen Themen wie in seiner gefeierten Biografie »Friedrich der Große« (2018), wofür er u.a. mit der British Academy Medal ausgezeichnet wurde. Zuletzt ist von ihm bei C. Bertelsmann erschienen »Triumph der Musik. Von Bach bis Bono« (2010).
Einleitung
Jede Geschichte Europas muss – wenn man nicht gerade den Versuch unternehmen will, die gesamte Geschichte der Menschheit seit dem Aufstieg des Homo sapiens zu erzählen – zu einem willkürlich gewählten Zeitpunkt einsetzen. Doch manche Zeitpunkte sind willkürlicher als andere. Dummerweise kommt es vor, dass eine Jahreszahl innerhalb einer bestimmten Epoche für ein Feld menschlicher Aktivität bedeutsam, für ein anderes dagegen weitgehend irrelevant ist. So glich 1789 auf dem Gebiet der Politik einem Donnerschlag, für die Musik und die bildende Kunst jedoch kaum dem Piepsen einer Fledermaus. Nicht anders sieht es mit 1648 aus. Auf den ersten Blick erscheint das als sinnvoller Ausgangspunkt, da in diesem Jahr der Westfälische Friede geschlossen wurde und damit ein Krieg sein Ende fand, der dreißig Jahre gedauert und in Europa mehr Verwüstung hinterlassen hatte als alle Konflikte zuvor. Zudem gelang mit ihm die Klärung von mindestens zwei großen Streitfragen, einigte man sich doch auf die Anerkennung der Unabhängigkeit der Vereinigten Niederlande von Spanien und auf eine Ordnung des deutschsprachigen Europa, die eineinhalb Jahrhunderte Bestand haben sollte. Noch wichtiger war, was der Einigung in diesen beiden Punkten zugrunde lag: die Erkenntnis, dass der konfessionelle Pluralismus von nun an ein Dauerzustand sein würde. Die Fanatiker unter Katholiken wie Protestanten mochten jeweils weiterhin vom Triumph des einzig wahren Glaubens träumen, doch das 1648 anerkannte Patt wurde nie wieder ernsthaft in Frage gestellt.
Für das Jahr, mit dem dieser Band einsetzt, gibt es also gute Gründe; man muss sich aber auch vor Augen führen, dass die Westfälische Friedensordnung ebenso viele Streitfragen offenließ wie beigelegt wurden. Der Krieg zwischen Spanien und Frankreich flackerte immer wieder auf, bis 1659 der Pyrenäenfriede geschlossen wurde, und ganz zu Ende war er im Grunde erst, als die Bourbonen 1714 international als Erben des spanischen Königsthrons anerkannt wurden. Im Norden und Osten waren die Dinge weiterhin in Bewegung, denn die Vormachtstellung Schwedens wurde bald von der einen, bald von einer anderen Großmacht in Frage gestellt, was zu einer verwirrenden Abfolge von Kriegen führte, die erst 1721 mit dem Frieden von Nystad endete. Die beiden Entwicklungen, die der internationalen Politik im Weiteren ihren Stempel aufdrücken sollten, waren der »Zweite Hundertjährige Krieg« zwischen England und Frankreich, der erst 1688 ausbrach, und die Expansion Russlands, die erst 1695 einsetzte. Die weitere innenpolitische Entwicklung war im Grunde noch ungewisser. In Frankreich begannen 1648 die Bürgerkriege (die »Fronde«), und in England wurde 1649 eine Republik ausgerufen, was zur Hinrichtung Charles’ I. führte. Die sehr unterschiedlichen Lösungen dieser Konflikte mussten bis zum Beginn der »Alleinherrschaft« Louis’ XIV. 1661 beziehungsweise bis zur »Glorious Revolution« von 1688 warten.
