Klavierwelten (eBook)
434 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45101-5 (ISBN)
Claudius Torp, PD Dr. phil., vertrat von 2019 bis 2021 die Professur für Kulturgeschichte der Moderne an der Bauhaus-Universität Weimar.
Claudius Torp, PD Dr. phil., vertrat von 2019 bis 2021 die Professur für Kulturgeschichte der Moderne an der Bauhaus-Universität Weimar.
I.Die Genese der europäischen Klavierkultur bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
Im kollektiven Klanggedächtnis hat die klassisch-romantische Klaviermusik, die ihre Blütezeit zwischen den 1770er und den 1840er Jahre erlebte, tiefe Spuren hinterlassen. Der Kanon der Werke von Mozart und Beethoven bis hin zu Chopin und Liszt ist heute weltweit bekannt, nicht zuletzt mithilfe von Tonträgern, welche die räumliche Trennung von musikalischer Aufführung und Hörerlebnis ermöglicht haben. In der Zeit ihrer Entstehung fand diese Musik hingegen noch keineswegs eine globale Resonanz, sondern reichte mit wenigen Ausnahmen kaum über die Grenzen jener adeligen Residenzen, Bürgerhäuser und Konzertsäle hinaus, wo man das um 1700 in Florenz erfundene und später von sächsischen Instrumentenbauern weiterentwickelte Hammerklavier spielte. Der Klaviermusik korrespondierte dabei eine Klavierkultur, die sich von den Kompositionen und Schriften der Bach-Familie bis zur pulsierenden Virtuosenszene in den Pariser Salons der Julimonarchie voll entfaltete. Diese Klavierkultur bestand aus Artefakten, Praktiken und Institutionen, die es zu skizzieren gilt, bevor die expansiven Kräfte und Netzwerke analysiert werden können, welche die weltweite Ausbreitung der europäischen Klavierkultur nach 1850 ermöglichten. Bei allen nationalkulturellen Unterschieden, ob im Konzertwesen oder in den Gepflogenheiten der Hausmusik, war das bis Mitte des 19. Jahrhunderts ausgereifte Ensemble aus der materiellen Kultur der Instrumente, den Einrichtungen von Konzertsaal und Konservatorium sowie den gesellschaftlichen Praktiken des Spielens und Hörens vor allem zweierlei: genealogisch betrachtet europäisch, der sozialen Reichweite nach bürgerlich-aristokratisch. Kurz: Die Klavierkultur der ersten Jahrhunderthälfte war eng mit dem sozio-geographischen Raum der europäischen und sehr bald auch nordamerikanischen Ober- und Mittelschichten verbunden.
Wo lagen bis zur Jahrhundertmitte die Zentren dieser in ihrer Genese europäischen Klavierkultur, und welche Merkmale zeichneten sie aus? Zunächst zum Instrument selbst: Der Instrumentenbau sowie die Multiplikatoren des Klaviers im Verlags- und Bildungswesen haben dafür gesorgt, dass sich seit dem späten 18. Jahrhundert in Mittel- und Westeuropa sowie mit nur leichter Verzögerung an der amerikanischen Ostküste eine kulturelle Ökonomie herausbildete, die auf eine bürgerliche Trägerschicht zugeschnitten war. Durch die Ausbeutung des Gegensatzes von Metropole und Provinz hat das Klavier eine kulturelle Sogwirkung entfaltet, welche es überall zu einem etablierten oder – sofern die finanziellen Mittel fehlten – erstrebten Kernbestandteil bürgerlicher Lebensführung machte. Die Hochburgen des Klavierbaus, eines noch primär handwerklichen Gewerbes,79 lagen zum einen in London, wo die Firma Broadwood vom Wachstum einer kaufkräftigen Mittelschicht profitierte und als erste in großem Maßstab zu fertigen begann, zum anderen in Paris, wo in den 1820er Jahren Érard und Pleyel die spieltechnischen Möglichkeiten des Klaviers durch Verbesserungen in der Konstruktion (Repetitionsmechanik, Filzhämmer) entscheidend erweiterten und wo es zum bevorzugten Virtuoseninstrument der Pariser Konzertsäle und Salons heranreifte, deren Strahlkraft im Europa der Restauration und des Biedermeier ohne Konkurrenz war.80 Mit einigem Abstand folgte in der Hierarchie der Klavierproduzenten Wien, das Mozart schon 1781 als »Clavierland« apostrophiert hatte81 und dessen zahlreiche kleine Instrumentenbauer eine Bauart pflegten, die gegenüber den robusten und voluminösen Londoner Pianos einen filigranen Anschlag, aber auch einen dünneren Klang erzeugte. In diesem Wettbewerb hatte, wie ein Beobachter im Jahr 1853 notierte, die Heimatstadt der Klassik das Nachsehen: »Die Broadwood’sche Fabrik allein kann so viel liefern, als sämmtliche 108 Pianofortemacher in Wien.« Genauer gesagt waren das 1845 in Wien etwa 2.600 Pianos pro Jahr, während Broadwood zu dieser Zeit ungefähr 2.300 Instrumente jährlich herstellte, mit der Option zu steigern.82