Es gab 1648 also unabgeschlossene Entwicklungsstränge, und 1815 sollte es nicht anders sein. Die folgenden Kapitel stellen den Versuch dar, die einzelnen Fäden zu einem Leitfaden durch das Labyrinth zusammenzuspinnen, der in sich stimmig ist, ohne ins Schematische zu verfallen. Eine übergeordnete Erzählung, wie Hegel oder Marx – oder auch die fortschrittsoptimistischen Whig-Historiker – sie ausgearbeitet haben, wird der Leser vergebens suchen, aber es werden doch bestimmte Entwicklungslinien erkennbar. In der Politik war die augenfälligste davon der unaufhaltsame Marsch des Staates Richtung Hegemonie. Im Jahr 1815 war der Anspruch des Staates, alleiniger Gesetzgeber zu sein und innerhalb seiner Grenzen Gefolgschaft einfordern zu können, in den meisten Teilen Europas, wenn nicht gesetzlich verankert, so in der Praxis doch unangefochten. Zwar gab es eine reiche Palette an Verfassungsformen, von der Demokratie bis zur Autokratie, doch zugrunde lag ihnen allen die Souveränität eines abstrakten Gebildes – des Staates. Politische Konstruktionen, die es nicht vermochten, das »Gewaltmonopol« (Max Weber) durchzusetzen, das einen Staat im Kern ausmacht – wie Polen und das Heilige Römische Reich –, wurden zur leichten Beute von Rivalen, die die Zeichen der Zeit besser erkannt hatten. Wesentlicher Bestandteil dieser Entwicklung war die Säkularisierung, die in katholischen Ländern die Verwahrung gegen jegliche Einmischung des Papstes umfasste und überall die Unterordnung der Kirche unter den Staat gebot. Doch das Blut, das durch die Adern des Staates strömte, war nur lauwarm und dünnflüssig. Zur Motivation der Staatsbürger bedurfte es einer Transfusion von etwas Inspirierenderem, und das war zunehmend der Nationalismus: eine weltliche Religion mit der Kraft, Hingabe und Hass von einer Leidenschaftlichkeit zu entfesseln, die sich problemlos mit jener messen konnte, mit der in einer früheren Epoche religiöse Konflikte ausgetragen wurden.
Um Erfolg zu haben, mussten Staaten sich auch an gesellschaftliche Veränderungen anpassen. Nur jene Staaten, die es schafften, ihre Eliten zu integrieren, konnten gedeihen. Das konnte durch einen Hof geschehen, wie unter Louis XIV. in Versailles, durch eine Abgeordnetenversammlung wie dem englischen Parlament, durch einen Amtsadel, wie in Preußen oder Russland, oder durch eine Kombination von allen dreien, wie im Habsburgerreich. In allen Fällen war eine immanente Tendenz zu jener Verknöcherung zu beobachten, von der politische Institutionen offenbar unweigerlich befallen werden. Selbst die außergewöhnlich anpassungsfähige britische Lösung litt 1815 unter Arterienverkalkung. Unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Gestalt mussten sich alle europäische Staaten mit der Entstehung eines neuartigen kulturellen Raumes auseinandersetzen – der Öffentlichkeit. Angesiedelt zwischen der privaten Welt der Familie und der offiziellen Welt des Staates war die Öffentlichkeit ein Forum, wo vormals isolierte Individuen sich treffen konnten, um Informationen, Ideen und Kritik auszutauschen. Sei es, dass man durch das Abonnieren derselben Zeitschriften über große Entfernungen hinweg miteinander kommunizierte, oder dass man sich in einem Kaffeehaus oder in einer der neuen, freiwilligen Vereinigungen wie Lesegesellschaften oder Freimaurerlogen persönlich begegnete: Die Öffentlichkeit erhielt ein kollektives Gewicht, das über die Summe der einzelnen Mitglieder weit hinausging. Aus der Öffentlichkeit heraus entstand eine neue Autorität, die den Meinungsmachern des Ancien Régime ihre Rolle streitig machte: die öffentliche Meinung. Der Zeitpunkt dieses Wandels war in Europa natürlich regional unterschiedlich. Vorreiter auf diesem Gebiet waren Großbritannien und die Vereinigten Niederlande, da beide von vergleichsweise hohen Alphabetisierungs- und Verstädterungsraten sowie von einem ziemlich liberalen Zensurregime geprägt waren. Mutatis mutandis war es, am anderen Extrem und am anderen Ende Europas, in Russland vor dem 19. Jahrhundert nahezu unmöglich, Anzeichen für so etwas wie Öffentlichkeit oder eine öffentliche Meinung auszumachen. Wie wir sehen werden, konnte die öffentliche Meinung, effektiv genutzt, dem Staat zusätzliche Ressourcen und eine zusätzliche Autorität verschaffen. Wenn dieser sie hingegen ignorierte, falsch interpretierte oder gegen sich aufbrachte, wie in Frankreich, konnte das einen revolutionären Umsturz zur Folge haben.
Die Kräfte, aus denen die öffentliche Sphäre geboren wurde, fußten letzten Endes auf der Expansion Europas, der wirtschaftlichen wie der kolonialen. Nach den akuten, von Krieg, Rezession, Pest und Hungersnöten verursachten Problemen der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verlief der Erholungsprozess langsam, stoßweise und ungleichmäßig, doch nach und nach zeigten die Indikatoren nach oben: Die Bevölkerung wuchs, die landwirtschaftliche Produktivität stieg, Handel und Produktion nahmen zu, die Urbanisierung schritt voran, und die koloniale Expansion wurde wieder aufgenommen. Im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts begann sich der Prozess zu konsolidieren und zu beschleunigen, wenn er auch immer noch von Rückschlägen unterbrochen wurde. Besonders wichtig waren die Verbesserungen im Bereich der Kommunikationswege; diese sind Thema des ersten Kapitels. Der Nutzen war ungleich verteilt. An erster Stelle unter den Nutznießern stand der Staat, dessen Hunger nach Steuereinnahmen zur Finanzierung der immer weiter wachsenden Streitkräfte vor dem Reichen in seinem Schloss ebenso wenig Halt machte wie vor dem Armen an dessen Pforte. Als Nächste kamen die Landbesitzer, die sich mit Freuden die »Preisschere« zunutze machten, die sich zwischen den steigenden Preisen, die sie für ihre landwirtschaftlichen Produkte erhielten, und den im Vergleich dazu sinkenden Kosten von Fertigwaren auftat. Wer Unternehmergeist besaß, konnte angesichts der Verdreifachung der Grundstückspreise und dem unverändert hohen Prestige, das mit Landbesitz verbunden war, fette Gewinne einstreichen. Eine Schlüsselposition hatten Pachtbauern inne, auf deren Konto ein Großteil der landwirtschaftlichen Innovationen dieser Ära ging. Florieren konnten auch die Financiers, vor allem jene, die sich auf dem Gebiet der Staatsfinanzierung etablieren konnten, und die Kaufleute, insbesondere jene, die mit Kolonialwaren handelten. Geschäftstüchtige Fabrikanten, die außerhalb der restriktiven Vorgaben der Zünfte aktiv waren, profitierten doppelt: vom wachsenden Angebot an Arbeitskräften und von der Konsumrevolution, die mit dem Fortschreiten des 18. Jahrhunderts Fahrt aufnahm.
Kurz: Das wirtschaftliche Wachstum des 18. Jahrhunderts brachte eine große und wachsende Klasse von Nutznießern hervor. Die vermutlich besten Voraussetzungen, die Chancen jenes Jahrhunderts für sich...
Erscheint lt. Verlag | 26.10.2022 |
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Übersetzer | Richard Barth, Jörn Pinnow |
Zusatzinfo | Mit 30 z.T. farbigen Abbildungen |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Pursuit of Glory |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | 2022 • Ancien Régime • Aufklärung • eBooks • England • Frankreich • Französische Revolution • Friedrich der Große • Geschichte • Hegemonialstreben • Heiliges Römisches Reich • Isaac Newton • Ludwig XIV. • Merkantilismus • Napoleon • Neuerscheinung • Preußen • Voltaire • Westfälischer Friede |
ISBN-10 | 3-641-26042-6 / 3641260426 |
ISBN-13 | 978-3-641-26042-2 / 9783641260422 |
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Größe: 12,7 MB
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