Ohne ein mit London, Paris oder Wien vergleichbares kulturelles und wirtschaftliches Zentrum existierte bis um 1850 in den deutschen Ländern, deren Orgelbauer und Tischlermeister im 18. Jahrhundert den eigentlichen Klavierbau begründet hatten, ein Flickenteppich an kleinen Unternehmen, die in zahlreichen Residenz- und Provinzstädten – von Sachsen über Bayern bis zum Niederrhein – ihre je rund zwanzig bis vierzig Instrumente im Jahr, meist auf Bestellung, anfertigten. Bei aller produktionstechnischen Rückständigkeit bedeutete das: Die Verfügbarkeit von Klavieren streute in den deutschen Territorien, weniger in sozialer Hinsicht, aber geographisch gesehen, breit. Auch in Preußen lagen die größten Unternehmen bis etwa 1850 nicht in Berlin, sondern in Königsberg, Breslau, Danzig, Köln und Barmen.83 Die anfängliche Vorreiterrolle der deutschen Hersteller, die mit dem Orgelbauer Gottfried Silbermann im sächsischen Freiberg sowie Johann Andreas Stein in Augsburg verbunden ist,84 spiegelte sich seit den 1750/60er Jahren im frühen Auftreten eines literarischen Topos der Empfindsamkeit, der das Tasteninstrument – mitunter in eigens »An das Clavier« adressierten und vertonten Gedichten – als »Resonanzboden« des Gefühls (C. F. D. Schubart) und Ausdrucksmittel semi-religiöser Erfahrung beschrieb.85 Als dann aber im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die zentralen technischen Neuerungen im Klavierbau in England und vor allem Frankreich vorgenommen wurden, auf denen das moderne Piano bis heute beruht, waren die deutschen Hersteller nicht mehr der Motor des konstruktiven Fortschritts, sondern orientierten sich meist noch an der traditionellen Wiener Bauweise.
Seit dieser Zeit liefen dann nicht nur die in den westeuropäischen Metropolen kommerziell besser situierten Klavierunternehmen den deutschen Instrumentenmachern den Rang ab, sogar im kunstmusikalischen Niemandsland der amerikanischen Republik entstand in den 1820er Jahren eine signifikante und innovationsfreudige Klavierproduktion, die sich in ihren Anfängen fast vollständig auf Philadelphia, Boston und New York konzentrierte. In Boston, wo zu dieser Zeit Musikfeste und Oratorienchöre ins Leben gerufen wurden und man die Schul- und Kirchenmusik nach europäischen Vorbildern umkrempelte, gründete Jonas Chickering 1823 das über mehr als dreißig Jahre führende amerikanische Klavierunternehmen; zwei Jahre später patentierte Alpheus Babcock ebenfalls in Boston mit dem Gusseisenrahmen für Tafelklaviere eine wegweisende Erfindung, denn mit Metall statt Holz ließ sich die Saitenspannung erhöhen und somit ein größeres Klangvolumen sowie eine haltbarere Klavierstimmung erzeugen. Während zu Beginn des Jahrhunderts noch die meisten Instrumente aus England importiert wurden, produzierten die Vereinigten Staaten im Jahr 1829 rund 2.500 Klaviere und 1851 bereits um die 9.000.86 Die in diesem Zeitraum an der amerikanischen Ostküste entstehende Klavierkultur war in mehrfacher Hinsicht europäisch. Zum einen muss der Klavierbau selbst als ein von Einwanderern dominierter Berufszweig gelten: Dem New York State-Zensus zufolge waren zwei Drittel der 836 Instrumentenmacher, die im Jahr 1855 in der Stadt lebten, Immigranten.87 Zum anderen bestand das Programm der amerikanischen Musikverlage in Abwesenheit einheimischer Komponisten zum größten Teil aus dem Repertoire der europäischen Kunst-, Salon- und Volksmusik. Neben irischen und schottischen Liedern sowie einer Vielzahl von Tänzen erfreuten sich die Adaptionen von Mozart-Opern (gefolgt von Rossini, Haydn und Händel) besonderer Beliebtheit.88 Doch nicht nur das Respektabilitätsideal der Hausmusik verlangte nach den großen Namen des klassischen Kanons, auch im Konzertsaal waren es die Virtuosen aus der Alten Welt, die wie Leopold de Meyer und Henri Herz auf ihren Tourneen in den 1840er Jahren das größte Interesse auf sich zogen.89
Trotz aller Unterschiede, die sich während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Rangliste der klavierproduzierenden Länder auftaten, war die entstehende Klavierkultur keineswegs eine Angelegenheit, die sich nur in den Metropolen London und Paris, den deutschsprachigen Ländern und an der amerikanischen Ostküste entwickelt hätte. Es handelte sich vielmehr um ein gesamteuropäisches Phänomen: nicht nur weil zur gleichen Zeit, wenn auch...
Erscheint lt. Verlag | 13.4.2022 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Kulturgeschichte |
Schlagworte | Deutschland • Geschichte • Global • Globalgeschichte • Instrument • Instrumentenhandel • Japan • Klavier • Klavierkultur • Klavier lernen • Klavierspiel • Klavier spielen • Konservatorium • Kosmopolitismus • Kulturwissenschaft • Kunstmusik • Musik • Musikgeschichte • Musikkultur • Musiktransfer • Musikwissenschaft • Österreich • Piano • Pianoforte • Südafrika • Tasteninstrumente • Transkulturalität • USA • Vereinigte Staaten • Verflechtungsgeschichte |
ISBN-10 | 3-593-45101-8 / 3593451018 |
ISBN-13 | 978-3-593-45101-5 / 9783593451015 |
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